61. Der fromme Müller.

[142] Ein Müller wohnte zwischen zwei Kirchdörfern, so daß sein Haus zu dem einen und die Mühle zu dem andern Dorfe gehörte. Die Einwohner beider Dörfer, welche sich seiner Mühle bedienten, lobten ihn wegen seiner Frömmigkeit und Ehrlichkeit: und als er starb, geriethen sie in Streit, weil jede Gemeinde ihn auf ihrem Kirchhof haben wollte. Sie konnten sich darüber nicht vereinigen und fingen einen Proceß an. Der Richter entschied: daß man den Todten auf einen Wagen legen, zwei Pferde davor spannen und dieselben mit Peitschen forttreiben lassen sollte; auf welchem Kirchhof sie alsdann stehen bleiben würden, dahin sollte man ihn begraben. – Da die Bauern dieses für gut annahmen und ausführten, liefen die Pferde in vollem Trab dem Galgen zu, und blieben daselbst stehen. Die Bauern verwunderten sich nicht wenig darüber, und sagten: sollten wir auch betrogen sein? Und sie berathschlagten, was nun zu thun sei. Dies ist ein Platz, sagten sie, wohin Leute begraben werden, die nicht viel taugen, und wir wissen nicht, wie sein Herz beschaffen[142] war. Wir wollen auch deshalb nicht mehr darum streiten, sondern ihn hieher begraben. – Wie sie ihn nun vom Wagen nahmen, kam ein Bulle in Furie daher gelaufen, und brüllte: Hanguf! Hanguf! worüber sich die Bauern noch mehr verwunderten, und den ehrlichen Müller aus Barmherzigkeit unter den Galgen begruben.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 2, Leipzig [um 1878/79], S. 142-143.
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