Dritte Vorlesung

[43] Zweite Restauration der Bourbonen. Napoleon nach St. Helena. Zweiter Frieden von Paris. Bildung der heiligen Allianz


Es gab, bis zu der Zeit von 1870 und 71, wenige Episoden in der Geschichte, in denen die Ereignisse einander mit solch wunderbarer Schnelligkeit folgten, als die hundert Tage der zweiten Napoleonischen Herrschaft. Noch reicher jedoch ist diese Geschichte der hundert Tage an Treubruch, Verrath, Gesinnungslosigkeit, Heuchelei und Feigheit, wie auch von nutzlos verpufftem Enthusiasmus, ja, wollte man einen Gradmesser aufstellen für die ganze Tiefe der sittlichen Zerrüttung, die damals in Frankreich Platz gegriffen hatte, so würden diese cent jours wohl den besten Maßstab dafür abgeben. Nicht minder ließen sich ganze Bände anfüllen mit der Aufzählung aller der Ränke, Intriguen, der kleinen persönlichen Rache, wie des jähen Abfalls, welche diese kurze Spanne Zeit gesehen und erlebt hat. Wir haben bereits gehört, wie sich Napoleon in den Maschen seines eignen despotischen Gewebes, mit dem er Frankreich umschnürt gehalten, gefangen hatte; wie Niemand mehr an sein aufrichtiges constitutionelles Regiment glaubte, und wie er, um nur die öffentliche Meinung von dieser Aufrichtigkeit zu überzeugen, jetzt alle Angriffe der Kammern, der Presse, der öffentlichen Stimmen, mußte ruhig über sich ergehen lassen, in einem Augenblicke, da nur eine neue Dictatur ihn hätte halten und retten können. Der unterhöhlte Boden, auf dem er stand,[43] ertrug keine parlamentarischen Angriffe, und Frankreich besaß in diesem Augenblick wieder eine Kammer, eine Volksvertretung, indem Ludwig XVIII. dem entschiedenen Willen Kaiser Alexander's sich fügend, ein constitutionelles Königreich angenommen und sich einer »Charte«, wie man diese bourbonische Constitution nannte, unterworfen hatte. Mit welchem Widerstreben dies geschah, ergab sich schon genügend aus der Schlußformel dieser Charte, welche lautete: »gewährt, zugestanden und bewilligt«. Man schloß damit von vorn herein die Anerkennung einer freien Vereinbarung zwischen Fürst und Volk aus; die Charte war kein Vertrag, welcher die Herrschaft zwischen Beiden theilte, sondern ein königliches Geschenk der Gnade, welches eben so wieder konnte zurückgenommen werden, wie es »freiwillig« gegeben war. – In der That hatte man während der kurzen Regierungszeit Ludwig's von dieser Verfassung schon wieder vielmöglichst reducirt; dem Kaiser Napoleon aber blieb, nach seinem raschen Siege, nun keine andere Wahl, als diese Charte, um keine Zeit zu verlieren, bestehen zu lassen und dieselbe wurde einfach nur durch eine Zusatz-Acte bereichert, welche die bourbonischen Mängel derselben möglichst ausgleichen sollte. – Die französische Kammer aber, die jetzt in diesem Augenblick zusammentrat, glaubte nach einer so langen Unterbrechung des verfassungsmäßigen Lebens nun wieder einmal die Macht in Händen zu haben, glaubte nun endlich einen Theil der großen Errungenschaften der Revolution von 1789 zu befestigen, und Frankreich gleichzeitig von Napoleon, wie von der älteren Linie der Bourbonen befreien zu können.

Die feige Flucht Ludwig's, die in der übereiltesten Weise vor sich ging, brachte diesen König, der es nicht einmal wagte, die ihm »von Gott verliehene Krone« mannhaft zu vertheidigen, sowie seine nächsten Anhänger, welche mit ihm flohen, um den letzten Rest von Ansehen, und in Folge dessen konnten[44] jetzt die Anhänger der jüngeren bourbonischen Linie, die Parthei der Orleans, in den Vordergrund treten, mit der Hoffnung die Ereignisse nach ihrem Sinne zu beherrschen. Diese Parthei sah sich vorzugsweise repräsentirt durch jenen Mann, welcher bereits in der Revolution von 1789 eine so glänzende und verhängnißvolle Rolle gespielt, welcher so Vieles verdorben und verschlimmert hatte, durch seinen Mangel an politischer Einsicht und Klarheit – ich meine den berühmten Lafayette. Unter dem Consulat und Kaiserreich, alle Ehren desselben von sich ablehnend, lebte er auf seinem Landsitze als einfacher Privatmann, hatte aber nun die Wahl eines Deputirten angenommen. – Schon 1791 war sein Throncandidat der älteste Sohn des Herzogs Ludwig Philipp von Orleans, des bekannten »Philipp Egalité«, gewesen. Dieser junge Mann, Louis Philipp, hatte sich in den Jahren von Napoleon's Herrschaft, gegenüber dem faulen Emigrantenanhang der Grafen von Artois und Provence vortheilhaft ausgezeichnet, indem er das arbeitsame Leben eines einfachen Privatmannes führte und während längerer Zeit durch Stundengeben seinen Lebensunterhalt erwarb. – Während seine Anhänger und Freunde es früher sorgsam vermieden hatten ihn zu nennen, schien jetzt plötzlich seine Stunde gekommen zu sein, als unter dem Eindruck der Niederlage von Waterloo die Kammer zusammentrat und auf Antrag Lafayette's sich in Permanenz erklärte. – Sobald Napoleon sich einigermaßen ermannt hatte, war er von Waterloo nach Paris geeilt, um sich wenigstens dort die Staatsgewalt zu erhalten. Seinem Bruder Joseph, der jetzt treu bei ihm aushielt, trotzdem seine Klagen und Warnungen so oft ungehört hatten verhallen müssen, schrieb er: »Noch habe ich 150,000 Mann, ebensoviel an Freiwilligen und Nationalgarden; ich bewaffne sie mit den Gewehren der Royalisten, zur Bespannung der Geschütze nehme ich die Luxuspferde – nur Muth und Festigkeit!«[45] Zu spät! Selbst Napoleon's treueste Anhänger wünschten, er sei nicht nach Paris zurückgekommen. Schon wurde das verhängnißvolle Wort: Abdankung! wieder laut und frei in dem Ministerrathe des Kaisers auf Lafayette's Betreiben ausgesprochen, und sogar die Absetzung des Kaisers war in Aussicht genommen, wenn seine Abdankung nicht freiwillig erfolgen solle. – Man ging noch weiter, man plante sogar eine Erklärung der Thronerledigung, um damit dem Herzog von Orleans um so sicherer den Weg zu demselben zu ebnen. Schon in der Sitzung vom 21. Juni 1815 hatte Lafayette die dreifarbige Fahne neu proclamirt; man sprach davon, ihn selbst wieder an die Spitze der Nationalgarde zu stellen, und ein Redner wagte bereits die Frage an die Minister zu richten: »Werdet Ihr jetzt die Nation von Napoleon trennen? Ich meines Orts erkläre, daß ich nur einen Mann zwischen uns und dem Frieden sehe!« So hofften Alle in Napoleon's Abdankung das Mittel zu finden, den Feind aufzuhalten, den Frieden unmittelbar wieder herzustellen, und die Herrschaft einer neu zu wählenden Regierung vorzubehalten. – Unter diesen Verhältnissen blieb Napoleon kein Ausweg, als ein zweites Mal freiwillig zu Gunsten seines Sohnes und einer Regentschaft zu entsagen. Aber anstatt eine solche einzusetzen, wählten die Kammern eine provisorische Regierung, die mit den fremden Mächten unterhandeln sollte, und die Bonapartisten waren durch diesen Streich vollkommen beseitigt. – In eigenthümlicher Verblendung nährten Lafayette und sein Schützling nun die Idee, die Verbündeten würden sich nach ihrem zweiten Siege nicht weniger gefällig finden lassen, als das erste Mal. Weil sie damals nichts gegen die Wiederherstellung der Bourbonen unternommen, dieselbe gewähren ließen, und am Ende auch annehmen und glauben durften, daß Frankreichs Wille es sei, der dieselben wieder zum Throne berief, glaubte Lafayette die Großmächte[46] würden jetzt ebenso schnell die Linie der jüngeren Bourbonen als die demnächstigen Herrscher Frankreichs anerkennen.

Es lag doch wohl auf der Hand, daß es in diesem Augenblick für die auswärtigen Mächte in Frankreich nur eine legitime Macht gab, die der älteren Bourbonen, mit denen sie den Pariser Frieden abgeschlossen hatten und deren Bevollmächtigter, Talleyrand, sich noch in Wien auf dem Congresse befand. Während nun Lafayette umherirrend nach den Verbündeten suchte, um seine Orleans anzubringen, und die Ersteren endlich in Hagenau im Elsaß fand, ließ ihn Kaiser Alexander nicht einmal vor sich, und der in seinen Illusionen begriffne Mann mußte bald erfahren, wie ein Schlauerer als er die richtige Sachlage längst begriffen und für die entflohenen Bourbonen gehandelt hatte. So kehrten sie nun dieses zweite Mal, in der That unter dem Waffenschutz der Verbündeten auf den wankenden Thron zurück, und ihr helfender Genius war Fouché, Napoleon's allmächtiger, gefürchteter und berüchtigter Polizeiminister. Durch ihn wurden jetzt die Unterhandlungen geführt, und er zeigte sich in jeder Beziehung als das würdige Seitenstück Talleyrand's, mit dem er vollständig die Gewohnheit theilte, gleich den Ratten jedes sinkende Schiff zuerst zu verlassen. Schreckensmann unter der Revolution, zu den régicides oder Königsmördern gehörend, machte er sich später unentbehrlich durch ein Polizeitalent, eine Gabe das Verschwiegenste und Verborgenste zu entdecken und zu enthüllen, daß sein Name dafür fast typisch geworden ist. Vor und während der hundert Tage nun sehen wir ihn jede Maske annehmen, die zu seinen Zwecken paßt. Zuerst von den Bourbonen zurückgewiesen, wird er heimlicher Orleanist; als Napoleon wiederkehrt, drängt er sich neuerdings an diesen, dann, die Katastrophe voraussehend, unterhandelt er schon vor Waterloo mit Wellington, der diesesmal hauptsächlich die Sache der Bourbonen führte. Fast[47] gleichzeitig setzte er die provisorische Regierung durch, gab ihre Erlasse im Namen des französischen Volks, was die Republikaner entzückte, schickte Lafayette in's Lager der Verbündeten, und gewann unterdessen Zeit, mit Davoust, der die Armee befehligte, für die Bourbonen zu unterhandeln. Nun konnte das Schauspiel beginnen. – Blücher's und Wellington's Marsch war inzwischen nicht aufzuhalten gewesen; Paris verschanzte sich und bereitete sich diesesmal ernstlich zum Widerstande vor, als bereits 11 Tage nach Waterloo sich die deutschen Truppen der Stadt näherten, wo Davoust mit seinem Heere stand, und jetzt ein schlimmeres Beispiel des Abfalls gab, als es ein Jahr vor ihm Marmont gethan. Fähig zum Widerstand, versuchte er denselben nicht einmal und schon am 6. Juli übergab die provisorische Regierung die Stadt an die Sieger. Am 7. rückten Blücher und Wellington ein, und diesesmal war es kein feierlicher, sondern ein militärischer Einzug; es wurden Kanonen in den Straßen aufgepflanzt, Bivouacs für die Truppen im Freien hergerichtet und die Stadt Paris hatte großartige Verpflegungskosten zu übernehmen. Den Truppen auf dem Fuße folgte wieder der entflohene Ludwig XVIII. und zwar auf eifriges Betreiben Wellington's, welcher wollte, daß er wieder in den Tuilerien installirt sei, wann die Fürsten ankommen würden. Nicht weniger eifrig betrieb der Herzog Talleyrand's und Fouché's Ernennung zu Ministern und Ludwig XVIII. mußte es über sich gewinnen den »régicide« in feierlicher Audienz bei sich zu empfangen und in seinem Amte zu bestätigen. Es war in St. Denis, wo Talleyrand ihn bei dem Könige einführte, sich – Talleyrand hinkte bekanntlich – dabei auf Fouché's Arm stützend, und ein Augenzeuge, Chateaubriand, erzählte dies mit den Worten:

»So erschien das Laster gestützt von dem Verbrecher!«

Am 3. Juli hob dann Fouché die permanenten Kammern[48] auf, indem er ihr Sitzungslokal in der Nacht schließen ließ und Lafayette kam eben noch recht, diesen Act mitzuerleben. Von Fouché aber rühmten die bourbonischen Blätter, er habe die Monarchie gerettet und führe den König zurück. – Der aber, den er verrathen, Napoleon, saß unterdessen in Malmaison, in dem Hause der Frau, die ihn über Alles geliebt, die er seinem Ehrgeize geopfert, und die seinen Sturz nicht überlebt hatte. Als der Feind sich Paris näherte, bot er sich als einfacher General zur Vertheidigung an, wurde jedoch nicht angenommen und brachte nun die langen Stunden dahin, Pläne schmiedend, Beschlüsse fassend und doch ohne Muth und Entschlossenheit zu irgend einer entscheidenden Handlung. Ausliefern wollten ihn die Franzosen nicht; er konnte sich auf amerikanische Schiffe begeben, die seiner harrten, aber er hoffte noch von Minute zu Minute auf eine Volkserhebung, auf den Ruf seines Heeres, auf irgend etwas Unvorhergesehenes, bis es auch damit zu spät war. Endlich zur Abreise gedrängt, begab er sich am 29. Juli nach Rochefort; dort verlegte ihm eine englische Flotte den Weg, und nun begab er sich an Bord des Bellerophon, indem er den Prinz-Regenten um Englands Gastfreundschaft ersuchen ließ, seine letzte Hoffnung auf Englands Großmuth, das er zu vernichten geschworen hatte, setzend. Die Antwort war: St. Helena! So versagte die Wirklichkeit seinem Leben jenen Schluß, welchen die Kunst von einem wahrhaften Helden verlangen müßte: Mit seiner Sache entweder zu siegen oder zu fallen! – Dafür aber fehlte Napoleon die ächte, die sittliche Größe! Er hatte nicht den Muth sich in das eigne Schwert zu stürzen, wie es die alten Römer gethan, wenn Alles zu Ende ging, denn bis zum letzten Moment überwog der Intriguant den Helden in ihm, und wie in Malmaison, so hoffte er auch jetzt noch auf St. Helena bis zuletzt auf einen Umschlag seines Glückes, auf eine Chance, die ihn wieder obenauf[49] bringen möchte. – Immerhin bleibt diese Gestalt des auf einen Felsen geschmiedeten Imperators eine der tragischsten Erscheinungen innerhalb der Geschichte aller Zeiten, und legt sprechendes Zeugniß ab für Schiller's Worte, daß die Weltgeschichte auch ein Weltgericht ist.

Fügen wir dem Gesagten nun noch kurz hinzu, wie sich nun gleich schon in den folgenden Monaten eine furchtbare royalistische Reaction in Frankreich geltend machte, und wie die Freunde und Anhänger Na poleon's auf's Grausamste verfolgt, proscribirt und hingerichtet wurden. – Wir erinnern nur an die Erschießung von Ney und an das Geschick von Labédoyère, während Graf Lavalette nur durch den Opfermuth seiner Gattin vom Tode gerettet wurde. Zu allen diesen Verfolgungen war Fouché wieder das geschmeidige Werkzeug, bis man auch seiner überdrüssig wurde, und ihn nicht mehr brauchte. Von aller Welt verachtet, wurde er nach einigen Monaten als Gesandter nach Dresden geschickt und von da aus seinem Dienst nicht allein sogleich wieder entlassen, sondern auch aus Frankreich verwiesen, worauf er einsam in der Verbannung starb.

Eine gerechtere Rechnung aber hatte nun Deutschland und namentlich Preußen mit Frankreich abzumachen, und diesesmal ließ Blücher sich nicht beirren. Schon einige Tage nach Waterloo schrieb er dem König: »Ich bitte nur allerunterthänigst die »Deplomatiker« dahin anzuweisen, daß sie nicht wieder das verlieren, was der Soldat mit seinem Blute gewonnen hat. Dieser Augenblick ist der letzte und einzige, um Deutschland gegen Frankreich zu sichern. Eure Majestät werden als Gründer von Deutschlands Sicherheit verehrt werden, und auch wir werden die Frucht unserer Anstrengungen genießen, wenn wir nicht mehr nöthig haben mit immer gezücktem Schwerte dazustehen.« – Aber er wartete vorerst keine Antwort ab, sondern griff selbst tapfer zu, legte Paris[50] eine Contribution von 100,000 Frcs. auf und verlangte ungesäumte Rückgabe aller Kunstschätze, die Napoleon in Preußen und Deutschland zusammengeraubt, wie trotzig auch die kaum eingesetzte Regierung dagegen aufbegehrte. Selbst verständige Franzosen, die nie zu Napoleon's Parthei gehörten, glaubten, es geschehe ihnen damit ein großes Unrecht, wie der hübsche Vorfall zwischen dem bekannten französischen Schriftsteller Benjamin Constant und der geistvollen Frau von Rehberg, einer Tochter des berühmten Juristen Höpfner, beweist. Beide geriethen während eines Aufenthaltes Constant's in Deutschland in Streit über diesen Punkt und der Franzose sagte zu seiner Nachbarin, die natürlich die Rücknahme der geraubten Kunstschätze vertheidigte: »Madame ist ohne Zweifel die Tochter eines Generals!« »Nein,« war die feine Antwort: »Die Tochter eines Rechtsgelehrten.«

Vater Blücher hatte aber leider, ohne es zu wissen, den Haupt-Diplomatiker diesesmal im eignen Lager, dies war Lord Wellington, der ebenso groß und gewandt als Staatsmann, wie als Feldherr, sich schnell zum Herrn der ganzen Lage machte. Wie er rasch in die Ereignisse eingegriffen und die Bourbonen zurückgeführt hatte, so bereitete er nun auch die Friedensbedingungen vor. Wohl selten bietet sich in der Geschichte so rasch eine Gelegenheit dar, begangene Fehler wieder gut zu machen, als dies nun bei Abschluß des zweiten Pariser Friedens der Fall gewesen, wo man so leicht die Mängel des ersten, hinsichtlich Deutschlands verbessern konnte. Selbst in England zweifelte man bei dem Wiederausbruch des Krieges gar nicht daran, daß nun Deutschland ganz anders entschädigt zu werden verdiene, daß man ihm Elsaß und Lothringen zurückgeben und eine Gränze schaffen müsse, welche neue Einfälle der Franzosen weniger möglich und gefährlich mache. Die deutschen Staatsmänner, selbst Metternich, und auch deutsche Fürsten, namentlich die von Baiern und Württemberg,[51] erklärten sich mit dieser Ansicht vollständig einverstanden, als man sich im Juni 1815 zu Heidelberg im Hauptquartier zusammenfand. Aber die nun maßgebenden Personen, Wellington und Kaiser Alexander, dachten anders darüber. Ersterer bezweckte jetzt, nachdem er sich den Bourbonen so gefällig erwiesen, eine dauernde Einwirkung Englands auf die französische Politik zu begründen, und Alexander, obgleich er persönlich Talleyrand und die Bourbonen haßte und verachtete, brütete zu jener Zeit über neuen phantastischen Plänen, die ihm viel näher am Herzen lagen, als Deutschlands Wohl. Der eine dieser Pläne, über den wir bald Näheres hören werden, war die Gründung der heiligen Allianz, der zweite gipfelte in der Idee, den christlichen Orient, namentlich aber die Griechen, von dem Joche der Türken zu befreien, sowie den Islam über den Bosporus zurückzuwerfen, ein Gedanke, der vornehmlich durch seinen Vertrauten, den Griechen Kapodistria, in ihm geweckt und unterhalten wurde. Dazu bedurfte er jedoch eines starken und willfährigen Frankreich, welches England das Gleichgewicht zu halten vermochte – folglich war auch seinerseits Schonung dieses Landes geboten. Als letzter Hintergedanke leitete aber England ganz ebenso wie Rußland das gleiche Intrresse – man mochte in jedem Fall lieber ein mächtiges Frankreich, als ein starkes, in sich geeinigtes Deutschland in Europa sehen. Leider hatten die deutschen Staatslenker gleich bei Beginn des Kampfes es wiederholt vergessen ihre Bedingungen zu stellen, und jetzt zogen schon die Diplomaten gen Paris heran, ihre Federn und Ränke in Bewegung zu setzen. – Für Preußen unterhandelten Fürst Hardenberg, Wilhelm v. Humboldt und Gneisenau; für Oestreich: Metternich, Wessenberg und Schwarzenberg; für England: Castlereagh, Wellington und Stuart; für Rußland: Nesselrode, Pozzo di Borgo und Kapodistria.[52] Daß die Franzosen ihrerseits nichts versäumten, die günstige Stimmung der Fremden für sich zu nähren, ist begreiflich und bald trat es zu Tage, wie man ihnen durchaus nicht mehr auferlegen wollte, als eine Kriegsschatzung und eine zeitweilige Besetzung des Landes. Wieder stand Deutschland vollkommen isolirt, als es nun seine alten Provinzen sowie die äußerste der drei französischen Festungsreihen im Nordwesten verlangte. – Preußen, dahin hatte man sich untereinander zuvor geeinigt, sollte davon in der westlichen Ecke Luxemburg erhalten; Elsaß und Lothringen entweder dem Kronprinzen von Württemberg, oder dem Erzherzog Karl von Oestreich, möglicherweise auch an Baiern gegeben werden. Auf's redlichste bemühten sich die genannten deutschen Staatsmänner und mit ihnen die deutschen Feldherren, das geraubte Gut an Deutschland zurückzubringen, vor Allen thätig waren dafür Gneisenau, Humboldt und Stein; der Letztere war dem Hauptquartiere nach Paris gefolgt, und wacker stand ihm zur Seite der Freiherr von Gagern, damals Bevollmächtigter des Prinzen von Oranien. Aber »als Habsucht und Armuth« Oestreichs und Preußens bezeichnete die Gegenparthei ihre patriotischen Bemühungen, und ohne Eindruck blieben die trefflichsten Denkschriften und Auseinandersetzungen über die Nothwendigkeit einer gesicherten Gränze. »Es ist klar, diese Russen wollen, daß wir verwundbar bleiben«, so klagt Stein gegen Gagern mit vollstem Rechte. Man hat in der späteren Zeit oft bittere Klage darüber geführt, daß der zweite Pariser Friede die genannten Forderungen nicht erfüllt habe, daß damals Deutschland schlecht berathen gewesen. Aber es war nicht das Verschulden dieser braven, deutschen Männer, die in ohnmächtigem Schmerz gegen Verhältnisse ankämpften, die sie um so weniger bewältigen konnten, als Franz von Oestreich und Friedrich Wilhelm von Preußen ja keine Ahnung von dem hatten, was sie ihrer[53] Nation und ihren Völkern schuldig waren. Noch lange wird diese Versäumniß zu beklagen sein, denn damals wären die getrennten Provinzen froher und freudiger zu uns zurückgekehrt, als jetzt, nachdem noch einmal eine so lange Zeit darüber hingegangen. – Unter dem Einfluß unbefriedigter Stimmungen rückte das Friedenswerk nur langsam vorwärts, während die Herrscher sich an militärischen Schauspielen ergötzten. In den Ebenen der Champagne hielt Kaiser Alexander eine Musterung seiner Truppen ab, und bei Dijon paradirten die Oestreicher vor ihrem Kaiser. – Frankreich empfand diesesmal die Lasten des Krieges auch seinerseits, denn fast eine Million fremder Truppen bedeckte das Land zu zwei Dritteln und mußte von ihm erhalten werden. Als nun der Friede immer noch nicht zu Stande kommen wollte, erklärte Oestreich, es werde nach Hause ziehen; Unzufriedenheit und Zwietracht machten sich auch im deutschen Lager geltend. Bald stand Preußen wieder ganz allein, und so wurde dann endlich am 20. November 1815 der zweite Pariser Frieden definitiv abgeschlossen, welcher Frankreich statt der Gränze von 1798, die von 1790 überließ, also fast alle Eroberungen, welche die siegreiche Republik am Rheine gemacht. Deutschland erhielt nichts zurück, als Landau und das Land bis zur Lauter; ein Stück des früheren Bisthums Lüttich fiel an die Niederlande. Die Gränze, die ich hier andeute, ist nun genau dieselbe, wie wir sie bis zum Jahre 1871 im Westen gekannt haben. Weiter wurde die Festung Hüningen, in der Nähe von Basel, geschleift, was die Franzosen ganz besonders übel nahmen, und Mainz, Landau und Luxemburg zu Bundesfestungen erklärt; man glaubte, oder gab vor zu glauben, daß durch diese Maßregel die deutsche Westgränze vollkommen gesichert sei. –

Von außerdeutschen Ländern fiel ganz Savoyen an Sardinien zurück. Die Kriegskosten, welche zuerst auf 800 Millionen[54] festgestellt waren, wurden auf 700 Millionen ermäßigt, und bis zu dereren Auszahlung sollte ein Besatzungsheer 5 Jahre in Frankreich verbleiben, eine Bestimmung, die später gleichfalls bis auf 3 Jahre reducirt wurde. – In den übrigen Punkten blieben die schon ratificirt gewesenen Beschlüsse des ersten Pariser Friedens bestehen. Darnach erhielt Rußland, sowie es gewünscht, das Großherzogthum Warschau und Alexander den Titel: König von Polen. Baiern wurde für den Verlust von Salzburg durch einen Theil der Rheinpfalz entschädigt; Schweden behielt Norwegen, und Dänemark hielt man schadlos durch deutsche Lande, durch Lauenburg und durch die Oberhoheit über die Herzogthümer Schleswig-Holstein. So blieb es im Norden nach wie vor, wie seit den Tagen des dreißigjährigen Krieges, wo stets der Fremde den Fuß auf deutschem Boden behielt. – Der preußische Staat verblieb gleichfalls in seiner früheren zerrissenen Lage, damit er nicht zu sehr erstarke, und doch war dies ein Glück für seine und Deutschlands Zukunft. Einen Theil seiner slavischen Besitzungen verlierend, wurde Preußen nun ein fast rein – deutscher Staat, der sich, wenn auch mit Unterbrechungen, von der Memel bis an den Rhein erstreckte. Wie glanzvoll dagegen stand Oestreich da; es hatte freilich Belgien und einen Theil Galiziens drangeben müssen, aber in welchen Farben glänzt doch noch das Bild, welches eine russische Denkschrift im November 1814 von seiner damaligen Lage entwarf: »Oestreich wird seinen Scepter und seinen Einfluß über die schönste Hälfte Deutschlands erstrecken, welches mit den Trümmern seiner alten Einrichtungen bedeckt ist. Es ist von der Last befreit, welche ihm eine dürre Oberherrschaft auferlegte. Es besitzt die schönen Landschaften Italiens (die Lombardei und Venedig) und vereinigt damit die illyrischen Provinzen, die es zum Herrscher des adriatischen Meeres machen und seinen[55] Einfluß in der europäischen Türkei sichern. Durch seine Stellung in Italien sieht es sich im Stande den Königreichen Neapel und Sardinien das Gesetz zu geben, mächtig auf die Schweiz zu wirken und gegen Frankreich die Schranke der Alpen zu behaupten!« – Diese Apotheose zu vollenden sammelten sich bald die kleinen und mittelgroßen deutschen Fürsten unter seinem Paniere und der Kaiserstaat bedurfte zu seiner Selbstherrlichkeit und um in Deutschland allmächtig zu sein, jetzt nur noch jenes Bundes, welchen Kaiser Alexander, ehe er Frankreich verließ, zwischen den befreundeten Mächten knüpfte. –

Mit Absicht habe ich Ihnen dieses bunt zusammengesetzte Bild des östreichischen Kaiserstaates entrollt – denn bildet es nicht zugleich die glänzendste Illustration zu der unverständigen und schwere Noth der Zukunft verheißenden Weise, mit der man auf dem Wiener Congresse die Länder und Völker vertheilt und durcheinander gewürfelt hatte? So wie dort Slaven, Romanen und Deutsche in einen Topf geworfen wurden, verband man in den Niederlanden französisches und deutsches, bigott katholisches und nüchtern protestantisches Wesen; zu Dänemark fügt man die wichtigen deutschen Ostseeprovinzen; zu Neapel, wo die verhaßte bourbonische Königsfamilie neu eingesetzt wurde, zwingt man das widerstrebende Sicilien, und das unglückliche Polen seufzte auf's Neue unter Rußlands Herrschaft – mit einem Worte, der Tag konnte nicht ausbleiben und wir haben ihn erlebt, wo das empörte Nationalitätsgefühl sich geltend machte, die Völker, die man nicht um ihren Willen befragt hatte, ihr Selbstbestimmungsrecht verlangen mußten. Es nutzte nichts, daß man jetzt diese mangelhaften menschlichen Einrichtungen durch die Satzungen der heiligen Allianz unter den directen Schutz des Himmels zu stellen suchte. –[56]

Das Falsche und Ungerechte derselben wurde dadurch nur noch schwerer und drückender empfunden. –

Der Plan zu dieser heiligen Allianz war wie schon erwähnt in dem phantastischen Kopfe Kaiser Alexander's entstanden, des Mannes, der ein beherzigenswerthes Beispiel dafür liefert, wie ein Idealist und Schwärmer, wenn ihm die reelle Grundlage eines festen und tüchtigen Charakters, eines klaren Kopfes fehlt, stets mehr Unheil und Verderben als Gutes stiftet, mag auch sein Wollen und Wünschen das Beste sein. – Schön, liebenswürdig, von leicht erregbarem Geiste, sah Katharina II. in diesem Enkelsohne den Fortbildner ihrer Plane, gegenüber ihrem eignen Sohne Paul, der den russischen Typus des Halbbarbaren wieder an sich tragend, dazu wenig geeignet erschien. – Alexander sollte, wie seine Großmutter, fortherrschen im Sinne des aufgeklärten Despotismus; der Russe sollte, halb mit Gewalt, eingereiht werden in die Gesellschaft der civilisirten Nationen – zur Ausführung dieser Pläne jedoch bedurfte es anderer Herrschergaben, als sie Alexander besaß, dessen weiche Natur stets durch Andere geleitet und geführt wurde. Sein Lehrer Laharpe, den Katharina aus Genf für ihn hatte kommen lassen, erfüllte ihn mit Rousseau'schen Ideen, mit den Aufklärungs- und Humanitäts-Vorstellungen des 18. Jahrhunderts, doch seine frühe Heirath mit der Prinzessin Louise von Baden, sowie Zerstreuungen aller Art, zu denen sich die Freude an weltlichen Genüssen, die ihn bis an sein Lebensende beherrschte, gesellte, ließen einen rechten Ernst, ein consequentes Handeln niemals in ihm aufkommen. Sehr treffend nannte ihn ein Zeitgenosse eine Art Fénelon'schen Telemach, aber in diesem Telemach hatte sich nebenbei durch seine Stellung zwischen Vater und Großmutter eine recht tiefe Verschlagenheit und versteckte Klugheit ausgebildet, die Preußens Königspaar bei dem unglücklichen Friedensschlusse von Tilsit zur Genüge erfahren[57] mußte. Mit 23 Jahren über die Leiche seines gemordeten Vaters hinweg zum Throne berufen, versuchte und erstrebte Alexander für sein Von manches Gute und Fördernde, namentlich die Aufhebung der Leibeigenschaft, aber es fehlte ihm, wie immer, auch darin die Consequenz in der Durchführung. Doch gehört dies nicht hierher – wir haben uns für unsern Zweck nur die Stimmung des Czaaren nach seinem Bruche mit Napoleon um 1812, und während der Invasion der französischen Armee in Rußland zu vergegenwärtigen. Es war eine furchtbar schwere Zeit, die damals auf ihm lastete – die Noth und Verwüstung seines eignen Bodens, der Brand von Moskau, endlich die Entscheidung, ob er den Kampf im Namen Europa's aufnehmen solle oder nicht – dies Alles stürmte zugleich auf ihn ein. – Zu edlen Impulsen jederzeit fähig, sehen wir ihn dann gewissermaßen als den Befreier vom Napoleon'schen Joche unerschütterlich vorangehen; die große Rolle, die er dabei spielte, hob sein Selbstbewußtsein wieder mächtig empor. Wie er aber später die ritterliche Großmuth gegen die Franzosen zu weit trieb, sich damals den Beinamen des »Edlen« erringend, dies haben wir kaum erst gehört, wie wir auch heute genauer, als damals wissen, was alles im Hintergrunde dieser Großmuth schlief. – Das Jahr 1815 sah den Czaaren auf dem Gipfel seiner Macht; der Friedensstifter der ganzen Welt wollte er nun noch diesem Frieden, um ihn ganz zu befestigen, jene religiöse Weihe geben, von der er sich seit 1812 selbst ergriffen fühlte.

In den Tagen seiner Noth und Trübsal hatte er zu der Bibel gegriffen und in seinem grübelnden Geiste zwischen diesem Buche und seinem eignen Leben und Schicksal, eine Menge von Beziehungen gefunden. So schöpfte er schon damals aus den dunklen Capiteln des Buches Daniel die Ideen zur Bildung eines »heiligen Bundes« der europäischen[58] Monarchen. Der fromme Admiral Schischkow theilte seine Beschäftigung und setzte ihm eine ganze Darstellung der Kriegsbegebenheit aus Bibelstellen zusammen, bei deren Durchlesung sie mit andächtigem Herzen zusammen weinten. – Man sieht, es war nicht so sehr das Bedürfniß eines gottvertrauenden Gemüthes, welches zur Zeit der Noth in der Bibel Trost und Hülfe sucht, sondern ein religiöser Mysticismus, der sich des Kaisers in so hohem Grade bemächtigte und seine Gemüthsstimmung derart trübte, daß er sich mit thörichten Wahngebilden, als ob z.B. seine Nähe überall Unheil brächte, und dergleichen, herumschlug. Mitten im Kriegstumult bildete er in Petersburg eine Bibelgesellschaft, die sich bald über ganz Rußland ausbreitete. In dem Hauptcomité derselben befand sich ein Herr von Vietinghoff, ein Bruder jener bekannten Frau von Krüdener, die sich nun gerade in dem Augenblick an den Kaiser herandrängte, als Napoleon's Rückkehr aus Elba Alexandern auf's Neue in seine religiösen Schwärmereien stürzte. Frau von Krüdener, eine Kurländerin, gehörte zu jenen unruhigen, unbefriedigten Frauennaturen, die immer eine Rolle spielen, immer ein Aufsehen erregen müssen, und sich darum in jeder Attitude versuchen. Jung verheirathet, schon mit 14 Jahren, glänzte sie an den Höfen von Venedig und Kopenhagen, wie in Paris durch ihre theatralischen Künste, durch die damals so beliebten Shawltänze, wie die Darstellung lebender Bilder und phantastischer Kostüme. So verstand sie es immer, eine Schaar von Bewunderern um sich zu versammeln; die Leidenschaft, welche ein Gesandtschaftsattaché für sie faßte, gab ihr den Stoff zu einem Roman: Valérie, dessen Heldin sie natürlich selber war, und der seiner Zeit großes Aufsehen in der vornehmen Welt erregte. Nachdem sie alle Genüsse derselben durchgekostet, und ihre Ehe in Folge dessen getrennt worden war – ergab sie sich der Frömmigkeit wie dem[59] Mysticismus, und verband sich in Deutschland mit Jung Stilling und dessen Anhängern. Natürlich fehlte dabei die äußere Komödie nicht; Frau von Krüdener empfing ihre Besucher gewöhnlich in einem schwarz ausgeschlagenen Zimmer; auf einem Altare brannten auch bei Tage Kerzen neben einem Todtenkopf, der auf gekreuzten Beinen ruhte und sie selbst erschien in schwarzen, schleppenden Gewändern mit einem großen Kreuze geziert. Diese eitle und phantastische Persönlichkeit war es nun, die sich jetzt für eine Weile Kaiser Alexander's fast ganz bemächtigte und dessen religiöse Schwärmereien nährte; auch hat sie später selbst behauptet, daß sie ihm die erste Idee zu der Bildung der heiligen Allianz eingegeben, was jedoch als vollständig unwahr bewiesen ist. Sie verstand es nur, diesen Gedanken weiter in ihm zu entwickeln, nachdem sie sich dem Kaiser zuerst durch Briefe an eine andere Erleuchtete, die diese Alexandern mittheilte, und in denen sie dunkle Stellen späterhin so deutete, als habe sie damit die Rückkehr Napoleon's geweissagt, näherte. Als dies Ereigniß nun wirklich eintraf, welches überdem nicht schwer zu prophezeihen war, stellte sie sich Alexander persönlich in Heilbronn vor, folgte ihm dann in's Hauptquartier nach Heidelberg, wo er das Pickford'sche Haus zur Wohnung wählte, weil sich in dem Garten zufällig ein Kreuz befand, und später auch nach Paris. Schon nannte man den Kaiser in seiner Umgebung einen »Messianischen Dictator«, einen »Engel der Engel« und nun begrüßte ihn Frau von Krüdener sogar als den »weißen Friedensengel«, den »Erwählten des Herrn«, der im Norden das neue Jerusalem gründen sollte, wo nur ein Hirt und eine Heerde sein werde! –

Ein Hirt und eine Heerde – dies war in der That das rechte Wort, um den fürstlichen Absolutismus des 18. Jahrhunderts neu zu beleben, ihn nach den furchtbaren[60] Stürmen der französischen Revolution wieder in Scene zu setzen.

Was bei Alexander einer vorübergehenden Gefühlsschwärmerei entsprungen, wurde in der Hand kälterer Politiker eine neue Geißel zur Knechtung der Völker. Wie stimmte denn der Wortlaut der heiligen Allianz mit dem Vertrag von Kalisch überein, der den deutschen Ländern, namentlich Preußen, nach gewonnenem Siege Repräsentativverfassungen versprach, der ihnen zusagte, daß hinfort Volk und Fürst gemeinschaftlich auf Grund gegenseitig vereinbarter Gesetze das Wohl des Staates lenken sollten?

Am 26. September 1815 wurde nichtsdestoweniger im Namen der heiligen Dreieinigkeit zwischen Rußland, Oestreich und Preußen die heilige Allianz abgeschlossen. Sie bildete, wie sie es bezweckte, in der That den Anfang eines dauernden Friedens, aber auch zugleich einer vollständigen Unterdrückung des Volkswillens. Nach und nach traten auch Frankreich und England zu dem Bunde, aber die freisinnigen Institutionen des letzteren Staates ertrugen die Consequenzen desselben nicht lange, und so fiel England auch zuerst wieder davon ab.

Der eigentliche Zweck des neuen Systems war nun der, allen Ueberresten und noch bestehenden Einflüssen der französischen Revolution entgegenzutreten, sowie in Frankreich die Herrschaft der katholischen Religion wieder vollständig herzustellen. Die Religion sollte dort sowohl, wie in allen andern Staaten, die vornehmste Grundlage der ganzen Regierungsweise bilden, und so gaben »Angesichts der Welt« die drei Souveräne, Alexander, Franz und Friedrich Wilhelm, ihren Entschluß zu erkennen, daß sie bei fernerer Regierung ihrer Staaten und ihrem Verhalten gegen andere Völker, keine andere Richtschnur annehmen wollten, als die Gebote der christlichen Religion, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.[61] Sie selbst betrachteten sich als Brüder, als Landsleute und verbanden sich zu gegenseitiger Hülfe, zu Beistand und Unterstützung; ihren Völkern gegenüber sahen sie sich als Familienväter an, die ihre Kinder, d.h. Unterthanen leiten wollten, im Geiste der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit, des Wohlwollens, und wie alle diese schönen Tugenden heißen. – Damit war denn nun der beste Grund gelegt zu der später so wirksam angewendeten Lehre vom »beschränkten Unterthanenverstand«, sowie der »väterlichen Fürsorge«, die sich erdrückend auf jede freiere Geistesregung legte.

Wenn schöne Redensarten und Phrasen Nationen beglücken könnten, so müßte es der Wortlaut der heiligen Allianz gethan haben. Am Schlusse des Vertrags wurden alle Mächte, welche sich zu denselben Grundsätzen bekannten, eingeladen, dem Bunde beizutreten, und noch ehe die siegreichen Heere heimgekehrt waren, hörte man schon laut die Ansicht aussprechen: Gott habe die Welt befreit, nicht das Volk mit seinem Blut und seinem Schweiße! – So richtete die heilige Allianz den niedergeschlagenen Absolutismus wieder auf, um eine Zeit zu beherrschen, die ihm längst entwachsen war, doch ehe wir die Kämpfe betrachten, die sich nun nothwendigerweise entwickeln mußten, bleibt uns noch übrig die letzte Schöpfung des Wiener Congresses, die uns so nahe berührende deutsche Bundesacte näher kennen zu lernen, jenen unseligen Vertrag, welcher alle Verhandlungen über die politische Neugestaltung Deutschlands, alle patriotischen Wünsche, Pläne und Vorschläge, die dadurch hervorgerufen wurden, endgültig, und für eine lange Reihe von Jahren abschloß. In höchster Uebereilung und unter dem Eindruck der neuen Kriegsereignisse war endlich in Wien der neunte und schlechteste Entwurf, der von Metternich ausgegangen, angenommen, und am 10. Juni 1815 von den Betheiligten unterzeichnet und untersiegelt worden, mit dem[62] vollen und ausgesprochenen Bewußtsein, daß man nur ein sehr dürftiges, sehr unzureichendes Werk zu Stande gebracht habe, bei dem einzig die Hoffnung auf eine baldige Besserung desselben tröste. Dieses Werk aber sollte volle 50 Jahre bestehen bleiben und sich wie ein Alp auf jeglichen Anspruch lagern, den das deutsche Volk auf nationale Macht und Einheit, auf innere verfassungsmäßige Freiheit erheben mochte. –[63]

Quelle:
Luise Büchner: Deutsche Geschichte von 1815 bis 1870. Leipzig 1875, S. 43-64.
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