Eilftes Kapitel.

[27] So waren wieder ein paar Jahrhunderte verflossen, und sie däuchten Ahasvero, wenn er auf sie zurückblickte, wie ein paar Jahre; denn für den Menschen ist nur die Zukunft eine Zeit, die Gegenwart vergeht ihm, ohne daß er sie bemerkt, und die Vergangenheit ist ihm verflossen, als habe er sie nicht gelebt... Da erscholl bis in die Wüste von Thebais das Gerücht: es sei in dem fernen Arabien ein neuer Prophet auferstanden, der sich über Christum erhebe, und das Christenthum als Abgötterei verdamme und ausrotte. Seine Losung sei: »Allah ist Gott, und kein anderer Prophet, als Muhammed.« Wie das Ahasverus vernahm, da erwachte plötzlich in seinem Innern wieder der Gedanke, der lange in ihm geschlafen, daß Jesus nicht Gott sei, sondern nur ein Gottgesandter, ein Prophet; und daß sein Reich jetzt zu Ende gehen werde bei der Erscheinung eines neuen Propheten und Wunderthäters. In diesem Wahn und in der Hoffnung, daß die Zeit auch seiner Erlösung gekommen sei, verließ er noch an demselbigen Tage die Wüste, um den neuen Propheten aufzusuchen, um sich unter sein Volk zu stellen. Die Heiden, welche von ihrem Afterpropheten Muhammedaner hießen, hatten aber bereits Arabia in ganzen Heerschaaren verlassen, und zogen gen Palästina und Syrien hinauf, um dort die neue Lehre mit Feuer und Schwert zu verbreiten. Ahasverus begegnete den wilden Horden unfern Jerusalem, und er zog mit ihnen in die Stadt ein, unter dem Rufe: Allah ist Gott, und kein anderer Prophet, als Muhammed. Und während die Heiden die christlichen Tempel plünderten, und auf ihnen statt des Kreuzes den Halbmond aufsteckten, ging Ahasverus in der wilden Freudigkeit seines Herzens hinaus zum heiligen Grabe, wo einst des Erlösers Leichnam geruht, und wo der Herr von den Todten auferstanden[28] ist. Und vermeinend, er werde sich um den neuen Propheten dadurch ein großes Verdienst erwerben, daß er mit eigener Hand die heilige Stätte verwüste, ergriff er im Wahnsinn des Aberglaubens eine brennende Fackel, und lief in den Tempel, um ihn anzuzünden. Sieh! da stand der Herr vor ihm, wie er glorreich aus dem Grabe erstanden; und wie damals die Wächter des heiligen Grabes plötzlicher Schrecken ergriff, so packte auch jetzt den Frevler ein heiliger Schauer und er fiel anbetend auf die Erde nieder und rief: »Mein Herr und mein Gott!« – So fanden ihn auf dem Boden liegend die Mönche, die das heilige Grab bewachten; und da sie erkannten, daß er an Christum glaube, den lebendigen Gott, so gaben sie ihm die Taufe noch zu derselbigen Stunde und an demselbigen Orte. Des andern Tags aber zog er mit ihnen fort in das Gebirge des Libanon, wohin sie sich vor den Heiden flüchteten.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 1, Leipzig [um 1878/79], S. 27-29.
Lizenz:
Kategorien: