Zwölfte Vorlesung

[279] Europäische Verhältnisse um 1840. Niklas Becker. Verbindungen zwischen Abgeordneten der verschiedenen Kammern. Gutenbergsfeste. Kölner Dombau. Thronwechsel in Preußen. Hoffnungen auf Friedrich Wilhelm IV. Einberufung der ostpreußischen Stände. Thronrede. Begünstigung der Rückschrittsmänner und des Pietismus in Preußen. Schön's: Woher und Wohin? Johann Jacoby's: Vier Fragen. Ausstellung des heiligen Rockes in Trier. Johannes Ronge. Der Deutsch-Katholicismus. Weigerung des Königs von Preußen eine Verfassung zu geben. Herwegh's Brief an ihn. Die schlesischen Weber. Steigende Unzufriedenheit in Preußen und Deutschland


Das Jahr 1840 schien ein Wendepunkt in den Geschicken der deutschen Nation werden zu wollen – wenigstens datirt von da an wieder eine freiere Bewegung der Geister. Die Zeiten der Verschwörungen und geheimen Gesellschaften waren vorüber; Brutus schliff den Dolch nicht mehr in finsterer Nacht, ein reifer gewordenes Geschlecht, vielfach bewegt und angeregt durch die neuere Richtung der Literatur, begann auf's Neue das Haupt zum offenen Widerstand zu erheben. Die Fortschritte des Zeitgeistes waren nicht mehr zu hemmen, trotzdem wir gerade in jenen Jahren ein bedeutendes Wachsen der kirchlichen Reaction wahrnehmen, denn die schon erwähnte Ausbreitung der Jesuiten in Oestreich wie in Bayern, hatte eine erschreckende Höhe erreicht. Auch die große Politik trat jetzt wieder mehr in den Vordergrund und wir begegnen schlau angelegten Versuchen Rußland's, die Bewohner der deutschen Mittel- und Kleinstaaten unter seiner Aegide zu sammeln und ihnen zugleich begreiflich zu machen, wie eine Oberherrschaft Preußens oder Oestreichs ihnen gleich gefährlich werden müßte, während Rußland dagegen ihnen sichere Garantien ihrer Selbstständigkeit und Freiheit darbiete. Solche Vorstellungen verfingen nichts bei dem denkenden Mittelstande, um so mehr machte sich ihr Einfluß an den Höfen geltend, und es ist noch unvergessen, wie verhängnißvoll damals und[279] noch später die russischen Gesandten in Deutschland, die spionirenden Staatsräthe und Attaché's über unseren heimischen Geschicken gewaltet haben. Sah man sich also nach dieser Seite hin vor, so wurde im Gegensatz ein etwaiger Schutz Frankreich's von den liberal Gesinnten ebensowenig gewünscht, selbst wenn Louis Philippe dies gewollt hätte, was er jedoch aus Unterwürfigkeit gegen die übrigen Großmächte gar nicht einmal im Sinne hatte. Dennoch sollte wieder der erste Anstoß zu einer nationalen Erhebung in Deutschland von Frankreich ausgehen, nur in anderem Geiste, als man es dort gerne gesehen hätte. – Der Tod des türkischen Sultan's, der dem Gelüste des Vicekönigs von Aegypten, des gefürchteten Mehemet Ali, beide Länder unter seiner Herrschaft zu verbinden, neue Nahrung gab, wurde der Anlaß zu einer neuen Quadrupel-Allianz zwischen Preußen, Oestreich, England und Rußland, die sich wiederum liebevoll des türkischen Reiches annehmen wollte. Rußland verzichtete in diesem Bund auf sein Recht, der alleinige Schützer und Schirmer der hohen Pforte zu sein, dagegen sollte kein fremdes Kriegsschiff mehr durch den Bosporus einlaufen dürfen, auch seine eigenen nicht, da aber der Russe die Küsten des schwarzen Meeres beherrschte, machte dies wenig Unterschied für ihn und blieb ihm doch so ziemlich die Gewalt dort, zu thun, was ihm beliebte. Ich erwähne diesen Umstand besonders darum, weil daraus später der Haupt-Kriegsfall für den entsetzlichen Krimkrieg erwuchs. – Eine zweite Absicht dieser Allianz war, Frankreich, welches man davon ausschloß, zu demüthigen, worauf sich denn dort augenblicklich ein furchtbares Kriegsgeschrei erhob und geflissentlich von Monsieur Thiers geschürt wurde, der seit dem 1. März 1840 Minister geworden war. Sein Ziel ging dahin, Frankreich wieder eine hervorragende Stellung auf der europäischen Weltbühne zu erobern, und so wie er die französische Gloire[280] als ihr Geschichtschreiber verherrlicht hatte, so glaubte er, es sei an der Zeit, dieselbe jetzt wieder einmal aufzufrischen, den Ruhm und Heldensinn der Nation neu zu erwecken. Als ein anderes Mittel zu diesem Zwecke hatte er schon im Frühjahr desselben Jahres den König veranlaßt, Schiffe nach St. Helena zu senden, unter der Anführung des Prinzen von Joinville, um die Asche Napoleon's nach Paris zu führen; eine Handlung, welche in höchst unvorsichtiger Weise die Napoleoniden wieder in das Gedächtniß Frankreich's zurückrief. Begleitet von ungeheuren Festlichkeiten – Louis Philippe brauchte in der That bereits solche Mittel, um sich populär zu erhalten – wurden die Reste des großen Mannes gelandet und dann in feierlichem Zuge nach dem Dome der Invaliden gebracht, wo ein prachtvolles Mausoleum sie zur Beisetzung erwartete. Wie das Volk diesem Akte zugejubelt, so jubelte es auch jetzt mit Herzenslust einem neuen Kriege mit Deutschland entgegen, in der sicheren Hoffnung, das linke Rheinufer nun doch zu erobern und festzuhalten. Es war eben das unglückliche Loos Süddeutschlands, daß stets die kriegerischen Actionen, welche es selbst nicht im Mindesten angingen, auf seinem Boden nicht allein zuerst begannen, sondern es auch zuletzt gewöhnlich die Zeche bezahlen mußte. Doch dachte dieses Mal der König Frank reich's selbst nicht entfernt an einen wirklichen Krieg; es stand dabei, und er wußte dies, viel zu viel für ihn auf dem Spiele – sein Geld, sein Ansehen als conservativer Fürst inmitten der andern Fürsten, und vielleicht auch seine Krone. Sein heißblütiger Minister war sich nicht minder bewußt, daß Frankreich allein den Riesenkampf gegen die Allianz nicht werde aufnehmen können; es mußte sich darum Verbündete in Deutschland zu erwerben suchen, die nur bei dem liberalen Theile der Bevölkerung zu finden waren.

Er beschwor denn auch so glücklich das Gespenst einer[281] deutschen Revolution und hülfreichen französischen Invasion herauf, daß Metternich und die preußischen Minister in Zittern und Beben geriethen. Jetzt appellirte man wieder von dort aus mit Pathos an das Nationalgefühl der Deutschen, jetzt ließ man der geknebelten Presse die Zügel schießen, um den patriotischen Geist wach zu rufen. Doch war dies kaum von Nöthen, denn auch ohnedem wendete sich die liberale Parthei in Deutschland von einem revolutionären Bündnisse mit Frankreich ab. Man wußte zu genau, was der endliche Kampfpreis einer französischen Hülfe sein würde. –

Inmitten aller dieser Wirren hatte in Preußen im Juni 1840 der lang erwartete Thronwechsel stattgefunden. Friedrich Wilhelm IV., jetzt schon 45jährig, folgte seinem Vater auf den Thron und es knüpften sich wie immer bei solchen Ereignissen, die weitgehendsten Hoffnungen an diesen Wechsel. Der neue König war allsogleich von der Sorge für seine schönen bedrohten Rheinlande in Anspruch genommen; er konferirte mit Metternich wegen deren Schutz, man fing an gegen Frankreich zu rüsten und selbst in den Bundestag kam jetzt einiges militärische Leben. Bei dieser Gelegenheit fehlte es auch nicht an Stimmen, die wiederholt darauf hinwiesen, wie wenig man bisher gethan habe, dem Deutschen sein Vaterland, das er vielleicht wieder mit Gut und Blut werde vertheidigen müssen, lieb und werth zu machen und ihren gemeinsamen Ausdruck fanden endlich alle diese aufgeregten Gefühle durch den Mund eines anspruchlosen Dichters, der in der preußischen Rheinprovinz lebte.

Niklas Becker dichtete zur rechten Stunde, und dies war sein Hauptverdienst, das bekannte Lied: »Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein, ob sie wie gierige Raben, sich heiser darnach schrei'n!« u.s.w. Von Conradin Kreuzer in Musik gesetzt, wurde das Lied zum ersten Male in Köln im Theater gesungen, und von da machte es[282] dann seine Runde durch alle Kehlen, die in Deutschland zu singen vermochten: es erklang in dem Salon wie der Kneipe, vom eleganten Flügel wie von der Drehorgel und that vollkommen seine Wirkung, denn es rief überall die höchste patriotische Begeisterung, die entschiedenste Opposition gegen Frankreich hervor! Mochten die Verse auch schwach sein, mochte der Spötter Heine auch später in seinem Wintermährchen den, seine Leiden aufzählenden Rhein, ausrufen lassen: »Bei Biebrich hab' ich Steine verschluckt, bei Gott, die schmeckten nicht lecker! noch schwerer liegen im Magen mir, die Verse von Niklas Becker!« es galt gleich, der Dichter hatte damit in's Schwarze getroffen. Sein Lied fand ein Echo in jeder deutschen Brust und erstaunt lauschten die Franzosen der »teutonischen Furie«, die da drüben, jenseits des grünen Stromes sich so laut kund gab. – Selbst die Fürsten schlossen sich dem allgemeinen Enthusiasmus an; der König von Preußen gab dem Dichter eine einträgliche Stelle und ein Ehrengeschenk von 1000 Thalern; der König von Bayern wollte nicht zurückbleiben und schickte ihm einen silbernen Becher, wozu Schwanthaler die Zeichnung entworfen hatte und den der König mit einem gnädigen Handschreiben begleitete. Nicht minder feierte ihn sein Volk; wo Becker hin kam, ehrte man ihn durch Fackelzüge, Festmahle und Ehrengeschenke von Frauen und Männern. Es war, als ob die ganze Nation sich selber zum Geburtstag oder zu Weihnachten bescheeren wollte, und uns, die wir heute die Früchte aller dieser Anfänge genießen, würde der bittere Spott, die diesen Demonstrationen bald darauf oft zu Theil wurde, schlecht anstehen; betrachten wir es als die kindlich naive Freude eines Volkes, das anfängt, sich wieder seiner selbst bewußt zu werden, nachdem man es Jahre lang auf's Aergste bedrückte. –

Der Krieg mit Frankreich unterblieb, aber der wieder einmal geweckte Geist in Deutschland, der bei dieser Gelegenheit[283] seine Wünsche offen und auf ungefährlichem Wege kundgegeben, blieb munter und auch jetzt wieder fehlte es nicht an freigesinnten Männern, die ihn so zu erhalten wußten, trotz der Noth, die auch ihnen daraus erwuchs. Man konnte es nicht mehr verhindern, daß sich allgemach eine offene Verbindung zwischen den Abgeordneten der einzelnen Ständekammern herstellte, in Folge deren sie unter sich verabredeten, in welcher Weise man nach einem gleichen Prinzip in den verschiedenen Kammern vorangehen wollte. Eine erste Begegnung fand statt, um 1840 in Hattersheim bei Frankfurt a. M., wozu aus Baden Itzstein, Mathy und Welcker, aus Sachsen Todt, Dieskau und Robert Blum gekommen waren. Dieser Letztere, ein armer Küferssohn aus Köln, hatte sich vom wandernden Spenglergesellen mühsam in die Höhe gearbeitet, wurde später Kassirer und Secretär des Leipziger Stadttheaters und studirte nun unermüdlich für sich selbst, die ihm fehlende Bildung zu erringen. Durch seine Thätigkeit für die Polen im Jahre 1830, war er in enge Beziehungen zu den Führern der liberalen Parthei in Sachsen gekommen und er leitete jetzt mit seinem Schwager Günther die Redaction der »Sächsischen Vaterlandsblätter«, die eine entschieden freisinnige Richtung vertraten. Blum hatte noch außerdem einen Club gestiftet, der sich nach und nach über die bedeutendsten Städte Deutschland's ausbreitete und den Zweck hatte, mit Hülfe der erwähnten Vaterlandsblätter das Volk politisch heran zu bilden. Die große Rolle, die er später noch in Deutschland spielen sollte, begann bei dieser Zusammenkunft in Hattersheim, und hatten die dort versammelten Männer durchaus keine Revolution, sie hatten nur Reformen im Sinne, aber ihr mit größter Vorsicht bewerkstelligtes erstes Zusammentreffen war die kleine Flocke, die acht Jahre später als furchtbare Lawine mit strafendem Donnerruf herniederstürzen sollte. Oefter und öfter[284] wiederholten sich von nun an solche Zusammenkünfte und Verabredungen, sie nahmen immer größere Dimensionen an, und sahen sich äußerlich unterstützt und ermöglicht durch häufige Anregungen zu patriotischen Festen, wie auch durch die jetzt immer mehr in Aufnahme kommenden Wanderversammlungen der Vertreter der verschiedenen Wissenschaften, zu wissenschaftlichen Zwecken. –

Ein wahres und ächtes Volksfest der ersteren Art, war die 400jährige Jubelfeier der Buchdruckerkunst, nachdem schon drei Jahre vorher Guttenberg's Statue in Mainz festlich enthüllt worden war. Das jetzt zu begehende Guttenbergsfest jedoch vereinigte die ganze Nation zu gleicher Feier und bewegte sie um so mehr, als ja ein solches Fest sich seiner ganzen Natur nach, als eine Verherrlichung des Lichtes, des freien Denkergeistes, im Gegensatze zu der Verdummung und Verdunkelung darstellen mußte; gerade darum war es aber auch den politischen und religiösen Rückschrittsmännern ganz besonders verhaßt. In Berlin wurde das Fest schon lange vorher verboten, dann endlich unter solch einschränkenden Bestimmungen erlaubt, daß man es in Preußen lieber nirgends begehen mochte. Um so mehr drängte sich Alles aus dem Norden nach Leipzig, wo der Guttenbergs-Tag in der großartigsten Weise gefeiert und namentlich durch den Druck von Prachtbibeln verherrlicht wurde, die Jedermann besitzen wollte. Im Südwesten versammelte das »alte goldne Mainz«, die Süddeutschen zu einer gleich großartigen und erhebenden Feier. Mit vieler Mühe war es gelungen, die hessische Regierung zur Erlaubniß derselben zu bewegen, für Darmstadt jedoch, wo auf Anregung des Oberforstrathes von Wedekind, gleichfalls ein Fest sollte begangen werden, wurde sie hartnäckig verweigert. Unter den Festlichkeiten in noch vielen anderen Städten erregte die Feier in Straßburg ganz besonderes Interesse und erinnerte an die alte Zusammengehörigkeit; es wurde Guttenberg[285] dort gleichzeitig eine Denksäule errichtet und in deutscher Sprache pries und besang man den Mann, der dem Elsaß ebenso sehr angehörte als uns. – In den nächsten Jahren gaben dann die Enthüllung der Schillerstatue in Stuttgart, der Goethestatue in Frankfurt, Anlaß zu ähnlichen begeistrungsvollen Festen durch die das geistige Einheitsband unseres Volkes enger und enger geknüpft wurde, und einem gleichen Antrieb entsprang auch die allgemeine Theilnahme für den Ausbau des Kölner Domes, der im Jahre 1842 von dem König von Preußen, als eine gemeinsame That der Nation, angeregt wurde. Von allen Seiten strömten die Geldbeiträge herzu, man veranstaltete Lotterien, gab Concerte zum Besten des Domes, und mochten auch von vornherein denkende Männer das Ganze als eine Spielerei ansehen, um die Leute von ernsteren Gedanken abzuziehen, und ihnen ein Schattenbild statt einer Wirklichkeit zu geben, so sah doch die gläubige Menge darin ein Symbol, eine Verheißung dessen, was man von dem neuen Preußenkönig erwartete, und aufstrebende junge Dichter griffen in die Saiten und priesen voll Feuer das Erwachen einer neue Zeit. –

Preußen war in der That bis jetzt in seiner politischen Entwicklung vollständig hinter den übrigen rein deutschen Staaten zurückgeblieben; Friedrich Wilhelm III., dem Pietismus mehr und mehr verfallen, starb nach einer 43jährigen wechselvollen Regierung, ohne dem Volke, das ihm so treu zur Seite gestanden, sein ihm feierlich in der Stunde der Gefahr verheißenes Wort eingelöst zu haben. Sein Sohn hatte in zarter Jugend die Wechselfälle und Gefahren, die Preußens Mißgeschick hervorriefen, mit dem Vater und dem Lande getheilt; er hatte als angehender Jüngling den gewaltigen Aufschwung der Nation mit erlebt, aber seinem Bewußtsein lag dies jetzt Alles in weiter Ferne. Trotzdem war in Preußen selbst der Geringste fest davon überzeugt, Friedrich Wilhelm[286] IV. halte in seiner Hand ein kostbares Vermächtniß des Vaters für seine Preußen – die endliche Gewährung einer Verfassung! – Der neue König selber, von dem man ein ganz neues Heil erwartete, war persönlich wenig bekannt, denn gar scharf schied die Etikette des Berliner Hofes den Fürsten von der übrigen Welt ab, aber man erzählte sich, er sei witzig, geistreich, Schöngeist, ein Freund der Künste, aber auch der tollen Ausgelassenheit beim Champagner-Glase. Dazu gesellte sich dann noch eine Art von religiöser Schwärmerei sowie eine romantische Zuneigung zum Mittelalter, die sich eben durch den Ausbau des Kölner Domes und verschiedener Burgen an den Ufern des Rheines auch äußerlich kundgab. Nach und nach stellte es sich dann immer deutlicher heraus, wie Friedrich Wilhelm IV., bei allen seinen glänzenden Gaben leider ein durchaus unklarer Kopf war, der heute dies und morgen Jenes wollte, und bei dem nur dies Eine ganz fest stand: die höchste Vorstellung von dem absoluten Rechte eines Königs. –

Man vermuthete dies um so weniger, als er in seinem Auftreten einfach und leutselig erschien, und ein Meister in schönen Redensarten genannt werden konnte, die er wohl auch im Augenblick, da er sie aussprach, ernstlich meinte.

Daß ein solcher Charakter unendlich mehr schaden mußte als eine schroffe, wenn auch viel mittelmäßigere Natur, bedarf kaum der Erörterung. –

Seine ersten Regierungshandlungen schienen mildere Gesinnungen als die seines Vorgängers waren, zu bethätigen; Arndt, der noch von den 20ger Jahren her suspendirt war, wurde wieder in Bonn angestellt, die Brüder Grimm nach Berlin berufen, eine Amnestie für die unglücklichen politischen Gefangenen erlassen, und die Leute erzählten einander voll Freude, der König habe, gegenüber einer Aeußerung von A. von Humboldt, man fürchte, er werde den[287] Adel zu sehr stützen, ausgerufen: »Als Kronprinz war ich der erste Adelige meines Landes, als König bin ich nur noch der erste Bürger!« –

Im Herbste begab sich Friedrich Wilhelm nach Königsberg, um dort in dem alten Herzogthum Preußen, von wo die Markgrafen von Brandenburg ihre Krone, die Friedrich I. in eine königliche umgewandelt hatte, empfingen, die Huldigung der Stände entgegenzunehmen. Wir haben schon öfter dieser preußischen Stände gedacht, deren Rechte die neuen Fürsten so rücksichtslos bei Seite geschoben hatten, an die jedoch 1813 die Patrioten appellirten, als sie auf eigne Hand, ohne Zustimmung ihres Königs, den Krieg gegen Napoleon eröffneten.

Nun wurden diese Stände wieder einmal nach langer Frist zusammen berufen, um einen Huldigungslandtag für den neuen Fürsten abzuhalten, wie es gesetzlich, aber seit 150 Jahren nicht mehr geschehen war. Die ganze Provinz befand sich in der freudigsten Aufregung über dieses Ereigniß, doch wollten die einberufenen Männer nicht blos als Staffage eines Festes zusammen gekommen sein, sie verlangten bei dieser Gelegenheit eine neue Urkunde, die ihnen ihre ständischen Rechte neu gewährleiste, was der König ihnen auch zusagte. Darauf erinnerten Jene jetzt an das Versprechen des Jahres 1815 und sprachen die Hoffnung aus, daß der Ausbau ihrer eignen Rechte auch den andern Provinzen zu Gute kommen, und eine endliche Verfassung für das ganze Königreich Preußen herbeiführen werde. Damit war denn wieder auf völlig gesetzlichem Wege die Agitation für ein constitutionelles Leben angeregt worden, und die ältesten und nächsten Freunde des Königs stimmten freudig in diese Wünsche ein, vor Allem hoffte man auf den Einfluß des Herrn von Schön, des langjährigen Oberpräsidenten der Provinz. Der König aber lehnte jedes derartige Verlangen ab in so gnädigen[288] Worten jedoch, daß man trotzdem die Hoffnung nicht aufgab und sich in derselben bestärkt fühlte, als nach der feierlichen Krönung und dem darauf folgenden Eidschwur der Stände, der König vom Throne herab jene berühmte und die lebhaftesten Sympathien hervorrufende Rede hielt, die in den wärmsten Ausdrücken von den Pflichten eines guten Königs, von seinem eignen guten Willen, sein Volk und Deutschland zu beglücken, von seiner Liebe zum Vaterlande u.s.w. sprach.

Nachdem Friedrich Wilhelm dieses rhetorische Meisterstück vollendet hatte, das nur leider an keiner Stelle erwähnte, in welcher Weise die Volksbeglückung vor sich gehen solle und darum viel zu sehr an Hamlet's bekannten Ausruf: »Worte! Worte! Worte!« erinnerte, schloß er mit hochgehobener Hand und den feierlichen Worten: »Ich gelobe und schwöre, daß ich dies Alles halten werde!« Laut schluchzte die Königin auf, alle Anwesenden flossen über in gleicher Rührung und gleichem Jubel, und mit gleichem Enthusiasmus wurde diese Thronrede in ganz Deutschland aufgenommen – so leicht bestechlich, bis auf Wenige tiefer Blickende, war damals noch die Mehrheit der Nation.

Indessen wurde Schön, und dies durfte einigermaßen als eine Gewähr für die Zukunft gelten, zum Staatsminister ernannt, und nun bereiteten auch die Berliner ihrem neuen König einen großartigen Einzug vor. Man hegte die feste Ueberzeugung, Schön arbeite bereits fleißig an der neuen Verfassung – da warf des Königs Verhalten bei der Huldigung einen neuen Frost in die keimende Hoffnungssaat. Dieselbe fand in Berlin am 15. October statt, und schnell fühlten die Gemüther sich wieder abgekühlt, als es der Mund des Fürsten hier scharf und deutlich aussprach, daß er sich bei seiner Regierung auf die reactionäre Partei, auf den Adel und die Kirchlichgesinnten zu stützen gedenke. Zu der Ritterschaft äußerte sich der König in den bekannten und[289] seine Denkweise ganz bezeichnenden Worten: »Ich weiß, daß ich meine Krone von Gott allein habe: Wehe dem, der sie mir anrührt! aber ich weiß, daß ich ihm Rechenschaft geben muß von jeder Stunde meiner Regierung! Wer Gewährleistung für die Zukunft verlangt, dem gebe ich diese Worte. Eine bessere Gewährleistung gibt es nicht. Sie wiegt schwerer und bindet fester als alle Krönungseide, als alle Versicherungen auf Erz und Pergament verzeichnet, denn sie strömt aus dem Leben und wurzelt im Glauben! Wer sich begnügen lassen will mit einer einfachen, natürlichen, ächt deutschen und christlichen Regierung, der fasse Vertrauen zu mir!« –

Damit war Alles gesagt – der König, der Romantiker auf dem Throne, wie man ihn genannt, wollte nur absolut regieren und er hielt sich vom Himmel selbst dazu für vollkommen berechtigt. Die Kluft, die ihn dergestalt von vornherein von dem Bewußtsein seiner Zeit abscheiden mußte, konnte oder wollte er nicht sehen. Es lag in der Natur der Dinge, daß Gegensätze dieser Art sich allsobald einander feindlich begegnen mußten und an Anlässen dazu fehlte es nicht.

Kaum war das Kriegsgeschrei wegen Frankreichs verhallt als die innere Reaction wieder sich so sehr geltend machte, daß der Staatsminister von Schön im Herbst des Jahres 1842 vollständig von seinem Amte zurücktrat, die Unmöglichkeit einsehend, in seinem Sinne als der Berather des Königs zu wirken. Noch mehr als dieser Rücktritt verstimmte es, daß der verhaßte Polizeiminister von Rochow, derselbe, der die Lehre »vom beschränkten Unterthanenverstand« aufgestellt hatte, ein naher Freund des Königs, mit dem rothen Adlerorden decorirt wurde. In das neue Ministerium wurden nur noch solche Leute gezogen, die der streng pietistischen Färbung angehörten. Der Cultusminister Eichhorn entpuppte sich schnell so sehr als Anhänger der frommen Partei, und er beherrschte mit seinem System so rücksichtslos Universitäten[290] wie Schulen, daß an seinen Namen sich die traurigsten Erinnerungen für Preußen knüpfen. Die Hegel'sche Philosophie war ihm ein Dorn im Auge, und so berief er den bekannten Professor Stahl aus Erlangen nach Berlin auf den Lehrstuhl des zu früh verstorbenen berühmten Eduard Gaus, der mit scharfer Klarheit die Jurisprudenz, vom Standpunkte der Philosophie aus, erläutert hatte. Den objectiven und freien Geist, der dabei von Gans ausging, wieder zu verdunkeln, wurde Stahl berufen; dieser hochbegabte Mann, vom Juden zum Christen übergegangen, hatte den neuen Glauben in seinen extremsten Richtungen erfaßt, und vermöge seines scharfen Geistes schnell erkennend, wo die meiste Aussicht auf irdischen Erfolg zu finden sei, ergriff er ohne Zaudern die Partei der Herrschenden. Alle seine reichen Fähigkeiten, die Fülle seiner juristischen Kenntnisse verwendete er nun darauf, als einer der Ersten vom Lehrstuhle herab den Grundsatz: Vom unbedingten göttlichen Rechte der Fürsten, aufzustellen und zu vertheidigen. Stahl war ein gewaltiges Rüstzeug im Dienste der Mächtigen, dafür lohnte ihm denn auch reichlich der Spott und die Verachtung seiner Nation, und – was noch härter sein muß für einen Mann des Geistes und der Wissenschaft, seine Lehre ist falsch befunden worden und er hat, wie fromm er sich auch dabei geberden mochte, doch nur dem Lügengeiste gedient, anstatt dem Geiste der Wahrheit und des Rechtes. – Nicht weniger ungern sah man die Berufung des Naturphilosophen Schelling aus München nach Berlin; kamen doch Beide aus Baiern, wo seit mehreren Jahren das Ministerium Abel die Vorherrschaft der ultramontanen Dunkelmänner ganz ebenso sehr begünstigte, wie dies in Berlin mit den Pietisten geschah. Am meisten aber empörte es in Preußen, als man den Herrn von Hassenpflug aus Kassel in das Obertribunal berief. Man wußte, was dieser Mann bereits im Hessischen geleistet, wie[291] er dort als Minister die Verfassung mißhandelt hatte, was er als Absolutist und Frömmler zu thun fähig war – nein, diesen Mann wollte man um keinen Preis dulden, und so mißliebig war er, daß ihm die Jungen in Berlin auf den Straßen entgegensangen: »Wir wollen ihn nicht haben den Herrn von Haß und Fluch!« – Maßregeln gegen die Schulen und deren Lehrer wie auch gegen freigesinnte Prediger, Verfolgungen von Hallenser Studenten, die in einer Petition an den akademischen Senat die Berufung von David Strauß verlangt hatten, vollendeten die eben geschilderte Mißstimmung. Als der fromme König das fromme Stück Raeine's, die Athalie aufführen ließ, pfiffen es die Berliner aus, und bei dem Jahresfeste der Freiwilligen von 1813, standen die Daten der Edicte, die König Friedrich Wilhelm III. in den Zeiten der Noth erlassen hatte, an die Wand des Versammlungsortes gedruckt und darunter dessen eigene Worte: »Es soll eine Repräsentation des Volkes gebildet werden.« Solche Dinge veranlaßten stete Plänkeleien mit der Polizei; aber ernster wurde die Sache, als nun Schön, des Königs treuester Freund, seine Schrift veröffentlichte: Woher? und Wohin? Der Inhalt derselben drehte sich um die Darlegung der Vortheile für Fürst und Volk, wenn man die verschiedenen Provinziallandstände in einen Körper vereinigte, und betonte scharf die Nothwendigkeit eines solchen Vorgehens. Die höchst eindrucksvolle Schrift schloß mit den prophetischen Worten: »die Zeit der väterlichen Regierungen läßt sich nicht mehr zurückführen. Wenn man die Zeit nicht nimmt, wie sie ist, das Gute daraus ergreift und es in seiner Entwicklung fördert, dann straft die Zeit!« –

Diese Schrift war Labsal für ein dürstendes Volk; überall wurde Schön als Bürgerfreund begrüßt und gefeiert, nur in der preußischen Rheinprovinz bildete sich als Gegensatz der bekannte und berüchtigte »Adelsverein«, dessen Mitglieder[292] sich »Einen Verein der Edlen, die das Diplom des Seelenadels in der Brust tragen!« nannten. Sie griffen Schön mit den gemeinsten Schmähungen an, die sich bis zur Wuth steigerten, als nun ein Königsberger Arzt, ein Jude, der berühmte Johann Jacoby, neben Jenem auf dem Kampfplatz erschien und seine vier Fragen an das preußische Volk richtete. Wahrhaft packend für Jedermann war die Klarheit und Schärfe der kurzen Schrift, die sich um vier Fragen und deren schlagende Beantwortung drehte: 1) Was wünschen die ostpreußischen Stände? 2) Was berechtigt sie? 3) Welcher Bescheid wird ihnen? 4) Was bleibt ihnen zu thun übrig? –

Wir kennen die Sachlage genügend und brauchen auf die Beantwortung der Fragen, die nur wenige Bogen umfaßte, darum nicht ganz nahe einzugehen; bei der dritten Frage wurde besonders schlagend hervorgehoben, wie das Edict des verstorbenen Königs vom 22. Mai 1815, das eine Verfassung verheißen, noch vollkommen zu Recht bestehe und daß selbst ein König nicht das Vorrecht besitze, den Sinn dieses Edicts nach seinem Wunsche zu drehen und zu deuteln, wie man es jetzt zu thun versuche. Die vierte Frage: »Was bleibt den Ständen zu thun übrig«, hatte nur drei Zeilen zur Antwort, die aber ihre gewaltige Wirkung nicht verfehlten: »Sie haben das, was sie bisher als Gunst erbeten, nunmehr als erwiesenes Recht in Anspruch zu nehmen!« –

Die Schrift erschien anonym, war aber gleichzeitig am selben Tage in ganz Preußen verbreitet, und darum schon in allen Händen und von Tausenden gelesen, als die Berliner Polizei zuerst davon erfuhr. Man zerbrach sich den Kopf, wer der Verfasser sein möge, bis endlich der König selbst das Räthsel löste; Jacoby hatte ihm seine Schrift geschickt und sich ihm genannt, die wenig edle Antwort auf diese Gradheit war eine Criminaluntersuchung gegen Jacoby. Er wurde des Hochverraths angeklagt und die vier Fragen nicht allein in[293] Preußen, sondern auch in ganz Deutschland verboten. Die Gerichte von Königsberg und Berlin schoben sich gegenseitig die Untersuchung zu, weil Keiner sie führen wollte, endlich nahm sie das Berliner Kammergericht auf, während in ganz Deutschland Geld gesammelt wurde, um Jacoby eine Bürgerkrone anzubieten. Darauf hin zog man auch die Beitraggebenden in Untersuchung, bis endlich das gefügige Kammergericht Jacoby so sehr gegen alles Recht verurtheilte, daß das Obertribunal das Urtheil nicht zu bestätigen vermochte, sondern 1843, so lange zog sich der Proceß hinaus, den Angeklagten freisprach. Diese Dinge hatten wieder Aller Blicke auf Preußen gezogen, wo sich jetzt ein feiles Beamtenthum, ein ganz verstockter Adel und eine ebenso verstockte Hierarchie, eine katholische wie eine protestantische, unter dem Schutze eines Königs, den die ausschweifendsten Ideen von seiner Macht und seinem Rechte mehr und mehr beherrschten, zu einer Phalanx zusammenschlossen, die den erbittersten Kampf eines fortschrittlichen Adels, eines unabhängigen Beamtenthums, einer aufgeklärten Theologie, gegen sie ins Feld riefen, ungerechnet derjenigen, die ja schon lange auf der liberalen Seite gestanden hatten. – Ein Anlaß sich gegenseitig zu messen wurde bald gegeben durch die Schwäche und Nachgiebigkeit der preußischen Regierung gegenüber den Anmaßungen der katholischen Bischöfe, welche noch durch die Erlaubniß, daß die Schüler der Jesuiten nach Preußen zurückkehren durften, bestärkt wurden. Frohlockend glaubte nun die orthodoxe Partei ähnliche Dinge wagen zu dürfen, wie man es früher in Frankreich gesehen.

Mit Staunen, Spott und Verwunderung las man eines Tages in den Blättern, daß der Hochwürdige Bischof Arnoldi von Trier befohlen habe, eine der wunderthätigsten Reliquien der katholischen Kirche, den heiligen Rock Christi am 18. August 1844 öffentlich auszustellen.[294]

Katholische Professoren und Kapläne setzten ihre Feder in Bewegung, um den Rock zu beschreiben und dessen wunderthätige Kräfte anzupreisen; seine merkwürdigste Eigenschaft war wohl ohne Zweifel diese, daß der ungenähte Rock, den Maria ihrem Sohne als er ein Kind war, gesponnen und gewebt, mit ihm gewachsen sein sollte. »Führwahr«, so sagte Arnoldi's Kaplan, »ein Kleinod, das man kaum ohne Andachtszähren anschauen kann!«

Im 12. Jahrhunderte war der wunderthätige Rock zum ersten Male ausgestellt gewesen, dann lange nicht mehr, bis es 1512 auf Verlangen von Papst Leo X. geschah, demselben, der ja bekanntlich auf jede Weise Geld für den Bau seiner Peterskirche in Rom zu sammeln suchte und der durch seinen, zu gleichem Zwecke organisirten Ablaßhandel in Deutschland, Luthern zuerst veranlaßte, sich gegen Rom zu empören. Schon damals war mit der Ausstellung des Rockes und der Wallfahrt dahin ein vollständiger Ablaß der Sünden verbunden, und dies zeigte sich als so ergiebig, daß er von da an noch öfter erschien, wenn sich die Kirche in Geldverlegenheit befand. Zum letzten Male war er 1810 ausgestellt gewesen. Die Franzosen hatten ihn weggeraubt und nach Augsburg gebracht. Auf Befehl Napoleon's jedoch kehrte er nach Trier zurück und zeigte sich bei dieser Gelegenheit noch einmal öffentlich, bis man dann, zum Hohne des Jahrhunderts, im Jahre 1844 eine neue Komödie mit ihm veranstaltete. Es war so glücklich vorgearbeitet, daß schon in den ersten acht Tagen 150,000 Wallfahrer nach Trier kamen, um den Rock zu sehen. Mit Tagesgrauen bildeten die frommen Neugierigen eine lange Reihe vor der Kirche, durch die sich dann täglich 12 Stunden lang unausgesetzt ein Menschenstrom ergoß. Vor dem Glasschrein angelangt, der das heilige Kleidungsstück barg, murmelte der Andächtige ein kurzes Gebet, ein bereitstehender Priester nahm die Gegenstände,[295] die der Beter zur Weihung mitgebracht, – Rosenkränze, Ablaßzettel, Amulette, Wachskerzen u.s.w. ab und rieb sie einen Moment an dem Glas des Schreines, dann ging es an der andern Seite zu der Kirche wieder hinaus. Vom 18. August bis 7. October waren ungefähr 12,000,000 Menschen nach Trier gekommen, freilich nicht alle Gläubige, sondern auch Viele darunter, welche das Schauspiel mit ansehen und sich darüber spottend oder entrüstet äußern wollten. – Vor der Kirche standen reihenweise Buden mit Ablaßzetteln, Rosenkränzen, abscheulichen Abbildungen des Rockes und ähnlichen Gegenständen, die rasend verkauft wurden und eine ungeheuere Einnahme bildeten. Ja, man ließ diese werthlosen Gegenstände massenhaft auf die oben beschriebene Weise weihen und verkaufte sie dann an Solche, die nicht selbst kommen konnten; bis nach Paris hin wurde ein lebhafter Handel damit getrieben. An Opfergeld allein gingen außerdem nahe an 100,000 Thaler ein, und als nun gar der Rock noch anfing alle möglichen Wunder zu verrichten, Lahme heilte, Blinde sehend und Stumme sprechend machte, da erreichte der Wahnsinn den höchsten Grad. Auf den Knieen lagen die Leute und flehten: »Heiliger Rock, bitt' für uns!« was zuletzt selbst den Pfaffen zu stark wurde; sie erklärten in den öffentlichen Blättern, nicht der Rock, sondern der heilige Rochus sei damit gemeint gewesen. Aber nicht das geringe Volk allein, auch die Vornehmsten betheiligten sich an der Tollheit, namentlich als es hieß, der Rock habe eine wunderbare Heilung an der jungen Gräfin Droste-Vischering, aus einer der ersten Adelsfamilien Westphalens vollbracht. Sie sei auf Krücken zu dem Rocke gekommen, nach inbrünstigem Gebete aber mit heilen Füßen wieder davon gegangen und. wie es in einem Spottliede aus jener Zeit hieß: »Die Gräfin Droste-Vischering noch selbigen Tags zum Tanze ging!« vollständig genesen. Leider blieben der Armen, die im Momente[296] höchsten Aufregung, vielleicht für ein paar kurze Minuten ihre Kraft wieder gewonnen hatte, die Krücken nach wie vor.

Durch die gesammte Presse aber tönte jetzt ein Schrei der Entrüstung, der um so mehr gerechtfertigt erschien, als die Wallfahrten nach Trier eine grenzenlose Unsittlichkeit in ihrem Gefolge hatten. Gleichzeitig trat ein französischer Bischof auf, und erklärte, der Trierer Rock sei unächt, in Argenteuil müsse man den ächten Rock Christi suchen; inzwischen hatten zwei junge Marburger Professoren, Sybel und Gildemeister, eine Broschüre verfaßt, in der sie mit schlagender Sicherheit nachwiesen, daß Alles, was man in Trier ausgedacht, Schwindel und Betrug sei, indem 20 solcher Röcke Christi existirten, die alle den gleichen Anspruch auf ihren göttlichen Ursprung erhüben. Dabei wurde sehr nachdrücklich hervorgehoben, welch' großes Unrecht es sei, den Rock, wenn er wirklich Wunder wirke, wieder einschließen zu wollen, daß man ein solches Heilmittel der Welt nicht mehr vorenthalten dürfe. – Mit höchster Spannung wurde diese Schrift gelesen und verbreitet, und voll Widerwillen wendeten sich alle verständigen Katholiken von dem Treiben in Trier ab; es konnte darum nicht fehlen, daß ein wahrer Sturm des Enthusiasmus ausbrach, als nun aus deren Mitte die Stimme eines jungen, freilich abgesetzten Priesters ertönte, der durch einen offenen Brief an den Bischof Arnoldi von Trier, welcher am 1. October 1844 in den sächsischen Vaterlandsblättern erschien, der allgemeinen Stimmung Ausdruck gab. Man muß es selbst erlebt haben, welche Wirkung die schneidende Sprache dieses Schreibens hervorrief, welches den Bischof Arnoldi offen des wissentlichen Betruges anklagte und alle Folgen eines solchen Rückschritts in die finstersten Zeiten des Mittelalters, auf dessen Seele und Verantwortung legte. Mit bitteren Worten wird ihm vorgehalten, wie er die Armuth und Noth des Volkes nicht achtend, ihm durch solche[297] Täuschung den letzten Heller abpresse, wie er die Sittlichkeit nach jeder Richtung hin untergrabe. »Schon ergreift«, so ruft der Schreiber aus, »schon ergreift der Geschichtsschreiber den Griffel und übergiebt Ihren Namen, Bischof Arnoldi, der Verachtung der Mit- und Nachwelt und bezeichnet Sie als den Tetzel des 19. Jahrhunderts!« Am Schlusse wendet sich das Schreiben an die Amtsbrüder des Verfassers und mahnt sie, zu zeigen, daß sie Christi Geist und nicht seinen Rock geerbt haben.

Unterzeichnet war der Brief Johannes Ronge, katholischer Priester zu Laurahütte in Schlesien. Dort lebte der junge Mann als Erzieher in der Familie eines Beamten des Hüttenwerks, nachdem er sich schon früher durch einen aufgeklärt geschriebenen Aufsatz bei seinen Vorgesetzten mißliebig gemacht und darum suspendirt worden war. – Es wird heute vielfach behauptet, Ronge habe den Brief nicht selbst geschrieben, sondern ein gewisser Otto Lindner, ein höchst geistvoller Mann, der lange Zeit Mitredakteur der Vossischen Zeitung gewesen und vor einigen Jahren gestorben ist, sei der Verfasser desselben; Ronge habe nur den Namen dazu geliehen. Jedenfalls aber gehörte so wie so auch dazu ein höherer moralischer Muth, denn das Wuthgeschrei der Zeloten gegen den Abtrünnigen war nicht kleiner als der Jubel der Aufgeklärten. Ronge's Brief konnte um so weniger ohne Folgen bleiben, als auch von anderer Seite her, unabhängig von den Ereignissen in Trier, sich Gelüste des Abfalls von der Orthodoxie gezeigt hatten. Fast gleichzeitig mit der Ausstellung des Rockes hatte sich in Posen, in Schneidemühl, eine freie Gemeinde gebildet unter der Leitung eines jungen Priesters, Namens Czersky. Bei ihm hatte die Liebe zu einer junger Polin, die er heirathete und damit offen gegen das Priester-Cölibat protestirte, den Anstoß zum Widerstand gegeben, und auch sein Vorgehen fand den lebhaftesten Beifall.[298] Czersky wurde von seiner Kirche excommunicirt und Ronge traf ein gleiches Schicksal, nachdem er zum Widerruf aufgefordert, denselben mit festem Muthe abgelehnt. Die nächste rasche Folge dieser Vorgänge war die Bildung von sogenannten deutsch-katholischen Gemeinden, die aus Katholiken bestanden, welche dem ursprünglichen katholischen Glauben treu bleiben wollten, sich aber von Rom lossagten und zugleich einige der widersinnigsten Dogmen zu beseitigen strebten, sich darauf stützend, daß dieselben erst später und willkührlich entstanden seien. Viele katholische Geistliche traten mit ihren Pfarrkindern über und in überraschend kurzer Zeit waren in einer Menge von Städten deutsch-katholische Gemeinden entstanden. Johannes Ronge begann jetzt Rundreisen durch Deutschland um der neuen Lehre Anhänger zu erwerben; wo er hinkam, wurde er empfangen wie ein Apostel, wie ein Gott. Alles drängte sich zu seinen Predigten, Katholiken, Protestanten und Juden, es floß, mit einem Worte, in dieser Bewegung Alles zusammen, was man bis dahin mühsam unterdrückt hatte. Das Politische vermischte sich mit dem Religiösen, man durfte sich doch einmal wieder öffentlich aussprechen, man empfand doch endlich wieder einmal einen freieren Flügelschlag des Geistes, und wir wissen, wie empfänglich gerade das deutsche Volk für einen solchen Aufschwung ist, wo das geistige Bedürfniß durch das gemüthliche unterstützt und getragen wird. Welch ein Moment wäre dies für einen erleuchteten Staatsmann oder einen weisen Fürsten gewesen, jetzt eine deutsche Kirche zu gründen, Deutschland vollständig loszulösen von Rom, da die vorwiegende Zahl der Katholiken sich ganz einverstanden mit einer Verjüngung ihrer Glaubenssätze zeigte. Wie hätte man sich damit die heutigen Kämpfe ersparen können, aber Preußen's König, der denn doch den Ausschlag hätte geben müssen und in dessen Staaten, namentlich in Schlesien, die Bewegung am[299] stärksten war, und Preußen's Minister waren für solche Erwägungen blind und taub. Man sah in der ganzen Bewegung nur das Erwachen eines selbstständigen Geistes, man nahm das reformatorische Bestreben, das darin lag, für ein revolutionäres und indem man es verschmähte, dasselbe auf die rechten Wege zu leiten, erleichterte man den Conflikt, der endlich ausbrechen mußte. – Wie sehr waren nun aber auch schon die Hoffnungen geschwunden, die man auf Friedrich Wilhelm IV. gesetzt hatte; noch einmal hatten sie sich geregt, als er im Jahre 1842 eine Reise nach England unternahm, wo er den Prinzen von Wales aus der Taufe hob. Man erwartete und glaubte, der Anblick eines freien und glücklichen Landes, das nur durch seine Gesetze und Institutionen regiert werde, müsse den gebildeten und gescheidten Mann doch davon überzeugen, wie ungefährlich es für einen Fürsten sei, sich solchen Institutionen anzuvertrauen. Es wurde ihm auch dort von vielen und einflußreichen Persönlichkeiten zugeredet, nun endlich sein Wort zu halten und Preußen eine Verfassung zu geben. Der damalige Staatskanzler Lord Brougham ermahnte ihn namentlich mit den dringendsten Worten dazu und sagte ihm unter Anderem: »Eine Verfassung ist kein papiernes, sondern ein eisernes Bollwerk des Reichs, die festeste Stütze eines auf Gerechtigkeit gegründeten Thrones!«

Vergebens – Friedrich Wilhelm hatte es einmal in romanhafter Ueberspannung ausgesprochen: »Zwischen mich und mein Volk soll kein Papier treten!« und dabei blieb es Ebenso einflußlos erwiesen sich die Hoffnungen der poetischen Jünger des jungen Deutschlands, die sie in Poesie und Prosa an ihn gerichtet. Zu diesen gehörten namentlich Georg Herwegh, der ihm direkt, in einem an ihn gerichteten Gedicht im Namen der deutschen Jünglinge zugerufen: »O drück' in uns're Hand ein Schwert! Führ' aus den Städten uns in's Lager, und frage nicht, wo Feinde sind, die Feinde kommen[300] wie der Wind! Behüt' uns vor dem Frankenkind, und vor dem Czaaren, Deinem Schwager!«

Geschmeichelt fühlte sich der König wohl, daß man ihn dergestalt zum Mittelpunkt der deutschen Wünsche machte, aber er hatte kein tieferes Herz dafür; hatte er doch erst kurz zuvor die neue Friedensklasse des Ordens pour le mérite gestiftet, ihn Künstlern, Gelehrten und Dichtern im In- und Auslande zugeschickt, dabei aber Uhland, den deutschesten und genialsten der deutschen Sänger übergangen.

Er sprach huldvoll mit Herwegh, als dieser nach Berlin kam und dem König auf dessen besonderen Wunsch durch seinen berühmten Leibarzt Schönlein vorgestellt, und höchst gnädig aufgenommen wurde. Der Dichter aber war unvorsichtig genug, von dieser Unterredung zu plaudern und als er nun, um Denjenigen, die glaubten, Herwegh sei wohl jetzt durch Königsgunst gewonnen, zu zeigen, daß er sich seine alte Gesinnung bewahrt habe, von Königsberg aus einen offenen Brief an den König richtete, worin er ihm unverhüllt die Wünsche des Volkes an's Herz legte, wurde der eben noch gefeierte Sänger wegen seiner Form- und Taktlosigkeit polizeilich verfolgt und aus Preußen verwiesen. Die Leipziger Zeitung, worin der offene Brief gedruckt war, wurde verboten. Man glaubte damals, namentlich Freiligrath sprach dies in einem Gedichte aus, Herwegh habe damit der guten Sache geschadet, er habe voreilig die jungen Blüthen und Triebe am Baume der Freiheit geknickt, aber wer hatte denn vorher am Berliner Hofe ernstlich an Freiheit und Fortschritt gedacht? Richtiger traf es der Spötter Heine, der in seinem Wintermährchen Herwegh als durchgefallenen Marquis Posa verhöhnte und ihn an den Moment erinnerte: »da er vor König Philipp stand, mit seinen uckermärk'schen Granden!«

Auch die Opposition der verschiedenen Provinziallandtage, die 1843 endlich zusammenberufen wurden, doch nur getrennt[301] berathen durften und unter denen sich vorzugsweise die rheinischen Stände durch Freimuth auszeichneten, indem sie den Verlust der Schwurgerichte und ähnlicher Einrichtungen des bei ihnen zu Recht bestehenden Code Napoléon fürchteten und dem vorzubeugen suchten, wurde sehr übel am Hofe vermerkt. Politische Zweckessen ließ die Polizei verbieten, Anträge auf Preßfreiheit wurden von der Regierung abgelehnt; selbst die gemäßigten Männer, wenn sie sich einmal über die unerträglichen Uebergriffe der Censur beschwerten, wurden mitunter vom König persönlich heruntergekanzelt wie die Schulknaben. Das Eichhorn'sche System hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht; bis in die Familien hinein drang jetzt die jesuitische Ueberwachung mit Hülfe der Geistlichkeit. Protestantische und katholische Klöster sah man neu begründen und zuletzt bekam der König noch die Marotte, einen englischen Geburtsadel, wie er sich dort im Laufe von Jahrhunderten naturgemäß herangebildet hatte, zu improvisiren. Er schuf Herzöge, Burggrafen, Grafen und Barone und in deren Diplomen wurden bemerkt, daß ihr Adel erlösche, sobald sie eine Bürgerliche heiratheten. Die Kadettenhäuser blieben nur noch adeligen Junkern geöffnet und die höheren Militärstellen wurden wieder ausschließlich durch Adelige besetzt. Die Kluft war gerade schon groß genug zwischen Bürger und Militär, zwischen Bürger und Adel geworden – nun machte man sie geradezu unausfüllbar. Wie von Gott verlassen ging diese Regierung ihren Weg bergab, sie untergrub den Beamtenstand durch die unwürdigsten Gesetze gegen die Richter, sie drückte die Universitäten zu Gymnasien herab. Eichhorn bereiste die Hochschulen und sagte den Vertretern der Wissenschaft und Forschung die unglaublichsten Dinge ins Angesicht, als wie: »Mit der Kirche und dem Staate, wie sie sein können und dürfen, seien Redefreiheit und Oeffentlichkeit unverträglich!« und wieder bei einer[302] andern Gelegenheit äußerte er sich: »Es sei jetzt die Zeit gekommen, wo man den wahren Glauben mit den kräftigsten Mitteln aufrecht erhalten müsse!« – Den warnenden Finger der Zeit, der sich hie und da drohend erhob, beachtete man nicht, oder man sah darin nur einen Beweis mehr von der zu bekämpfenden Gottlosigkeit. –

Vom Erzgebirge her machten sich jetzt die ersten Zuckungen der großen socialen Frage geltend, in dem Nothruf der schlesischen Weber, die unter dreifacher Bedrückung litten, unter der Entwerthung der Handarbeit durch die Maschinen, unter der Härte ihrer Arbeitgeber und der Theuerung aller Lebensbedürfnisse. Es war eine jener Krisen, wie sie in industriellen Uebergangszeiten sich häufig einstellen, aber das Unrecht bestand darin, daß man den davon Betroffenen nicht zur rechten Zeit hülfreich und mildernd zur Seite trat, daß man sie mitleidslos und vollständig der Willkühr des Arbeitsgebers überließ, der die armen Menschen bis zum Aeußersten auspreßte. Was ihnen dann noch blieb für des Leibes Nothdurft, das schmälerte der Steuererheber; jeder Webstuhl, jede Spindel waren besteuert, aber wozu dieses Geld verwendet wurde, davon erfuhr der Arme nie das Mindeste und er fühlte nur, daß ihm der Staat nichts davon zurückgab, um seine trostlose Lage zu lindern. Halb verschmachtet, ohne neue Erwerbsquellen, lagen Tausende in ihren elenden Hütten und mehr als einmal holte der Hunger die Todesopfer hinweg. Es war ein grausiges Nacht- und Seitenstück zu dem ästhetischen Leben am Hofe, den Vorlesungen, den Ordensfesten und den feierlichen Gottesdiensten; kaum wagte es die Presse nur davon zu lispeln, aus Furcht vor der Polizei und Censur. Da fühlten Kunst und Poesie ein menschliches Erbarmen und sie scheuten sich nicht, den Schleier zu lüften und für die Armen zu sprechen in ihrer Weise. Freiligrath dichtete damals sein ergreifendes Gedicht: [303] Rübezahl, welches erzählt, wie das Kind des schlesischen Webers in seiner Todesangst den Riesen des Erzgebirges, den Hüter von dessen unterirdischen Schätzen anruft, um den Seinen Trost und Hülfe zu bringen, weil bei den Menschen kein Erbarmen mehr zu finden ist. – Zu dem Dichter gesellte sich der Maler und ernste Zuschauerkreise sammelten sich bei der rheinischen Kunstausstellung um das berühmt gewordene Bild von Hübner: die schlesischen Weber. Was der Stift des Censor's strich, das sagte hier der Pinsel des Malers ohne Scheu. Er schilderte den Jammer des Erzgebirges in dem resignirten Schmerz, den die abgezehrte Gestalt des Greises zeigt, in den Grimm, der die Faust des Mannes ballt, in der angstvollen Bitte und Klage, die aus den Blicken der Mutter und des jungen Mädchens spricht, die Alle ihre selbstgewobenen Leinwand-Päcke in das Haus des reichen Kaufherrn gebracht und der nun verächtlich die Waare prüft, sie annimmt oder zurückweist, die Ellenzahl verkleinert und endlich den Armen übermüthig ein Sündengeld zuwirft.

Ueber ganz Deutschland ist dieses Bild gewandert und hat überall die gleichen Gefühle der Sympathie wie des grimmen Schmerzes hervorgerufen, doch ohne Nutzen für den Augenblick. – Unruhen in Schlesien und Böhmen, die in Folge der unerträglichen Zustände eintraten, wurden mit Waffengewalt niedergeworfen und der König dadurch nur noch mehr in seinem reactionären Wahne bestärkt. Ihn dann vollends jeder Nachgiebigkeit unzugänglich zu machen, erfolgte am 26. Juli das Attentat des Bürgermeister Tschech auf Friedrich Wilhelm. Es war eine rein persönliche Sache; Tschech glaubte sich von dem Ministerium persönlich zurückgesetzt und wollte sich dafür an dem König, dem verantwortlichen Staatsoberhaupte, rächen. Er feuerte in dem Augenblicke, da das königliche Paar an ihm vorüberfuhr, eine Doppelpistole auf den Fürsten ab; die erste Kugel drang in[304] den Mantel des Königs ein, verursachte ihm aber nur eine leichte Quetschung, die zweite schlug über dem Kopfe der Königin in die Holzwand. Der König wollte Tschech begnadigen, wenn er um Gnade bitte, allein er wies dies Ansinnen zurück und starb mit kalter Entschlossenheit. Man bemühte sich natürlich, dieses Ereigniß mit den schlesischen Unruhen in einen Zusammenhang zu bringen und Beides als Vorläufer des Kommunismus und des Königsmordes zu betrachten, doch hatten sie nicht das Mindeste mit einander gemein. Das französische Gespenst, der Kommunismus, begann nun allerdings sich auch bei uns in seiner kindlichsten und unverstandensten Form zu zeigen und fand leider in den bedrückten Fabrikbezirken und bei der steigenden Lebensnoth einen günstigen Boden. Fehljahre, Geschäftsstockungen, Ueberschwemmungen boten einander die Hand und machten sich doppelt fühlbar unter der Unzulänglichkeit der Verkehrswege, der daraus entspringenden Handelsstörungen, wie überhaupt der ganzen Verwaltung. Es konnte sich ja unter der schauderhaften Bevormundung nirgendwo etwas frei und ungehindert entfalten, und so stiegen immer schwärzere Wetterwolken am Himmel der Zukunft auf. In Preußen fing man jetzt an sich ganz hermetisch abzuschließen; Itzstein und Hecker, die badischen Abgeordneten, die in Berlin einen Freund besuchten, wurden als staatsgefährlich ausgewiesen, die Bürgergesellschaft, in der man sich über allgemeine Dinge unterhielt, aufgelöst. – Aber unverdrossen schrieb Jacoby sein Mene Mene-Tekel an die Wand des Belsazar, in Flugblättern und Schriften, die überall mit Begierde gelesen, ein tausendfaches Echo fanden und zugleich traten auf dem kirchlichen Gebiete gewappnete Geisteskämpen auf, die wie Spinnwebe die Eichhorn'schen Schleier, die er aus der Rumpelkammer des Mittelalters heraufgeholt, zerrissen – es waren David Strauß, Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer.[305]

Quelle:
Luise Büchner: Deutsche Geschichte von 1815 bis 1870. Leipzig 1875, S. 279-306.
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