44. Eheliche Treue.[120] 1

In der Stadt Sidon hatte ein Jude sein Weib zehn Jahre lang zur Ehe gehabt, aber kein Kind von ihr; deswegen ging er mit ihr zum Rabbi und wollte sich von ihr scheiden lassen. Da sprach der Rabbi: Weil ihr euren Ehestand in Freuden habt angefangen mit Essen und Trinken, so müsset ihr euch auch wieder auf solche Weise trennen. Also gingen die Eheleute mit einander nach Hause, bereiteten ein köstlich Mahl und waren fröhlich zum Valet. Der Mann aber sprach zu seiner Frau: Liebe Tochter, sieh dich im Hause wohl um, trage das beste Kleinod, das du findest, mit dir und gehe heim zu deinem Vater. Die Frau[120] schwieg, und da der Mann sich lustig erzeigte und nach reichlich genossenem Wein fest einschlief, rief sie ihr Gesinde und ließ den Mann mit sammt dem Bette, darin er lag, in des Vaters Haus schaffen. Als nun derselbe des Morgens aufwachte, sprach er: »Meine liebe Tochter, wo bin ich?« Sie gab zur Antwort: »Bei meinem Vater.« »Ja, wie komme ich denn hierher?« fragte er weiter. Darauf sagte sie: »Du hast mir gestern Abends befohlen, ich sollte das beste Kleinod, das du im Hause hättest, mitnehmen; nun aber weiß ich auf dieser Welt kein Kleinod, das ich lieber hätte, als dich.« Diese Liebe und Treue rührte ihm das Herz dermaßen, daß er den Scheidebrief vergaß und sie wiederum als seine Ehefrau mit nach Hause nahm.

Fußnoten

1 Aus der 1. Aufl. wiederholt aufgenommen. Anm. d. Herausg.


Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 2, Leipzig [um 1878/79], S. 120-121.
Lizenz:
Kategorien: