XIV.

[836] Soden, den 27. Mai


Wo Weiber einkehren, da folgt auch bald Vokalmusik. Schon frühe morgens hörte ich zwei angenehme weibliche Stimmen Conrad, Conrad durch das Haus tönen. Die eine Stimme betonte die letzte Silbe und rief Conrad, die andere die erste und rief Conrad. Wie ungeduldig! Wenn das die Stimme der Witwe ist, wird sie mir viel zu schaffen machen. Ich bin aber auch für mein Alter noch ziemlich dumm. Ein erfahrner Mann würde eine Witwenstimme von hundert andern Stimmen unterscheiden; denn sie hat gewiß etwas Eigentümliches.

– Nein, Madame Molli ist nicht die Heftige. Ich begegnete ihr im Gange. Eine edle schlanke Gestalt mit etwas blassem Gesichte. Das ist eine schöne Blässe! Das schüchterne Blut meidet die freien Wangen; aber im häuslichen Herzen, da zeigt es sich freudenrot und liebeswarm.

Sie hat eine Art sich zu verneigen, die mir ungemein gut gefällt. Es ist, als wenn ein Lüftchen sich beugte, es ist, als wenn uns eine Blume begrüßte.

– Während die Frauenzimmer ausgegangen waren, trat ich in das offenstehende Zimmer, worin das Mädchen säuberte. Dreizehn ausgeleerte Wasserflaschen standen umher. Ich stellte sie in Reihe und Glied vier Flaschen hoch, und die dreizehnte als Lieutenantin voraus. Kämen sie nur zurück und sähen die Parade!

Sie haben auch Bücher. Die Stunden der Andacht. Was schadet's? Der Tag hat vierundzwanzig Stunden und Zeit für alles. Heines Reisebilder. Ossian. Volneys Ruinen,[836] aus der Leihbibliothek. Ist das Ernst oder glaubten sie, es sei eine Räubergeschichte? Abraham a Sancta Clara. Das wunderte mich etwas von Frauenzimmern, die dreizehn Flaschen Wasser verbrauchen: jeder Humor hat doch etwas Unreinliches. Laßt die Toten ruhen, von Raupach. Uhlands Gedichte. Der liebe Uhland! Er begleitet mich auf allen meinen Wegen. Ja, so laß ich mir es gefallen! Das ist auch alte Zeit; aber sie ist kindlich, nicht kindisch; sie ist heiter, keift nicht mit der Jugend, sondern spielt mit ihr. Das ist auch süße Minne; aber süß wie Zucker, nicht wie Sirup. Das sind auch treue Bürger; aber demütig sind sie nicht. Das sind auch mutige Ritter; aber hochmütig sind sie nicht. Das ist auch Königsglanz; aber er blinkt nicht wie kalte Sterne, er strahlt wie die Sonne herab und erwärmt die niedrigste Hütte. Golden und warm ist Uhland, wie die Krone in der Schäferin Hand.

– Habe Goethes westöstlichen Divan geendigt. Ich mußte ihn mit Verstand lesen; mit Herz habe ich es früher einmal versucht, aber es gelang mir nicht. So mit keiner Schrift des Dichters, den Ante – Aulischen Werther ausgenommen, den er geschrieben, sich mit der zudringlichen Jugend ein für alle Male abzufinden.

Welch ein beispielloses Glück mußte sich zu dem seltenen Talente dieses Mannes gesellen, daß er sechzig Jahre lang die Handschrift des Genies nachmachen konnte und unentdeckt geblieben!

Nein, das sind keine Weingesänge, das sind keine Liebeslieder! Das sind keine losen, das sind feste Gedichte. Wohl anmutig säuselt die Luft durch Zweige und Blätter und schüttelt sie freundlich; aber den starren Stamm bewegt sie nicht. Was wurzelt, ist halb der Nacht, halb dem Lichte und hat nur halbes Leben. Warum, ein freier Mann, orientalisch dichten? Gefangene sind jene, die durch das Gitter ihres dumpfen Kerkers hinaussingen in[837] die kühle Luft. Das Lied ist leicht, das Herz ist schwer. Selbst Salomon seufzte bei Wein und Kuß, und er war Herr; wie mochten erst seine Sklaven lieben und trinken! Von den Orientalen stammen alle Religionen. Gottes Schrecken und Milde, Zorn und Liebe war in ihren despotischen Herrschern ihnen näher geführt als den freien Abendländern. Ihre Poesie ist kindlich, weil aufgewachsen unter dem Schutze und den Augen ihres Vaters; aber auch kindisch aus Furcht.

Das zahme Dienen trotzigen Herrschern hat sich Goethe unter allen Kostbarkeiten des orientalischen Bazars am begierigsten angeeignet. Alles andere fand er, dieses suchte er; Goethe ist der gereimte Knecht, wie Hegel der ungereimte.

Goethes Stil ist zart und reinlich: darum gefällt er. Er ist vornehm: darum wird er geachtet – von andern. Ich aber untersuchte, ob die so glatte Haut Kraft und Gesundheit bedecke, und ich fand es nicht; fand keine Ader, die von der lilienweißen Hand den Weg zum Herzen zeige. Goethe hat etwas Würdiges, aber diese Würde kömmt nicht von seiner Herrlichkeit, sondern von glücklicher Anmaßung, von Etikette. Wie ein König hat er schlau und wohlbedacht alles berechnet und angeordnet, statt Ehrfurcht, dieses ursprüngliche Gefühl, welches die gottentsprungene Macht erweckte, Ehre und Furcht zu erzwingen. Genug für die, welchen solche Huldigung genug ist; aber nicht genug für uns, die wir nur mit dem Herzen dienen. Blinzeln wir auch, wenn es uns um die Augen flittert, lassen wir uns doch nicht verblenden; stutzen wir auch, wenn machtgewohnte Mienen und Worte uns engegenkommen, kehren wir doch bald zurück und fragen: wo ist das Recht?

Goethe spricht langsam, leise, ruhig und kalt. Die dumme scheinbeherrschte Menge preist das hoch. Der Langsame ist ihr bedächtig, der Leise bescheiden, der Ruhige[838] gerecht und der Kalte vernünftig. Aber es ist alles anders. Der Mutige ist laut, der Gerechte eifrig, der Mitleidige bewegt, der Entschiedene schnell. Wer auf dem schwanken Seile der Lüge tanzt, braucht die Balancierstange der Überlegung; doch wer auf dem festen Boden der Wahrheit wandelt, mißt nicht ängstlich seine Schritte ab und schweift mit seinen Gedanken nach Lust umher. Seht euch vor mit allen, die so ruhig und sicher sprechen! Sie sind ruhig aus Unruhe, scheinen sicher, weil sie sich unsicher fühlen. Glaubet dem Zweifelnden und zweifelt, wenn man Glauben gebietet. Goethes Lehrstil beleidigt jeden freien Mann. Unter allem, was er spricht, steht: tel est notre plaisir; Goethe ist anmaßend oder ein Pedant, vielleicht beides.

Goethes Gedanken sind alle ummauert und befestigt. Er selbst will, sein Leser kann nicht mehr hinaus, sobald er in sie eingedrungen. Das Tor schließt sich hinter ihm, er ist gefangen. Goethe, weil er beschränkt ist, beschränkt. Das Umflattern der Phantasie, der eigenen wie der fremden, belästigt ihn; er stutzt sie, und der flügellahme Leser preist einen Dichter hoch, zu dem er sich nicht zu erheben braucht, weil er so gütig ist, auf gleichem Boden mit ihm zu stehen.

Goethe verbietet, ja selbst dem Eigenwilligsten verhindert er das Selbstdenken. Und sage man nicht: es geschieht, weil er den Gegenstand bis auf den Grund ausschöpft, weil er der Wahrheit höchste Spitze erreicht. Der menschenliebende, gottverwandte Dichter entführt uns der Schwerkraft der Erde, trägt uns auf seine feurigen Flügel hinauf bis in den Kreis des Himmels, dann senkt er sich, auch seine andern Kinder zu heben; uns aber zieht die Sonne an. Sinken wir mit dem Dichter zurück, so ist es, weil er den irdischen Dunstkreis nicht verließ. Der wahre Dichter schafft seinen Leser zum Gedichte, das ihn selbst überflügelt. Wer nicht dieses vermag, dem[839] ist nichts gelungen. Ein Gesell zieht er Gesellen an; aber er ist kein Meister und bildet keinen.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 836-840.
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