5. Die Tugenden.

[51] Die Tugenden lebten lange Zeit in Ehre und Frieden als Nonnen in einem Kloster, dessen Oberin die Frömmigkeit selbst war. Die Freigebigkeit diente als Pförtnerin, die Mäßigkeit als Küchenmeisterin; die Klughheit besorgte Feld und Garten, und die Sparsamkeit berechnete das Einkommen; die Sanftmuth leitete die jüngern Schwestern; und die Demuth war die Dienerin Aller. So versah denn jede der Tugenden ein besonderes Amt, und über Alles wachte und sorgte, ermahnend und befehlend, die Oberin, welche, wie gesagt, die Frömmigkeit selbst war.

Die Oberin starb. Da beschlossen die Tugenden, das Kloster zu verlassen, und in die Welt zu gehen, wo sie nach ihrer Meinung mehr Gutes wirken könnten. Und sie traten sogleich mit einander die Reise an.

Wie sie in das nächste Dorf kamen, begegnete ihnen ein armes Weib, mit einem Kind auf dem Arm, das bettelte sie an. Die Freigebigkeit, welche den Säckel hatte,[51] wollte der Armen sogleich eine große Summe geben. Darüber wurde sie aber von der Sparsamkeit ausgescholten, welche meinte, daß für Bettler ein kleines Almosen genug wäre. Worauf die Klugheit bemerkte: blindlings geben, ob viel oder wenig, sei überhaupt nicht rathsam; man müsse vorerst die Würdigkeit und die Nothdurft des Armen erforschen. Also erhielt, auf den Rath der Klugheit, die arme Frau nichts.

Die Tugenden kamen drauf in ein anderes Dorf. Da sahen sie, wie ein Vater sein Söhnlein züchtigte mit Schlägen. Alsogleich trat die Sanftmuth zu ihm, und bat ihn, abzustehen von seinem Zorneifer. Die Strenge aber lobte den Mann, sagend, es sei an der Jugend kein Streich verloren, außer der daneben geht. Die Klugheit jedoch meinte: zu viel sei einmal zu viel, und man müsse Maß halten in allen Dingen. Also schlug der Mann drauf los, so stark und so lang es ihm gut dünkte.

Da sie weiter zogen und in einen Hohlweg kamen, sprengte eben ein Reiter daher, der sein Pferd mit der Peitsche antrieb. Und wie er so um sich hieb, traf er links und rechts mit der Peitsche die Gerechtigkeit und die Demuth. Jene rief sogleich: man solle den Reiter anhalten und zur Strafe ziehen. Die Demuth aber sagte: er hab' es wol nicht mit Absicht gethan, und man müsse es ihm verzeihen. Und die Klugheit sprach: Was sollen wir da Händel anfangen? Seien wir froh, daß wir Tugenden noch frank und frei die Straße ziehen können!

Zufälle dieser Art erfuhren sie immer mehr, je weiter sie zogen, und jedes Mal ergab sich Streit unter ihnen, wie die Sache auszusehen und zu behandeln sei. Da gab eines Tages die Klugheit den Rath, es wäre am besten, daß sie sich von einander trennten, und daß jede den Weg einschlüge und die Weise befolgte, die ihr am meisten zusagten. Der Rath gefiel; sie beschlossen jedoch, daß sie nach Jahr und Tag wieder zusammen kommen wollten an[52] einem bestimmten Orte, um sich ihre Schicksale zu erzählen, und weitere Maßregeln zu nehmen zur Beglückung der Menschheit. Und so ist es auch geschehen. Nach Jahr und Tag kamen sie wieder zusammen an dem bezeichneten Orte, und jede erzählte nun den Freundinnen, wo sie bisher gewesen, was sie gethan, und wie es ihr ergangen.

Die Freigebigkeit nahm zuerst das Wort, und sprach: »Ich begab mich auf ein Rittergut, welches als das reichste im Lande galt. Die Edelfrau, eine Wittwe, faßte sogleich volle Zuneigung zu mir, und folgte in Allem meinem Rath. Es wurden von nun an täglich zwei Tafeln gedeckt, die eine für fahrende Ritter und Schüler, die andere für arme Leute aus der Nähe und Ferne. Die erstern wurden überdies bei ihrem Abschiede reichlich beehrt, und unter die letztern Geld ausgetheilt. Den Bauern, ihren Unterthanen, erließ die Edelfrau auf meine Eingebung die Steuern und Abgaben, und den Kirchen und Klöstern vermachte sie die liegenden Gründe. Da war nun freilich eine große Freude im Schlosse und im Lande. Aber bald kehrte sich leider Alles in Leid. Denn die Pfaffen fingen nun an, ein ärgerliches Wohlleben zu führen; die Bauern kümmerten sich nicht mehr um den Pflug, erlustigten sich aber desto mehr im Krug und trieben allerlei Unfug; endlich in der Burg selbst mehrte sich von Tag zu Tag das Gesindel, und da man den Leuten nicht genug mehr geben konnte, so plünderten sie aus Rache das Schloß aus, und zündeten es an. Die Edelfrau hatte zu ihrem Glücke vordem ein Hospital gestiftet, in welches sie sich nunmehr begab, um da ihr armes Leben zu enden. Ich verließ sie, den Trost ihr gebend, daß sie ihren Lohn haben möge an dem guten Bewußtsein. –«

Nachdem die Freigebigkeit also erzählt hatte, so nahm die Gerechtigkeit das Wort, und sprach: »Ich nahm mein Quartier in der Gerichtsstube eines jungen, angehenden Richters, dem ich unsichtbar zur Seite stand,[53] und ohne Unterlaß anlag, daß er strenges Recht üben solle nach den alten Rechten. Sein Vorgänger, ein alter Herr, fragte nicht sowol nach den geschriebenen Rechten, als vielmehr nach den Gewohnheiten, Ueberlieferungen und den obwaltenden Umständen. Zur Ehre muß man ihm zwar nachsagen, daß er dessen ungeachtet Ordnung zu erhalten wußte, und die Zufriedenheit, ja sogar die Liebe seiner Gerichtshörigen zu gewinnen das Glück hatte. Aber das Recht, das alte, das geschriebene, litt eben Schaden durch sein Regiment, und es sollte, es mußte nun anders werden. Auf mein inständiges Anrathen durchmusterte der junge Richter vorerst alle jene alten, bestaubten Bücher und Briefe, worin die Satzungen und Verträge von Alters her verzeichnet waren. Dann begann er sein streng rechtliches Regiment, und richtete und schaltete und waltete genan nach dem Buchstaben des Gesetzes, ohne alle andern Rücksichten. Ich war vollkommen mit ihm zufrieden. Aber desto unzufriedener wurden seine Gerichtshörigen. Sie klagten laut über Härte und Unbarmherzigkeit, und als der Gerichtsherr nicht nur ihren Klagen kein Gehör gab, sondern die Kläger sogar zu Strafen verdammte, da machten sie einen Aufstand, erstürmten das Gerichtshaus, verbrannten alle alten Bücher und Briefe, und hängten den Richter selbst an den neuen Galgen, den er errichtet hatte. Ich zog traurig hinweg, und ohne Hoffnung, daß diesem Geschlechte noch geholfen werden könne, durch Gerechtigkeit.« –

Darauf erzählten die andern Tugenden ihre Schicksale, und sie mußten meistens nur Unerfreuliches zu melden. Die Arbeitsamkeit sagte: Sie habe sich bei einem armen Bauern verdingt, und habe Tag und Nacht geschafft; aber je mehr sie gearbeitet, desto mehr habe der Bauer gefaulenzt und gelumpt. Die Sparsamkeit sagte: Sie habe Wohnung genommen in der Hütte einer armen Wittwe, und habe das, was sie beide durch Spinnen und[54] Weben erübrigt, wohl zu Rathe gehalten; aber plötzlich sei alles Geld verschwunden; denn die Wittwe habe sich ein schönes, kostbares Kleid machen lassen, um an der Kirchweih, gleich den übrigen Weibern, zu prangen. Die Sanftmuth sagte: Sie habe mit der Demuth das Land durchzogen, weil sie nirgends Herberg und Arbeit gefunden; denn die Leute hätten sie für Blödsinnige angesehen, die zu Nichts zu brauchen wären.

Zuletzt wurde auch die Klugheit aufgefordert, zu erzählen, was sie gethan und was ihr begegnet; denn sie hatte bis dahin geschwiegen, wie sie denn überhaupt nicht viel Worte machte. Sie sprach: »Meine Geschichte ist kurz. Da ich die Menschen, ihr eitles und stolzes Sinnen und Treiben kenne, so vermied ich eben ihre Gesellschaft, und ging in die Wüste. Da lebte ich während der Zeit bei einem Einsiedler, und ich fand neben Gottesfurcht, die seine Hütte bewohnte und sein Herz besaß, immer noch ein Plätzchen, wo ich ruhen und wirken konnte. Zu thun für mich gab's da nur selten etwas und nur wenig; ich zeigte ihm die besten Plätze, wo es gute Beeren und heilsame Wurzeln gab; ich warnte ihn, wenn er etwa den Krug unsicher hinstellte zum Quell, daß er nicht umfiele und zerbräche; ich erinnerte und mahnte ihn, die Hütte zu decken oder zu verschließen, wenn die rauhe Jahreszeit hereinbrach oder ein Unwetter, Regen und Wind drohte. So lebte ich denn bei ihm so ruhig und zufrieden, daß es mir große Ueberwindung kostete, die Einsiedelei zu verlassen, um, dem gegebenen Versprechen gemäß, mit euch wieder zusammen zu kommen. –«

»Aber,« sagte die Klugheit nach einer Pause, »was wollen wir nun insgesammt anfangen, und was weiter thun?« Die Tugenden schwiegen; denn sie wußten keinen Rath. Da sprach die Klugheit weiter: »Mir scheint es am rathsamsten zu sein, wenn wir uns wieder unter eine höhere Zucht stellen, wie dies ehedem der Fall war,[55] Denn wir haben nun sattsam erfahren, daß wir weder insgesammt noch insbesondere Gutes verrichten mögen, so lange wir nach eigenem Willen und Vermögen handeln wollen. Nun habe ich, indem ich des Weges gezogen, von einer frommen und gottesfürchtigen Matrone gehört, die in der Hauptstadt lebt, und ich gar zu gern der Waisen, Armen und Kranken annimmt. Zu diesem gottgefälligen Werke bedarf sie aber unser Aller sehr wohl, und wir selbst können keine bessere Gelegenheit haben, auf daß jede nach ihrer Weise schaffe und wirke zum Besten der Menschen. Und darum ist mein Rath, daß wir uns in ihren Dienst begeben, und ihr zu Willen seien in allen gerechten und billigen Dingen! –«

Die Tugenden waren damit einverstanden, und sie zogen sogleich in die Hauptstadt, wo sie noch sind. Da thun sie bis auf den heutigen Tag unendlich viel Gutes. Wer sie aber finden will, der suchet vergebens; denn sie leben und wirken da, unter der Obhut jener Matrone, in noch größerer Einsamkeit, als im Kloster selbst, und ihre Werke kennet nur Gott, und die er bestellt hat, die Geschichten aufzuzeichnen für das Gericht, seine Engel.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 2, Leipzig [um 1878/79], S. 51-56.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon