1. Das Glöcklein.

[79] Unfern Reischach, im Gericht Oetting, steht eine einsame Kapelle, der Mutter Gottes geweiht. Von deren Thurm ertönet oft das Glöcklein, man möchte meinen, als würde es von Geisterhand gezogen; denn es ist keine Stunde bei Tag und bei Nacht, wo man es nicht von Zeit zu Zeit läuten hört. Die Geschichte von dieser Kapelle, und dem Glöcklein wird aber so erzählt: Vor vielen, vielen Jahren, als die Gegend umher weit und breit noch Wald und Wildniß war, wurde ein Pilger, der des Weges nach Oetting zum Gnadenbilde wanderte, von Räubern überfallen, die ihn des Seinen beraubten und bis zum Tode mißhandelten. In der Angst seines Herzens gelobte er, an der Stelle ein Kirchlein zu erbauen, wenn er, durch Gottes und seiner Mutter Gnade, mit dem Leben davon käme. Die Räuber ließen ihn für todt liegen; er aber genas auf eine wunderbare Weise wieder. Demnach erfüllte er sein Gelübde; er erbaute die Kapelle und versah sie mit einem Glöcklein. Auf die Votivtafel aber, die er in der Kapelle aufhängen ließ, stellte er die Bitte, es möge jeder Pilger, der des Weges ziehe, zu Ehren Mariä das Glöcklein läuten und für seine arme Seele beten. Das geschieht denn noch, bis auf den heutigen Tag.

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Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 2, Leipzig [um 1878/79], S. 79.
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