2. Bemerkungen zu den erbaulichen und ergötzlichen Historien.

[216] Die Quellen, aus denen die vorstehenden Erzählungen geschöpft worden, sind denjenigen ohnehin schon bekannt genug, die sich in der Volksliteratur der ältern Zeit einigermaßen umgesehen. Außer den ältesten (z.B. die Gesta Romanorum, die Legenda Aurea, das Buch der Weisheit, die sieben weisen Meister), sodann den Werken von Geiler, Luther, Schuppe und Abraham a St. Clara, wurden benutzt: Pauli Schimpf und Ernst1, Agricola Sprichwörter, Seb. Brand Esopus (deutsch), Wickram Rollwagenbüchlein, Zinkgref Apophthegmata, S. Dach (Chasmindo) kurzweiliger Zeitvertreiber, Kirchhof Wendunmuth, Gerlach Eutrapeliae; nebstdem noch viele ähnliche Anekdotensammlungen, wie: Grillenvertreiber, Jocoseria,[216] Scherz mit der Wahrheit – und andere Werke der Art mehr, die heutzutage kein Leser von Geschmack mehr lieset.

Die meisten der mitgetheilten Erzählungen sind aus der dunkeln Verborgenheit jener Werke hervorgezogen, und zu Nutzen und Frommen unserer Zeit zur Schau gestellt worden. Die wenigen, welche ganz modern sind in Erfindung und Einkleidung, können sich ohnehin nicht verläugnen, und werden, je nach dem Geschmack der Leser, freilich eine getheilte Aufnahme finden. Aber auch jene ältern entlehnten Historien haben mehrentheils eine Verneuerung, Umformung oder Ueberarbeitung gefunden. Als edle, aber rohe Steine, wie sie in jenen alterthümlichen Schachten gelegen, erforderten oder gestatteten sie doch eine gewisse Politur und eine angemessene Fassung, auf daß sie in voller Reinheit erglänzen und zur Tracht unserer Zeit als Schmuck sich mehr anschicken möchten. Solche freilich, welche von Natur aus als reine Perlen aufgetaucht sind in jungfräulicher Lauterkeit, konnten und mußten auch, nach Gehalt und Gestalt, in ihrer ursprünglichen Art und Weise belassen und durchaus heilig gehalten werden.

Der letztere Punkt, die Frage nämlich, ob derlei alte Sagen und Mähren einer Bearbeitung, Ausschmückung und Umformung unterliegen dürfen, verdient noch eine besondere Erörterung, wozu hier Veranlassung sein dürfte.

Daß Wahrheit, in Treue und Einfalt, das erste unverbrüchlichste Gesetz sein müsse nicht nur in Ansehung wirklicher Geschichten, sondern auch der Sagen und Mähren überhaupt: dies wird wol Niemand in Abrede stellen. Denn erstlich kann die Grenzlinie zwischen dem, was als Wahres und Wirkliches, uns was als blos Gedachtes und Erdichtetes anzusehen sei, nicht genau gezogen werden, so wenig als wie zwischen Prosa und Poesie, die eben auch in ihren Grenzpunkten zusammen fallen. Zweitens verdient selbst das blos Gedachte und Erdichtete, um des Wahren willen, das darin liegen mag, volle Schonung und Beachtung; wie das Helldunkel, das Zwielicht, die Dämmerung eben auch nothwendige Zustände in der Natur und nachahmungswerthe Gegenstände für die Kunst sind. Drittens[217] aber – und dieser Punkt entscheidet – ist jede Sage und Mähre eine literarische Thatsache, die, gleich jedem andern Document, auf eine wortgetreue Mittheilung Anspruch macht; wonach es dann dem Forscher überlassen sein mag, dieselbe als zulässig und wichtig zu hinterlegen, oder auch als unbedeutend, als falsch zu verwerfen. Wer demnach aus erster Hand uns eine solche Geschichte mittheilt, zumal wenn die schriftliche Quelle, aus der er geschöpft, uns übrigen unzugänglich ist, oder gar, wie es bei so vielen Sagen und Mährchen der Fall ist, eine blos mündliche Ueberlieferung Statt gehabt, der muß es sich zur Gewissenspflicht machen, die Geschichte, wie er sie befunden, der Sache und wol auch der Sprache nach getreu wieder zu geben. Jede Veränderung, Auslassung oder Ergänzung im ursprünglichen Texte, so wohl begründet sie sonst auch sein möchte, würde der Wahrheit der Erzählung, so wie der Glaubwürdigkeit des Erzählers Eintrag thun. – Daß und wie diese zarte Schonung und reine unverfälschte Ueberlieferung alter oder sonst unbekannter Sagen und Mähren geschehen solle und könne, das haben zumal die Gebrüder Grimm erwiesen, deren »Hausmährchen« und »deutsche Sagen«, ihre sonstigen Vorzüge ungerechnet, schon um dieses einzigen Umstandes willen, nämlich wegen der Wahrhaftigkeit und der Treue bis im Kleinsten, ewige Dauer sich gesichert haben.

Eine andere Gestalt gewinnt aber die Sache, und es bedingt sich somit auch ein besonderes Verfahren, wenn die Geschichte bereits Allen offenkundig oder doch Jedem zugänglich geworden, und sohin, als Gemeingut, zu besondern Zwecken und nach eigenthümlichen Rücksichten benutzt werden kann. Da mögen denn strenge Historiker und Prosaisten, falls sie dergleichen Sagen nicht lieber ganz verwerfen, auf ihrem kritischen Poch- und Schlemmwerk die spärlichen Körner von dem tauben Gestein sondern, und im Schmelzofen der historischen Kunst mit anderm gediegenem Metall zusammen flößen – wiewol man freilich jene Erzählungen richtiger unter dem Bilde wildwachsender Pflanzen sich denken sollte, die, gleich mundartlichen Formen des Volkes, eben auch ihr Organisches, das man nicht leicht,[218] ohne sie selbst zu zerstören, mechanisch zerlegen oder chemisch auflösen und sondern kann. Noch mehr aber mögen an diesen Findlingen der Natur die Dichter und Künstler Recht üben und sich Freiheit gestatten. Die Poesie, welche so gern das berücksichtiget, dessen die Prosa keine Acht hat, darf hierin ihre ganze Zauberkraft aufbieten, um das Todte zu beleben, das Alte zu verjüngen, das Mangelhafte zu ergänzen, das Dunkle zu erhellen, Alles zu veredeln und zu verschönen.

Aber auch der Poesie steht es nicht zu, in solchen Schöpfungen bloße Willkür zu üben, sondern es liegt ihr vielmehr ob, mit voller Achtung des Ueberlieferten, ihre Bildungen vorzunehmen nach dem Typus, der ihr von der Geschichte, von der Natur selbst vorgehalten wird. Vor Allem hat sie die Idee aufzufassen und festzuhalten, die in solchen Sagen und Mähren wie ein Keim verborgen liegt, und demnach die Entwicklung derselben nach rein organischen Gesetzen gleichsam von selbst geschehen zu lassen. Im Wesentlichen also darf die Poesie daran nichts verändern, nichts dazu, nichts hinweg thun; sie darf nur die zarte Pflanze, wie sie dieselbe gefunden, in Grund und Boden der Phantasie versetzen, daß sie in ihrem Lichte und an ihrer Wärme Gedeihen und Wachsthum gewinne. Selbst bloße Zierathen, wenn sie nicht zur Verklärung der Idee beitragen und deren Ausstrahlungen fördern, können nur hinderlich fallen, weil sie eben durch Hervorhebung der Nebendinge die Hauptsache verrücken und verdecken. Und so ist denn auch der Ton und die Sprache in Erwägung zu ziehen, worin diese alten Historien vorzutragen sind. Am sichersten verfährt man wol, wenn man dieselben in dem Costüme ihrer Zeit vorführt, oder doch nach einem Zuschnitte bekleidet, welcher sich mit ihrem Wesen verträgt, das da ist Einfalt und Natur. Unsere moderne Sprache mit ihren verblümten Redensarten, seinen Wendungen, verschlungenen Perioden, zumal wie sie in so vielen beliebten und belobten Romanen erscheint, passet wol am mindesten zur Einkleidung jener alterthümlichen Stoffe; und wer anders Lust bezeigt zu Bildungen der Art, der lese und studire lieber geradezu den Geiler und den Hans Sachs,[219] und nehme dieser Männer Sprache und Darstellung zum Vorbild und Muster.

Diese strengen Forderungen, wie sie sich aus der Natur solcher Historien selbst ergeben, erleiden jedoch einige Ermäßigung durch den besondern Zweck, den man mit ihrer Mittheilung zu erreichen beabsichtet, so wie durch das Bedürfniß, das von Seite des Lesers entgegen tritt. Auffallender ist dieser Unterschied vielleicht nirgends mehr, und für unsern Fall bezeichnender, als bei der Legende. Wenn der Eine z.B. die Sage von St. Christoph mit diplomatischer Treue erzählt, wie er sie in der Legenda Aurea gefunden, so wird der Andere, der die historische Kritik zu Rathe zieht, die Geschichte als eine eitel fromme Tradition ansehen, und als unhaltbar verwerfen; die Uebrigen aber, die Dichter, dieselbe entweder als ein schönes Phantasiegemälde zu ergötzlicher Beschauung, oder aber als ein gottseliges Exemplar zu frommer Erbauung vor Augen stellen. Der letztere, der pragmatische Zweck steht freilich jeder historischen und auch streng poetischen Ansicht ferne; in dem gegebenen Beispiele aber fällt er mit dem ursprünglichen glücklicherweise zusammen, und bringt das sonst unfruchtbare Gebilde zu neuem Leben. Ist nun dieses Motiv der Erbauung einmal gestattet und gegeben, so kehret sich demnach das Hauptsächliche an jener Mythe von selbst heraus, nämlich St. Christophs Dienst in der Hütte am Gewässer; und seine frühern Abenteuer treten, als blos vorbereitende Momente, zurück, die denn auch in Nebendingen eine freiere Behandlung zulassen, wie sie sich eben zur Darstellung dieses Hünen der Heiligenwelt schicken.

Diesen Zweck der Erbauung und der Ergötzung hat der Volksfreund in der Wahl und der Form seiner Mittheilungen aus Beruf sich vorgehalten, ohne jedoch, nach seinem Wissen und Vermögen, jener ersten und letzten Pflicht, der historischen Treue, zu nahe zu treten. So manche mündliche Ueberlieferungen, z.B. der Volkssagen, hat er sogar wortgetreu zu geben gesucht, wie er sie empfangen; so wie einige jener ältern Geschichten, die er schon nach ihrer ursprünglichen Gestalt in entwickeltem Zustande und[220] in voller poetischen Blüte gefunden hat. Diese Feldblumen und Wildgewächse, im Gegensatze zu denjenigen, welche im Kunstgarten gehegt und gepflegt, wol auch veredelt worden, zeichnen sich auch durch ihre eigenthümliche Physiognomie so sehr aus, daß sie wol nicht der besondern Aufschriften »alt« oder »mündlich« zu bedürfen geschienen haben. Der Kenner wird sie ohne dies schon alle heraus finden und nach Abstammung und Geschlecht bezeichnen können; der bloße Liebhaber aber mag sich lediglich an der Mannichfaltigkeit des Blumenflors erfreuen, und von den Früchten des Gartens sein bescheiden Theil genießen.

Schließlich erlaube ich mir noch, auf eine überflüssige Frage eine nothgedrungene Antwort. »Wozu« – fragt man – »in unsern aufgeklärten Zeiten ein solch einfältiges Volksbüchlein?« Ich antworte: Dazu. Erstlich wollte ich mir eine heilsame Luftveränderung machen, und ein Vergnügen meinen Freunden, welche gern hie und da eine solche Landpartie vornehmen, und Einkehr halten in der Hütte des schlichten, gemeinen Mannes. Zweitens gedachte ich, so viel an mir liegt, dazu beizuhelfen, daß die Wege und Stege in offnem und gutem Zustande erhalten werden für eine Zeit, wo diese blumigen Gemeintriften deutschen Witzes und deutscher Laune wieder lieber besucht werden dürften von Jung und Alt, von Vornehm und Gering. Drittens schien es mir selbst für unsere großstädtische Zeit und Welt ein annehmbarer und nützlicher Versuch zu sein, durch ein solches Büchlein, als ein vermittelndes Organ, die von einander getrennten verschiedenen Klassen des Einen, großen Volkes in einen geistigen Zusammenhang, in gegenseitige, freundliche Berührung und Werthschätzung zu bringen, und zunächst den Gebildeten und Vornehmen, welchen die Kunst der Erziehung aus der Masse erhoben und weit davon entfernt und entfremdet hat, dahin zu bestimmen und zu vermögen, daß er in dem gemeinen Mann die ursprüngliche Natur, den angebornen Adel und die frisch hervortretende Kräftigkeit, überhaupt die Originalität in dessen Denk- und Sprachweise, in dessen Sitten und Gebräuchen, kenne und achte, und so[221] ihm mindestens das Recht zu sein und zu scheinen, wie es ihm zukommt und beliebt, unverkümmert lasse.

Verlässigen Nachrichten zufolge, welche mir ein und der andere Freund ins Ohr geraunt, hat auch wirklich das Volksbüchlein über meine Erwartung zugesagt; und so dürfte mir denn die thörichte Hoffnung fernern Beifalls nicht verargt werden, die mich zu wiederholter Ausgabe ermuthigt hat.

Fußnoten

1 Ausgewählt von H.A. Junghans, Universal-Bibliothek Nr. 945 und 946.


Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 2, Leipzig [um 1878/79], S. 216-222.
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