Achte Vorlesung

[167] Zustände und Bestrebungen in Frankreich. Die Julirevolution. Das Bürgerkönigthum


Wenn es sich jemals glänzend bewahrheiten sollte, daß der Geist eines Jahrhunderts sich durch äußere Mittel nicht bannen läßt, so war dies um 1830 der Fall. – Wir haben die Zuckungen und Bewegungen in ihrem Zusammenhange kennen gelernt, welche als die letzten Ausläufer der französischen Revolution und der Befreiungskämpfe gegen Napoleon, Europa durchbebten; dieselben Bewegungen auch in den entfernteren Welttheilen, namentlich in Amerika zu verfolgen und zu beobachten, wie die spanischen und portugiesischen Colonien sich von dem Mutterlande lostrennten, wie das reiche Mexiko, Peru und Brasilien sich als selbstständige Staaten constituirten – liegt außerhalb des Kreises unserer Betrachtungen. Wir haben nur daraus zu entnehmen, wie durch den gesteigerten Verkehr der Völker untereinander, den Handel, das Reisen, den Austausch der Literatur, und die immer mehr zur Geltung kommende Zeitungspresse, der Einfluß des einen Landes auf das Andere, des einen Welttheils auf den Andern, im beständigen Wachsen begriffen war, und wie mehr und mehr ein gemeinsames Interesse, gemeinsame Principien, und stellenweise auch ein gemeinsames Handeln der Nationen, sich dem östreichischen Stabilitätsprincip entgegensetzte. Dieses System erwies sich als viel härter und niederdrückender, als es einst der Absolutismus des[167] 18. Jahrhunderts gewesen; jener hatte ja auch seine guten Seiten gehabt, er brachte Fürsten hervor, groß und einsichtsvoll, die sich bemühten nach der Vorschrift des mächtigen Kardinal Richelieu zu regieren und den vollen Wortlaut seines Testamentes: »Nichts durch das Volk, aber Alles für das Volk«, auszuführen. Das Metternich'sche System aber, nur auf Mißbrauch und Gewalt gestützt – wohl sind Beide niemals absichtlicher benutzt und angewendet worden – dachte nicht an Menschenwohl und Menschenbeglückung bei dem unbeschränkten Einfluß, den es zu Ende der zwanziger Jahre über ganz Europa ausübte. Es gesellte sich im Gegentheil eine sinnlose Sophistik, eine offne Verachtung der Menschen, die größtentheils in einer gränzenlosen Unwissenheit der historischen Weltentwicklung wurzelte, dazu. Es mußte sich darum natürlich, trotz seines ungeheuren Druckes, die halbe Welt immer wieder und bei jedem Anlasse, gemeinschaftlich gegen dasselbe erheben. Auf Fürstenhülfe war dabei freilich nicht zu zählen; der junge Czar Nicolaus hatte bei seiner Thronbesteigung der Revolte in's Medusen-Antlitz geschaut, und wenn er ihr auch eine eherne Stirne gezeigt, so genügte ihm doch dieser eine Blick, sich vollständig an Oestreich anzuschließen. England, das unter dem trefflichen Canning einen kurzen Versuch gemacht hatte, sich auf die Seite der unterdrückten Freiheit zu stellen, war durch seine irländischen Aufstände, durch seine Kornrevolten für den Augenblick wieder selbst gefesselt, wieder auf den Pfaden gehend, welche es vordem Lord Castlereagh geführt, und auf die es der nicht minder stolze Tory, der Herzog von Wellington, zurückleitete. Es schien vorbei zu sein mit der Macht und Kraft des stolzen Insellandes; man sah es in Wien und Petersburg frohlockend mehr und mehr zu einer Macht zweiten Ranges herabsteigen, und was nun Frankreich betrifft, so befand es sich mehr als je unter der[168] Gewalt des Rückschritts. Graf Artois war 1824, als Karl X. seinem Bruder Ludwig auf den erledigten Königsthron gefolgt, und nun unaufhaltsam mit Hülfe der Jesuiten und entschlossener Minister, auf der abschüssigen Bahn weiter geschritten, die Jener schon eingeschlagen, um die Charte vollständig über den Haufen zu werfen. – Trotzdem blickten die Völker, und blickte namentlich Deutschland mit derselben sehnenden Hoffnung auf Frankreich und England, wie es vorher sehnsuchtsvoll auf Rußland und auf dessen Kaiser geschaut hatte. Die drei Völker des Westens wurden es immermehr inne, daß ihre freiheitlichen Interessen ganz eben so enge mit einander verbunden waren, wie dies bei den südeuropäischen Ländern der Fall war, und in Folge dessen sah man sich in Deutschland durch die konstitutionellen Kämpfe jenseits des Rheines, durch das dortige geistige Leben, in einer beständigen Spannung erhalten. – Was. in Frankreich, wo die regierende Parthei, nach der siegreichen Unterdrückung der spanischen Verfassung, wieder Alles für erlaubt und möglich hielt, doch mit der Zeit am Meisten verstimmte und erbitterte, dies waren die Uebergriffe des Klerus und die Wiederherstellung der Jesuiten, die sich nach und nach des ganzen Unterrichts zu bemächtigen suchten. Wir haben gehört, wie die Komödie der inneren Missionen auf einen Augenblick die Nation in einen bigotten Taumel versetzt hatte, aber bei einem so leichtlebigen und zur Satyre aufgelegten Volke, wie die Franzosen es sind, konnte er, unter den Gebildeten wenigstens, nicht lange Stand halten. Die bittersten Sarcasmen ergossen sich aus dem Munde der Dichter und Schriftsteller über die Bemühungen der Regierung, aus ganz Frankreich ein Bethaus machen zu wollen. »Gestern«, so rief der geistvolle Louis Courrier aus, dessen Feder allein eine Armee repräsentirte, »gestern, fragte man, ob wir Herrn der Welt sein würden, heute, ob wir Kapuziner werden[169] wollen? Wer hätte das bei Austerlitz voraus gesagt?«

Und nicht er allein, auch Andere, namentlich Béranger, der sonst Napoleon nicht liebte, deuteten zurück auf die noch so frische Zeit der französischen Glorie, die von dem Augenblicke in noch erhöhterem Glanze im Gedächtniß der Franzosen strahlte, da Napoleon durch seinen Tod auf St. Helena die Mitwelt wieder mit sich versöhnt hatte. Man sah jetzt nur noch das Licht, das er über Frankreich ausgegossen, nicht die Schatten, und ein Béranger verstand es meisterlich, die Riesengestalt des Kaisers, durch den Mund des Volkes, im Geiste des Volkes wieder aufzuwecken. Hier erzählt ein Invalide von den Zügen und Kämpfen, die er mit dem Kaiser durchgemacht, dort ist es eine alte Bäuerin, die den horchenden Enkeln beschreibt, wie er vor ihrer Hütte Halt gemacht, wie sie ihm ein Glas Milch gereicht, wobei die erstaunte Schaar in die Worte ausbricht: »Tu l'as vu, grand mère? Il t'a parlé, grand mère?« u.s.w.

Doppelt thöricht aber war das Beginnen der Regierenden, ihre Zeit auf den finstren Standpunkt vergangner Jahrhunderte in einem Augenblick zurückführen zu wollen, da sich gerade in Frankreich auf allen Gebieten des Wissens die lebhafteste Regsamkeit kundgab. Wir dürfen diesen Moment nicht ganz unbeachtet vorüber gehen lassen, weil die deutsche Literatur und Wissenschaft einen zu bedeutenden Anstoß aus der geistigen Strömung empfing, die dort in den Jahren 1820–1830 sich geltend machte, und die bald in ganz ähnlicher Weise diesseits des Rheines auf die politische Gestaltung der Dinge und die öffentliche Meinung einwirken sollte. Frankreich selbst reifte unter diesen geistigen Einflüssen unaufhaltsam seiner zweiten bedeutenden Revolution entgegen, die bei ihrem Ausbruch in solch hohem Grade in den Gemüthern[170] vorbereitet lag, daß sie sich in der kurzen Spanne Zeit von nur drei Tagen vollziehen konnte, und daß sich auch nicht eine kraftvolle Hand erhob, den stürzenden Thron zu halten oder zu retten. –

Den politischen Umwälzungen ging als Herold die auf dem literarischen Gebiete voraus, wo man der alten steifen und stelzbeinigen Klassicität den. Krieg erklärte, bis sie den kühnen Streichen der französisch-romantischen Schule erliegen mußte. Geniale junge Geister strebten heraus aus dem Schul- und Formelzwang, die ihrem Dichten auferlegt war, und glücklicher als die deutschen Romantiker hatten sie hier einen bestimmten Gegner vor sich, den sie bekämpfen und stürzen konnten, ohne sich dabei in das Nebelhafte und Unklare zu verirren. Als den Hauptrepräsentanten dieser Schule kennen wir den genialen Victor Hugo, der heute leider in argen Mißkredit gerathen ist, weil es der alte Mann nicht verlernen kann, im hochfliegenden Pathos seiner Jugend zu reden, und dieses Pathos sich in Bombast und Phrasen verkehrt hat. – Ganz von Byron'schen Ideen erfüllt, flüchtete Victor Hugo nicht wie die deutschen Romantiker in das Mittelalter, sondern er griff keck in die Gegenwart hinein, besang in seinen Orientalen die Griechenkämpfe, dichtete Oden an Napoleon, und spottete über »den gesalbten König-Priester«. Entscheidend aber waren seine Siege auf der Bühne. Sein Hernani gab nicht allein der klassischen Einheitstragödie den Todesstoß, er erschütterte auch die verknöcherten Sprachnormen der Akademie, indem er, und bald auch seine Freunde sich erlaubten, neue Worte und Redewendungen zu schaffen, welche das hohle, klassische Pathos mit einer natürlicheren und wärmer empfundenen Ausdrucksweise zu durchsetzen verstanden. Man erzählt uns, daß noch kurze Zeit vor der Aufführung des Hernani das Wort »chambre« auf der Bühne ein Murmeln erregt habe und[171] Othello von Shakspeare sich nicht halten konnte, weil das Wort »mouchoir« wiederholt darin vorkommt.

In welch wirkungsvoller Weise Béranger neben ihm stand, ein Mann, der nichts für sich begehrte, der seine Lieder sang nach des deutschen Dichters Worten: »Ich singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«, und der doch mit seinen chansons eine Macht repräsentirte, haben wir schon gehört. Selbst der weiche, verschwommene Lamartine schlug jetzt kräftiger in die Saiten, und der jugendliche Alfred de Musset ward mit seinen himmelstürmenden und weltschmerzlichen Poesien bald der Abgott der französischen Jugend, sowie er später im Theater durch seine geistsprühenden Proverbes das feinste Publikum entzückte.

Wie die Poesie, so drängte auch die Malerei und Musik heraus aus den klassischen Regeln, und Auber schuf durch seine »Stumme von Portici« ein geradezu revolutionäres Element; das entzückte Theaterpublikum beklatschte in Masaniello einen Volksmann und Helden, wie sie die Wirklichkeit gerade damals in Freitheitskämpfern, wie Pepe, Riego, Ypsilanti thatsächlich erzeugt hatte. – Ernstere und tiefer blickende Geister wurden mächtig angezogen durch den glänzenden Aufschwung, welchen die Journalistik in Frankreich nahm, hauptsächlich durch Louis Courrier, Armand Carrel und eine Menge junger strebsamer Professoren vertreten, denen man die Lehrfreiheit entzogen hatte, und die nun ihre Kenntnisse in der Tagespresse verwertheten. Selbst die ernsteren Wissenschaften wendeten ihre Spitze mehr und mehr gegen die orthodoxen und rechtsverletzenden Maßregeln der Regierungen. In der Person des berühmten Victor Cousin besaß Frankreich jetzt wieder einen Philosophen, der die Geister zum ernsten Studium und Nachdenken hinzuleiten wußte; ein Eklektiker, d.h. derjenigen philosopischen Richtung angehörend, die von jedem philosophischen Systeme das Beste herausnimmt[172] und dieses Beste in Eins zusammenzufassen sucht, erklärte er seinen Hörern die Vorzüge und Nachtheile eines jeden Systems und indem er ihnen derart eine Geschichte der Philosophie erzählte, eröffnete er den Blicken eine weite Umschau, zeigte er, daß es nichts Unfehlbares hienieden gibt, und daß es die schönste Aufgabe des Wissens und Erkennens ist, die Toleranz im erhabensten und besten Sinne zu fördern. Dies vertrug sich freilich schlecht mit der kirchlichen Geistesverkrüpplung, welche die Jesuiten Frankreich aufzunöthigen suchten; schon 1822 wurde Cousin der Lehrstuhl entzogen, und nicht besser erging es dem berühmten Geschichtschreiber Guizot; auch bei ihm fand man daß seine Vorträge über neuere Geschichte nicht weniger als die Vorträge von Cousin im Widerspruch mit der Religion der Staatskirche ständen. Guizot kam nun auf den ähnlichen Gedanken wie Stein; er unternahm es, Quellen-Sammlungen zur französischen Geschichte, wie auch zur Geschichte der englischen Revolution, herauszugeben, wofür er wie Jener jüngere Genossen anregte, unter denen ich Ihnen vorzugsweise Augustin Thierry und dessen treffliche Geschichte der Eroberung Englands, bezeichne.

Als aber nach dem Sturze des Ministeriums Villèle, Guizot, Cousin und so vielen Mitverfolgten ihre Lehrstühle zurückgegeben wurden, da war es natürlich, daß sie ihre wissenschaftliche Sache jetzt zugleich als eine Sache der Freiheit, des Rechts, der Politik, der Oeffentlichkeit und Allgemeinheit betrachteten, und daß die regste Theilnahme und Bewunderung den Vorträgen folgte, die in solchem Sinn aufgefaßt waren. Dabei muß ich freilich bemerken, daß diese Lehrstühle meist am Collége de France befindlich waren, jenem berühmten Institut, welches dazu bestimmt war und noch ist, auch die allgemeinen Wissenschaften, neben der mittelalterlichen Einrichtung der Sorbonne, der eigentlichen Universität,[173] zur Geltung zu bringen. Aber nicht Studenten allein, sondern Leute jeden Standes und Alters, auch Frauen, finden ungehindert Aufnahme in den Hörsälen des Collége de France, und dorthin strömte denn die wißbegierige Menge, um durch die geistige Speise die politische Lebenskraft zu nähren. – Selbst das damals so glänzend betriebene Studium der Sprachwissenschaften mußte dazu helfen, die Geister aufzuklären. Es war zu jener Zeit, wo Champollion die Hieroglyphen entzifferte, wo Burnouf die alte Zendsprache entdeckte und mit Hülfe derselben, sowie auch des Sanskrit die Keilschriften zu Ekbatana entzifferte, wo Sacy und Remusat, der Eine durch seine arabischen, der Andere durch seine Studien über Geschichte und Literatur der orientalischen Völker, auch diese, bis dahin noch unbekannten Regionen – die Sitten, die Anschauungen, den Glauben jener fremden Nationen erschlossen. – Wir ruhen heute mit unsern Anschauungen, unserer Erkenntniß so sicher auf der geistigen Arbeit jener Jahre, die sich bald nicht mehr auf Frankreich allein beschränkte, daß wir oft kaum uns daran erinnern, in welch kurzem Verlauf, von damals bis heute, die Wissenschaft den rothen Faden gesponnen, der jetzt das Fernliegendste mit einander verbindet, sowohl der Zeit, als dem Raume nach, und kaum vermögen wir uns noch vorzustellen, wie eng der Horizont gewesen, der vor kaum vierzig Jahren noch die Gedanken und Vorstellungen der Gebildeten umfaßte. Aber nicht in die Ferne allein richtete dieser so mächtig aufquellende französische Geist seinen Blick, nein, auch die jüngste Vergangenheit zog er unerschrocken in den Kreis seiner Betrachtungen. – Naturgemäß mußte die Napoleonische Literatur eine sehr bedeutende sein; sie ward es noch mehr nach des Kaisers Tode. Es drängten und verdrängten sich förmlich die Memoiren der Zeitgenossen, die Biographien, die Geschichten von Napoleons Kriegszügen und seiner Regierungszeit,[174] endlich die Schriften über seine Gefangenschaft auf Helena, sowie die Herausgabe seiner Briefe, Aufsätze u.s.w. Dies Alles mußte ein leidenschaftliches Interesse für den gefallenen Helden lebendig erhalten, und selbst in Deutschland gab es eine Zeit, wo man sich in diesen Napoleonischen Erinnerungen förmlich berauschte. Es wird heute, hier wie dort, unendlich unbefangener und kühler über Napoleon geurtheilt, als damals, wo doch die Erinnerungen an seine Bedrückungen noch so viel lebhafter gewesen sind, und man kann daran ermessen, wie gewaltig der Nimbus war, der ihn umgab. Von den historischen Darstellungen des Napoleonismus aber war nur noch ein Schritt zurück bis zur Geschichte der Revolution, und sie fand ihre glänzendsten Erzähler in Thiers und Mignet; des Letzteren treffliches Werk ist wohl heute noch eines der lesenswerthesten Bücher über jene merkwürdige Zeit. – Ich habe Ihnen nun mit Thiers einen Namen genannt, an dem nicht allzu rasch vorüberzugehen, mir die gegenwärtige Zeit zu gebieten scheint. Adolf Thiers, geboren 1797 zu Marseille, war der Sohn einer armen Familie, um so reicher aber an Geist und Wißbegierde; er hatte an der Rechtsschule zu Aix Jurisprudenz studirt, kam dann nach Paris und fand eine Stelle an dem Constitutionnel, einem der einflußreichsten Blätter jener Tage. So begann der merkwürdige Mann, ganz gewiß einer der merkwürdigsten dieses Jahrhunderts, seine Laufbahn als Journalist, und bald übte er einen entscheidenden Einfluß, nicht allein auf das genannte Blatt, sondern auf einen ganzen großen Theil der Presse aus. Nach kurzer Frist wurde ihm ein höheres Ziel gesteckt; der Verleger eines unfertig gebliebenen Werkes über die Revolution, forderte ihn auf, das Werk zu vollenden. Er begann die Studien, die zu solcher Aufgabe gehören, fing das unvollendete Buch von vorn wieder an, und es erschien seine Geschichte der französischen[175] Revolution, so dargestellt, wie sie war – in ihrer Größe. ihrem Ergebniß für den Fortschritt der Menschheit, ihrem Erfolg für die Zukunft, dabei ihre Greuel weder leugnend noch beschönigend. Laut schrieen die Königlichgesinnten auf über diese Auffassung, aber die Jugend berauschte sich daran und noch kühner als Thiers vertrat dann Mignet, sein Freund und Studiengenosse, in seinem Werke über dasselbe Thema, die weltbefreiende Idee der Revolution, und zergliederte er an deren historischer Entwicklung, die zwingende Nothwendigkeit der Thatsachen, und der aus ihnen hervorgehenden Ereignisse. Diese Art der Geschichtschreibung war neu; sie lehrte das Uebergewicht der Dinge über die Willkühr des Einzelnen und in der lebhaftesten Weise zeigte sich ein Volk davon erfaßt, das zum Theil noch persönlich die Eindrücke jener Zeit miterlebt hatte. – So sehen wir das junge Frankreich auf allen Gebieten des Wissens in thätigster Arbeit, und wenn die Franzosen in prahlerischer Uebertreibung gerne behaupten, daß sie stets an der Spitze der Civilisation marschirt seien, so trifft dies für die eben geschilderte Zeit in der That im großen Ganzen zu, und es ziemt uns, die wir damals viel von ihnen gelernt haben, dies anzuerkennen. War nun somit den Gebildeten die reichste Nahrung geboten, so bemühte man sich auch, das Volk dem krassen Aberglauben zu entreißen, in dem die Priester es festzuhalten suchten. Der Pariser Verleger Touquet bot in einer Volksbibliothek »die Gottlosigkeit um den geringsten Preis« aus, indem er die wohlfeilsten Ausgaben von Rousseau und Voltaire drucken und in den Hütten verbreiten ließ. Massenhaft wurden diese Werke ausgestreut, die heute noch so sehr dem Klerus ein Dorn im Auge sind, daß erst noch 1873, in der französischen Kammer, die bekannte Volksbibliothek von Jean Macé angegriffen wurde, weil sie die nouvelle Héloise und den contrat social verbreite. – Touquet wurde[176] angeklagt und verurtheilt, darauf drohten die Journale mit einem Massenabfall der Bevölkerung von dem Katholicismus. – Sie sehen, daß man mit allen Waffen gegen ein verhaßtes Regiment kämpfte und dazu gesellten sich dann noch bald die communistischen und socialistischen Fragen, die wiederholt in jenen geistbewegten Jahren anfingen, die Köpfe aufzuregen. Sie fanden ihre Hauptvertreter in Jaques Fourier und dem Grafen St. Simon, den Begründern des nach ihnen genannten Fourierismus und St. Simonismus. Abgeschmackt wie die Theorien dieser Männer auch vielfach waren, warfen sie doch eine weitgehende Gährung in die Gemüther; sie rissen den Schleier von einer Zukunftsfrage, die heute ohne Zweifel die wichtigste und schwierigste unserer zu lösenden Zeitaufgaben ausmacht. Unser Bild würde nicht vollständig sein, wenn wir nicht einen Augenblick bei diesen Anfängen verweilten, um so mehr als die erwähnten Theorien und Auffassungen, utopisch und unklar wie sie auch sind, doch ein besonderes Licht auf unsere gesellschaftlichen Zustände warfen, viele jugendliche Köpfe, namentlich in der kommenden Zeitperiode bewegten oder verwirrten, zugleich aber auch ganz neue Ideen anregten, die gegenwärtig zum Theil ihre praktische Ausführung gefunden haben. –

Chateaubriand hat einmal von seinen Landsleuten gesagt: »Es giebt in Frankreich wunderbar viel Geist, aber Kopf und gesunder Menschenverstand gebricht. Zwei Phrasen berauschen uns!«

Richtig wie dies die Franzosen charakterisirt, paßt es wohl auch ein wenig auf die ganze übrige Welt, und so hat man von Zeit zu Zeit von einem paradiesischen, aber unmöglichen Zustande geträumt, wo das Menschengeschlecht eine einzige große Familie bilden, Jeder so viel haben werde, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und folglich keine Ungleichheit des Besitzes, oder des Standes mehr den gegenseitigen[177] Neid werde erregen können. Wer möchte nicht gerne die Mittel und Wege auffinden, dieses schöne Ziel zu erreichen und Fourier wie St. Simon waren nicht die Ersten, die sie zu finden hofften. – Schon im grauen Alterthum hat man ja Versuche gemacht, eine Gleichheit des Besitzes herzustellen, bald durch gleiche Theilung des vorhandenen Ackergrundes, bald durch Gütergemeinschaft innerhalb gewisser Kreise. Unvereinbar damit ist natürlich ein staatliches Kulturleben, und nur auf der untersten Stufe der Civilisation können solche Zustände eine Weile bestehen; sobald durch das Steigen der Bedürfnisse eine Theilung der Arbeit eintritt und die naturgemäße Sonderung in Fleißige und Faule sich vollzieht, muß auch der Besitz wieder ein ungleicher werden, es sei denn, daß das Individuum aufhöre, als Solches zu existiren, daß es nur ein arbeitendes Glied für das Ganze sein solle, eine Form der Vergesellschaftung, die nicht neu ist und die ja in der verschiedenartigsten Weise vorkommt, ich darf z.B. nur an die Klöster erinnern, und an religiöse Secten, wie die Mormonen, die Shakers und Andere. Im Alterthum half man sich öfter durch neue Theilungen und Ausgleichungen – umsonst, die menschliche Gesellschaft durchlief die entsetzlichsten Phasen vom Mißbrauch des Besitzes, Leibeigenschaft, Sclaverei, Feudalherrschaft, bis der Zustand in der europäischen Welt ein vollständig unerträglicher geworden war, und die französische Revolution, indem sie Alles vor sich niederwarf, schon gleich bei ihrem zweiten Athemzuge, mit der Forderung von politischen Rechten auch den Anspruch erhob, nicht auf eine vollständige, aber doch gleichmäßigere Vertheilung der irdischen Güter. Mit Recht konnte man verlangen, daß nicht drei Viertheile der Menschheit darbten und theilweise ein dem Thiere verwandtes Dasein führten, während eine Minderzahl im übertriebensten Ueberfluß schwelgte. Man mußte auf Mittel und Wege der[178] Abhülfe sinnen, man mußte sich bemühen die natürlichen Hülfsquellen eines Landes möglichst auszunutzen, die Steuern gleichmäßig zu vertheilen, und die daraus erwachsenden Mittel möglichst gerecht zum Besten des Landes und seiner Bevölkerung anzuwenden. Daraus erwuchsen zu Anfang des Jahrhunderts ganz neue, aber unendlich wichtige Wissenschaften; die Staats- oder Nationalökonomie, die dann im weiteren Verlaufe zu der Ausbildung der Statistik führte, weil nur durch Zahlen sich beweisen und feststellen läßt, wie groß die Bevölkerung eines Landes ist, was sein Handel, seine Industrie, sein Ackerbau erwirbt, und was dem Lande, wie dem Einzelnen davon wieder zu Gute kommt, oder kommen kann. Mit einem Worte, die Statistik ist der allein richtige Spiegel, durch den wir heute unsre gesellschaftlichen Zustände in ihrer ganzen Wirklichkeit erfassen und begreifen. –

So hat also die sociale Frage, die seit der französischen Revolution nicht mehr zur Ruhe kam, auch sociale Wissenschaften hervorgerufen und thut dies fortwährend noch, aber während deren Anfänge noch so zu sagen in der Wiege lagen, traten schon Männer auf, die im dunklen Drange die richtigen Wege zur Verwirklichung ihrer menschheitsbeglückenden Träume gefunden zu haben glaubten. Vorläufer der schon vorhin Genannten waren in Frankreich Robespierre, St. Just, Babeuf, und mit durch sie beeinflußt, stellten nun St. Simon, der Graf, und Fourier, der einfache Kaufmannssohn, ihre Theorieen auf, und entwickelten sie ihre Beglückungs-Systeme, ohne dabei auf das Bestehende die mindeste Rücksicht zu nehmen; aber wie fremdartig und seltsam uns auch ihre Vorschläge berühren mögen, es beseelt sie doch ein aufrichtiger Trieb die Menschheit zu fördern, namentlich aber den Armen und Unterdrückten zu einem leidlichen Dasein zu verhelfen. Sie richteten demgemäß ihr Augenmerk besonders auf den vierten[179] Stand, der zum großen Theile besitzlos, und auch politisch noch ganz rechtlos, der Willkühr des Arbeitgebers, in so weit er aus Arbeitern bestand, sollte entzogen, und ihm ein menschenwürdiges Dasein bereitet werden. Zugleich sollte er durch politische Rechte die Möglichkeit erwerben, in eigner Sache mitzureden, oder sich doch wenigstens vertreten zu lassen. – Es darf dabei nicht unerwähnt bleiben, wie der Mangel an Arbeitern, den wir heute kennen, sehr neuen Datums ist; damals und noch lange nachher gab es, namentlich in den größeren Städten, ein bedeutendes Proletariat, das entweder keine, oder eine sehr schlecht lohnende Arbeit fand, und auch der Bauer führte im Durchschnitt ein gar klägliches Leben, verfolgt von Noth, Theurung, Mangel an Absatzquellen und drückenden Auflagen. Handel und Gewerbe waren nicht weniger eingeengt – mit einem Worte, ein Menschenfreund fand Veranlassung genug zu dem Wunsche, die Welt um sich her neu zu gestalten. –

Fourier war der Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers aus Besançon, aber er sank selbst bis zur bittren Noth und Armuth herab durch die Bemühungen, welche er im Dienste der Menschheit, für die ihn eine tiefe Liebe erfüllte, machte. Er zuerst sprach den Gedanken der Association, der Vergesellschaftung aus, aber umhüllt von einem Gallimathias, der ihm mit Recht den Namen eines Narren zuzog. Ich darf mich hier kaum mit einer ausführlichen Darstellung seines Aufbaues einer besseren Welt, in welcher nach seiner Berechnung der Menschheit beschieden sein solle 80,000 Jahre lang zu leben, aufhalten. Von diesem Zeitraum kamen nach Fourier's Berechnung 5000 Jahre auf die Periode der Kindheit, in welcher wir uns noch befinden, 70,000 Jahre gehörten der glückseligen Zeit an, der Harmonie, die in sieben Abtheilungen zerfällt, und ihren Höhepunkt erst in der sechsten und siebenten erreicht. Die letzten 5000 Jahre[180] sind dann die des Alters, der Hinfälligkeit, mit welchen die gesammte Menschheit dem Tode entgegengeht. Während der Harmoniezeit werden die verschiedenen Leidenschaften, die das treibende Element für das Menschenherz ausmachen, sich mit der Arbeit verbinden, und da diese Arbeit den Neigungen jedes Einzelnen entsprechen soll, werden Wunder von Fleiß, Verträglichkeit, Glück und Reichthum dadurch hervorgebracht werden. Wie zur Arbeit, vereinigt man sich auch zum Zusammenleben und Vergnügen, nach Wahl und Neigung, in größeren und kleineren Haushaltungen, den sogenannten Phalanstères. Der erste Grund zur Harmonie wird durch die Erziehung gelegt; zuerst müssen die Kinder aller Stände die niedrigsten Arbeiten verrichten lernen, Unrath wegschaffen und dergleichen mehr. Sie werden entschädigt durch die Oper, die sie selber darstellen; diese soll für sie eine Art von religiöser Uebung sein und die gleichmäßige Körperbildung zu allen jenen Geschäften entwickeln, die später eine harmonische Seele leisten muß, und wie es scheint, ist es diese Art von Oper, die dem berühmten Richard Wagner, als das Kunstwerk der Zukunft, vorschwebt. Von der Oper kommen die Kinder dann in die Küche, wo man den mächtigsten Sinn derselben »die Schleckerei« ausbildet, »die Gottheit aller Kinder«, damit sie lernen sich für feine Unterscheidungen zu passioniren.

Unsre Kinder würden ganz gewiß gegen diese letztere Art der Geschmacksausbildung auch nichts einzuwenden haben, wir aber mögen an dem Wenigen, was ich Ihnen angedeutet, schon erkennen, wie unter diesem Unsinn die Idee der gemeinsamen Verbindung, zum Zwecke der Förderung äußerer Lebensbedingungen bereits angedeutet ist. Auch die Frauen spielen in Fourier's harmonischem Weltgebäude eine hervorragende Rolle, sie werden dort sogar politischer Rechte theilhaftig und sollen wahlberechtigt sein, und so sehen wir in den[181] verschiedendsten Richtungen bei ihm schon Andeutungen, welche Zukunftsfragen enthalten. – Die Ehe achtete er gering wie St. Simon auch, was sich durch die Art der Eheschließung in Frankreich bis zu einem gewissen Grade erklären läßt, aber doch im Allgemeinen sehr bald zu traurigen Mißverständnissen führte und führen mußte. Natürlich krönte Fourier sein System mit dem Versprechen eines unsäglichen Glückes, dessen die Menschheit dadurch theilhaftig werden müsse. Ganz zuletzt würden die Leidenschaften ein ungeheures Orchester von 800 Millionen Charakteren bilden und den Erdball in ein Paradies verwandeln, denn der Mensch, dem durch eine vollkommenere Ernährung und Lebensweise eine ganz andere Gesundheit zu Theil geworden wäre – auch eine Sache, die heute Niemand mehr bestreitet, – würde dann kein armer Erdenwurm mehr sein, sondern er werde selber, Gott den Weg zu einer besseren Schöpfung gewiesen haben. –

Weit klarer treten die Ideen St. Simon's in die Erscheinung. Von vornehmer Abkunft, reich, verschwenderisch hatte er nicht so sehr aus Genußsucht, denn mit Absicht alle Höhen und Tiefen des Lebens durchgekostet, um Alles kennen zu lernen; zuletzt sank auch er zur tiefsten Armuth hinab, that Schreiberdienste, lebte von Almosen, und endete an den Folgen eines mißglückten Selbstmordversuchs, mit den Worten: »Unser ist die Zukunft.« St. Simon griff als Hauptübel der Gesellschaft drei Dinge an: die positive Religion, das persönliche Eigenthum, die Ehe. – Auch er wollte zusammenwirkende Gesellschaften, mit gemeinschaftlichem Besitz, wendete aber sein Hauptinteresse dem Gewerbe, dem Arbeiter zu. Er stellte ein industrielles System auf und sprach dabei klar das folgenschwere Wort: »das Recht auf Arbeit!« aus, was Fourier auch gethan und es durch die Bibel begründet hatte: Gott habe den Menschen zur Arbeit verurtheilt, aber nicht zur Entbehrung[182] der Arbeit! – Diese Hervorhebung der Arbeit war das Gesunde und Reale bei Beiden; die Plebs der Römer, und der Pöbel der französischen Revolution verlangten einst Brod und Spiele; sie verlangten jetzt für den Niedriggestellten und Armen Arbeit und für diese genügenden Lohn. Dieses Verlangen nach Arbeit, wenn auch anfänglich vielfach mißverstanden, wie wir später hören werden, ist seitdem so mächtig geworden, daß heute in allen civilisirten Ländern auch die Frauenwelt auf dem gleichen Standpunkte steht, und das Recht zu jeder Arbeit verlangt, für die sie sich befähigt gezeigt hat. – Noch fast im Moment seines Todes trat dann St. Simon mit einem neuen Evangelium auf, durch welches er das Gesetz der Bruderliebe predigte. Er sagte: »das evangelische: liebet einander! müsse künftig dahin lauten: die Religion solle die menschliche Gesellschaft zu dem großen Ziele der möglichst raschen Verbesserung des Looses der armen Klassen leiten.« Hier ist ein Satz, den wir gewiß Alle gerne mit unterschreiben und für dessen Verwirklichung wir Alle mitzuarbeiten gerne bereit sind: »Die Liebe«, das war das große Wort, an welches St. Simon die sittliche Wiedergeburt der Menschheit knüpfte. Wie er diese Ansicht nun systematisch ausarbeitete, welche Ausschreitungen er bezüglich des Verhältnisses beider Geschlechter zu einander, daran knüpfte, dies können wir hier nicht näher erörtern. – Es bildete sich um den excentrischen Grafen bald eine Schule, und eine St. Simonistische Gesellschaft, deren père oder oberster Leiter er wurde, und viele bedeutende Geister Frankreichs, auch Frauen, haben zu dieser Gesellschaft gezählt. Sie reinigte sich nach und nach von den Verirrungen ihres Stifters und bildete später vorzugsweise den Gedanken der Humanität und der gegenseitigen Unterstützung aus; als staatsgefährlich und religiös verboten und aufgelöst, existirte sie noch lange im Stillen fort, verbunden durch ein gleiches Streben, namentlich[183] durch Unterstützung ihrer ärmeren Mitglieder, deren Kindern man eine zweckmäßige Erziehung zu geben und ihnen weiter fortzuhelfen suchte. Namentlich zeichneten sich die Frauen der Gesellschaft durch ihre Bildung, ihren Ernst und ihre Fürsorge für Andre aus.

Unter der Leitung einer edlen, aufopfernden Frau, der bekannten Madame Lemonnier, bildete sich ein Frauenverein: la prévoyance maternelle, der sich die Aufgabe stellte, mittellose Mädchen erziehen zu lassen und erwerbsfähig zu machen. Zu diesem Zwecke wurden in Paris die écoles professionnelles, oder die weiblichen Gewerbeschulen gegründet, deren es im Jahre 1870, unter der Präsidentschaft von Madame Jules Simon, fünf in verschiedenen Stadttheilen gab, und die sich seitdem immer mehr ausbreiten und entwickeln. –

Auch die philosophischen und religiösen Theorien St. Simon's und Fourier's sind nicht ganz untergegangen; ein Schüler des Ersteren, Auguste Comte, hat in Paris die sogenannte Schule der Positivisten gebildet, deren Grundsatz folgendermaßen lautet: Vivre pour autrui, Leben für Andre. Man nennt sie darum auch Altruistes. Nur das Positive als richtig anerkennend, nimmt diese Gesellschaft gegenüber jeder religiösen Ueberlieferung eine verneinende Stellung ein. Während sie aber das christliche Dogma verwarfen, schufen sie sich in eigenthümlicher Weise ein Anderes, welches an die altpersische Religion erinnert. In der Voraussetzung, daß jeder Mensch einen besonderen Schutzengel habe, der durch sein besseres Selbst repräsentirt werde, richten sie ihre Gebete an diesen Engel in der eignen Brust. –

Auch bei ihnen spielt die Frau eine hervorragende Rolle, indem ihr eine Art von Priesterschaft zugetheilt ist, die einen Nimbus der Ehrfurcht um sie her verbreitet. Sie hat eine bedeutende Mitwirkung bei Erziehung und Unterricht[184] der Kinder, worüber gleichfalls ganz bestimmte Vorschriften bestehen. Jeder einzelne Mensch soll mit den verschiednen Altersstufen alle Phasen der Geschichte, namentlich des Glaubens, durchlaufen, welche die gesammte Menschheit bereits zurückgelegt hat. Das Kind, das mit der Puppe spielt, verkörpert die niederste Stufe der Gottesverehrung: den Fetischismus; dem Jünglinge dagegen bevölkert sich die ganze Natur mit Göttern, er ist Pantheist und sein Lehrmeister das alte Griechenland, und so geht es weiter fort, bis zu der Zukunfts-Religion des reinen Menschheitsdienstes, mit dem Motto: Vivre pour autrui! Heilig ist den Anhängern der Lehre das Angedenken ihres Stifters Comte, dessen Todestag jedes Jahr feierlich in Paris in dem Zimmer, das er bewohnte und das unverändert geblieben ist, begangen wird. In England hat Comte in den gebildeten Klassen einen bedeutenden Anhang und seine Lehre wurde besonders durch die bekannte Miß Martineau verbreitet. Sie sehen, wie diese letzten Ausläufer der communistisch-socialistischen Theorien am Ende doch, wenn auch noch wunderlich mit Dogmen verbrämt, den Boden der Wirklichkeit berühren und ihre Anhänger zu edelstem und aufopferndstem Handeln auffordern. Jeder, der nach dem Wortlaute der positivistischen Lehre auf allen Gebieten des Lebens für das Wohl seiner Mitgeschöpfe wirkt und schafft, der hat ihnen die wahren Heilsstätten des Socialismus und Communismus erschlossen, und in diesem Sinne sehen wir gegenwärtig Staatsmänner, Gelehrte, Industrielle, Volksvertreter und Frauen überall in lebhaftester Thätigkeit begriffen, ohne Dogma und ohne bindende Genossenschaft, weil der Geist lebendig geworden, der einst jene Theorieen erdichtete. –

Ich habe mir diese hoffentlich nicht unwillkommene Abschweifung erlaubt, um Ihnen an diesem Beispiel zu zeigen, wie die Zeit auch die ungenießbarsten Auswüchse des Menschengeistes[185] heranreift, in so fern sie einen gesunden Kern enthalten, und wie Keiner, der historischen Sinn sich zu eigen gemacht, schlechthin das Neue, welches er noch nicht begreift, verwerfen, sondern vorher gründlich untersuchen soll. –

Kehren wir nun zu dem Gange der geschichtlichen Ereignisse zurück. Karl X. hatte sich am 29. Mai 1825 nach alter Sitte, unter Entfaltung einer ungeheuren Pracht, zu Rheims von dem Erzbischof von Paris krönen und salben lassen. Obgleich die Phiole, die das heilige Salböl enthielt, in der Revolution war zertrümmert worden, behauptete man doch in den Scherben etwas davon gerettet zu haben, und tief gebeugt, umgürtet mit dem Schwerte Karls des Großen, lag Karl vor der Priesterschaft im Staube. Nach vollbrachter Feier berührte er, einem alten Aberglauben gemäß, eine Anzahl Kropfleidender, die natürlich wieder mit ihren Kröpfen davongingen. Im nächsten Jahre sah Paris innerhalb sechs Wochen vier große Processionen, begleitet von dem Hofe, den Behörden und 2000 Priestern, die das Miserere sangen. Das gab reichlichen Stoff für den Witz, den Spott des Parisers, und für Béranger's satyrische Muse. Am Hofe wurde die alte Etikette Ludwigs XIV. wieder eingeführt; der fünfzigjährige Herzog von Angoulême legte sich den kindlichen Titel Dauphin bei, seine alten Kammerherrn und Stallmeister wurden wieder Edelknaben und Pagen genannt, und was dergleichen Unsinn mehr ist.

Hand in Hand damit gingen die Bemühungen, Frankreich gänzlich unter die Herrschaft der Jesuiten und des Adels zu bringen. Die Regierung konnte es vor den Kammern nicht mehr verläugnen, daß die heilige Congregation wieder im Lande sei, und sie setzte im Interesse des Klerus das Sakrileggesetz durch, welches für sogenannten Kirchenfrevel die unsinnigsten Strafen aufstellte. Diesem folgte: ein Klostergesetz für die Frauen, die wieder Congregationen[186] mit selbstständigem Eigenthum bilden durften; man wollte dadurch die Töchter vornehmer Familien entschädigen, um die Neubildung von Majoraten für die Söhne zu ermöglichen.

Man hoffte so einen Adelsstand zu gründen, wie er vor der Revolution bestanden, schlug aber damit dem öffentlichen Bewußtsein geradezu in das Antlitz, denn man duldete in Frankreich keine bevorzugten Stände mehr, und das Gefühl der Gleichheit, der égalité, ist dem Franzosen als eine unveräußerliche Errungenschaft der Revolution bis heute verblieben. –

Was aber jetzt am tiefsten einschnitt, dies waren die Preßgesetze von 1826 bis 27. Dagegen erhob sich ein Mann von hoher Bedeutung, dessen Gesinnung Niemand verdächtigen konnte, Royer-Collard, und wie Orakelsprüche wurden seine Worte wiederholt und herumgetragen. Er rief: »das Gesetz wird eitel sein, denn Frankreich ist besser als seine Regierung!« und den Ministern sagte er: »Sie schlagen jetzt die Vernichtung der Presse vor. Es sei aber, daß keine Zeile mehr gedruckt werde – Bücher und Bibliotheken sind jetzt in die Geister übergegangen, sie zu vernichten, giebt es keine Gesetze. So lange nicht der Pflug über die ganze Civilisation weggeht, werden Ihre Bemühungen zu nichte werden!« –

Die Regierung sah ein, daß sie zu viel gewagt; das Ministerium Villèle, welches sich zu diesen Eingriffen in die Verfassung hergegeben, fiel, und an seine Stelle trat Martignac, ein Mann der halben Maßregeln, dabei von so sanfter, einschmeichelnder Ueberredungskunst, daß ihn Karl X. selber mit der Sängerin Pasta verglich. Es gelang ihm denn auch, die Katastrophe noch um 2 Jahre hinauszuschieben, dann brach das unterhöhlte Gebäude dennoch zusammen, denn Karl und seine Umgebung, namentlich der Dauphin und dessen Gemahlin, zeigten sich von solch stumpfer Dummheit, einer so merkwürdigen Unfähigkeit die wahre Lage der Sache zu begreifen, daß sie eigentlich weit eher das Mitleid, als den[187] Abscheu erregen. Martignac's Bemühungen, Karl auch nur zu halben Concessionen zu bewegen, blieben auf die Dauer erfolglos. Im Herbst 1828 machte der König eine Reise durch Lothringen und Elsaß; er stand in Straßburg auf dem Balkon des Schlosses vor dem erleuchteten Münster, um ihn her erschallten die Jubelrufe der Bevölkerung, denn in jenem Augenblick glaubte man, er sei willig zum Guten zurückgekehrt, aber er sah in diesem Beifall der Menge Beweise ihrer Anhänglichkeit. »Hören Sie«, sagte er zu seinem Minister, »diese Leute rufen: Es lebe der König! und nicht: Es lebe die Charte!« – So ging er blindlings in sein Verderben und der böse Geist und Helfershelfer sollte ihm nicht fehlen, in der Person des Fürsten Polignac. Ganz besonders empfohlen war ihm dieser Mann als Minister durch Wellington und Metternich; Martignac trat ab und Polignac bildete ein neues Ministerium. Es wußten die liberalen und doktrinären Elemente sehr wohl, was dieser Wechsel zu bedeuten habe, und einen ähnlichen Fingerzeig erhielten die Bonapartisten durch die Ernennung des General Bourmont, der sich durch sein Benehmen in der Schlacht von Waterloo denselben tief verhaßt gemacht hatte, zum Kriegsminister. Aber auch alle ehrlichen Royalisten wendeten sich jetzt von dem Könige ab; Chateaubriand gab seine Entlassung, ein Theil der Staatsräthe trat aus. »Keine Zugeständnisse mehr«, dies war das Programm des neuen Ministeriums, ein Ausspruch, der das Schlimmste befürchten ließ, Von Tag zu Tag erwartete man einen Staatsstreich und wappnete sich mit dem Entschlusse der Steuerverweigerung dagegen, wenn die Charte wirklich zerrissen werden sollte. – Zum Drittenmale trat unter diesen Verhältnissen wieder ein Mann in den Vordergrund der Ereignisse, der wie ein Sturmvogel schon zweimal der Vorläufer großer Umwälzungen gewesen. Es war Lafayette, kaum zurückgekehrt von einer Triumphreise durch[188] Amerika, die er im Jahre 1824 gemacht, und wo er überall als ein Held gefeiert wurde. In Washington beschenkte ihn der Congreß in großartiger Weise, und in Bunkershill, wo er dem 50 jährigen Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung Amerikas beiwohnte, sprach er in einem Toaste auf die Republik die Ueberzeugung aus, daß derselbe Trinkspruch in 50 Jahren dem befreiten Europa gelten werde. –

Nun wieder in Frankreich weilend, war er gerade in jenen bewegten Tagen auf einer Reise nach seinem Geburtsorte begriffen, als man den Ministerwechsel erfuhr; allsogleich sah er sich neuerdings auf den Schild gehoben und sprach er die alten Schlagworte von 1792 aus. – Schnell bildeten sich nun überall in Frankreich Gesellschaften, um diejenigen zu unterstützen, die durch den Ausspruch der Steuerverweigerung voraussichtlich zu Schaden kommen mußten, was zunächst die Abgeordneten betraf. Auch die alten »geheimen Gesellschaften« lebten wieder auf, zu denen sich neue, nach Art der Carbonaria gesellten; deren Mittelpunkt war Lafayette und selbst die früheren alten Feinde reichten ihm jetzt versöhnlich die Hand. So nahm das Verhängniß seinen Weg; immer größer wurde Karl's Groll und Haß gegen ein constitutionelles Regiment und seine Furcht vor einer Revolution, die er sich, im Falle seiner Nachgiebigkeit, vorspiegelte. Seine Umgebung nährte diese Angst; es hieß, wie ein Zeitgenosse erzählt, »dem Könige den Hof machen, wenn man ihm den Thron in Gefahr, die Verschwörung offenbar, die Revolution bevorstehend zeigte.« – Es war umsonst, daß man hoffte, durch die Expedition gegen den Dey von Algier und die Eroberung des Räubernestes, der die Verjagung des Seeräubers folgte, das Heer wieder günstiger zu stimmen, und die Erinnerung an die alte gloire auffrischen zu können.

So groß war bereits die gegenseitige Feindseligkeit angewachsen, daß die Herzogin von Angoulême bei der Neujahrsgratulation[189] von 1830 der Magistratur und deren Präsidenten, der sie anreden wollte, mit dem Fächer ein »Passez!« zuzuwinken wagte. Der König sprach in so hartem trocknem Tone mit den Räthen, daß einer der Richter seinem Collegen zuflüsterte: »Sie wollen fallen, sie wollen unfehlbar fallen!«

Am 2. März 1830 eröffnete der König unter großer Prachtentfaltung die Kammern; in dunklen Worten sprach er am Ende der Thronrede den Entschluß aus, daß er gegen strafbare Umtriebe, die seiner Regierung Hindernisse bereiten würden, die Kraft zur Ueberwindung finden werde! Sichtlich erregt, mit erhöhter Stimme brachte er diese letzten Worte hervor, seiner bebenden Hand entfiel der Hut, den der Herzog von Orléans aufhob und ihm dann wieder überreichte. Man bemerkte allgemein diesen Vorgang als ein Omen, um so bedeutungsvoller, als der Herzog auf's Neue die Blicke und Wünsche derjenigen auf sich zog, die eine constitutionelle Monarchie und keine Republik wollten. Wir haben diesen Herzog bereits kennen gelernt, wir erinnern uns, wie seine Erzieherin, die berühmte Frau von Genlis ihm und seiner Schwester Adelaide honette bürgerliche Tugenden anerzog, die damals noch so selten bei Fürsten zu finden waren: »Er sei das beste von ihren Werken«, so äußerte sich einst ein geistvoller Mann über Louis Philipp und seine Erzieherin; er lebte jetzt, seit der Restauration, in friedvoller Zurückgezogenheit auf seinem Schlosse zu Neuilly, im Kreise seiner zahlreichen Familie, der er ein vortrefflicher Vater war, und zugleich das Muster eines Gatten und eines Bruders. Unzertrennlich von ihm war seine Schwester Adele; von männlichem Geiste, ihm durchaus überlegen an entschlossenem Muthe, blieb sie bis zum letzten Athemzuge die beste, zuverlässigste Freundin und Rathgeberin eines Bruders, mit dem sie eine harte Schule des Lebens getheilt hatte. – So stieg der Stern der Orléans hell und heller empor, während der 20. Juli des Jahres 1830 endlich[190] die Pläne der Reaction enthüllte; im Moniteur erschienen die drei berühmten Ordonanzen, welche die Preßfreiheit suspendirten, die neue Kammer auflösten, und die Wahlordnung, für eine neu zu wählende Kammer, willkührlich abänderte. Mit einer unglaublichen Frivolität wurden diese Beschlüsse gefaßt und ausgeführt, man dachte kaum an einen Widerstand, und traf keinerlei Vorbereitungen, um einen solchen im Nothfall zu brechen. Karl X. unterzeichnete die Beschlüsse, welche die Charte zerrissen, nachdem er sich noch einen Augenblick besonnen, und der Dauphin schweigend seine Zustimmung zugenickt hatte. Als der Justizminister das verhängnißvolle Blatt dem Redacteur des Moniteur übergab, bebte dieser zusammen, »Gott erhalte den König und Frankreich!« sagte er erschrocken, »ich habe alle Kampftage der Revolution gesehen, mir graut vor neuen Erschütterungen! –

Dies war das leichtsinnige Vorspiel der dreitägigen Julirevolution, und Niemand kann sagen, wer dieselbe eigentlich geleitet und geführt hat. Wie ein Naturereigniß, so pflanzte sie sich fort von Straße zu Straße, von Quartier zu Quartier, bis ganz Paris eine Festung von Barrikaden bildete, und nicht weniger rasch theilte sich die Stimmung der Hauptstadt ganz Frankreich mit, selbst die Vendée, die letzte Hoffnung Karl's und seiner Getreuen, rührte sich nicht für ihn. Die Ordonanzen hatten dem französischen Volke, das innerlich, wie wir gehört, zum Widerstand genügend vorbereitet war, zu tief in's Herz geschnitten. Zwischen dem Louvre und den Tuilerien verschanzt stand Marmont mit der Garde, im Hause des Bankier Lafitte versammelten und beriethen sich die Abgeordneten, auf den Straßen begann der Kampf. Die Insurgenten schossen mit Allem, was sie gerade zur Hand hatten, mit Knöpfen, Marmorkügelchen, bleiernen Lettern, bis dann nach und nach auch die Waffenläden geplündert wurden,[191] und man in den Besitz von Munition kam. Zu Anfang hieß es nur noch: »Nieder mit den Ministern!« aber nachdem ein Zufall die Zerstörung eines Aushängeschildes, das die Lilien trug, veranlaßt hatte, wurden diese plötzlich überall abgerissen, zerstört, und unter den Rufen: »Nieder mit den Bourbonen!« das Banner des jungen Frankreich, die Tricolore wieder neu entfaltet, um ihr seitdem nicht wieder untreu zu werden.

So wuchs und verstärkte sich der Aufstand von Stunde zu Stunde – Soldaten von der Linie fraternisirten mit dem kämpfenden Volke, denen sich bald die Studenten, die Polytechniker und andere junge Männer der höheren Stände angeschlossen hatten. Unbeweglich stand Marmont in seiner sichern Position, man wagte es nicht, mit den Truppen in das Gewirre der engen Straßen einzudringen und dort zu kämpfen.

Karl befand sich unterdessen in St. Cloud; Verhandlungen, die mit ihm gepflogen wurden, führten zu nichts, und muthig und entschlossen den Kampf aufzunehmen, zeigte sich nur die Herzogin von Berry. Endlich wurde Polignac wieder entlassen, und ein neuer Minister ernannt, aber als diese Botschaft nach Paris kam, waren der Louvre und die Tuilerien bereits vom Volke genommen, die Schweizer zogen sich zurück und selbst die Garde wankte. So vereinigte sich Alles das Königthum zu stürzen, selbst die Haltung des Volkes trug dazu bei, denn wenige Excesse abgerechnet, die sich vornehmlich gegen den Klerus und dessen Besitzthümer richteten, kehrten die Kämpfer bald wieder zu ihren bürgerlichen Beschäftigungen zurück, und nur vereinzelt kamen Diebstahl und Plünderung vor, dagegen aber Züge der Ehrlichkeit und der Großmuth in Menge. – Am 30. Juli bildete sich eine provisorische Regierung, deren hervorragendste Mitglieder der Bankier Lafitte, Odilon Barot und Casimir Perrier waren; Lafayette stellte sich wieder an die Spitze der Nationalgarde.[192] Noch ein letztes mal versuchte man mit König Karl zu unterhandeln, aber es war jetzt mit allen Zugeständnissen zu spät. Lauter und lauter erhob sich der Ruf: »Keine Bourbonen mehr!« in den sich auch die Abneigung des Volkes gegen die Orléans mischte; aber die Gelehrten, die Geschichtschreiber, die einen sehr einflußreichen Theil der Presse beherrschten, dachten in dieser Beziehung anders. Thiers entwarf eine Proclamation, die alle Vorzüge des Herzogs hervorhob, wie er niemals gegen Frankreich gekämpft, wie er immer die dreifarbige Fahne anerkannt habe, und wie er ohne Zweifel seine neue Würde gerne aus den Händen des Volkes entgegennehmen, sie als dessen Geschenk betrachten werde. Nachdem man die Gemüther in dieser Weise vorbereitet, begab sich Thiers nach Neuilly, wo er jedoch Louis Philipp nicht vorfand, da dieser sich klugerweise irgenwo versteckt hielt. Seine Gemahlin trat dem kleinen Staatsmann ängstlich und unentschlossen entgegen, um so hochherziger erklärte die Schwester des Herzogs, Prinzessin Adelaide, sie wolle ihren Bruder dazu zu bestimmen suchen, die Wahl des Volkes anzunehmen, und mit ihm jede Gefahr theilen, die ihm etwa daraus erwachsen könne.

Man wollte, um die große Parthei der Republikaner nicht zu verletzen, den Herzog nicht ohne Weiteres zum Könige, sondern nur einstweilen zum General-Lieutnant der Republik erheben, bis er ohne Gefahr den Thron besteigen durfte. Alles hing jetzt an zwei Dingen, an Lafayette, welcher als Anführer der Nationalgarde die ganze Lage beherrschte, und an der Entschlossenheit des Herzogs, der jetzt endlich, nachdem er erst noch Talleyrand um Rath gefragt, und eine förmliche Einladung der Kammer erhalten hatte, nach Paris gekommen war, und sich im Palais Royal aufhielt. Es war keine Zeit zu verlieren, mit jeder Minute stieg der Einfluß und die Macht der republikanischen Parthei,[193] obgleich Odilon-Barrot sie durch das geflügelte Wort zurückzuhalten suchte:

»Der Herzog von Orléans sei die beste der Republiken!« Wollten die Gemäßigten die Oberhand behalten, so mußten sie rasch handeln. Während sich Karl von St. Cloud in halber Flucht nach Versailles zurückzog, eine Nachricht, die man in Paris mit lautem Hohne aufnahm, hatte Ludwig Philipp einer Deputation von Abgeordneten, an deren Spitze sich Lafitte befand, erklärt, daß er die Principien, welche die Wortführer ausstellten, als die Seinigen anerkenne, und bereit sei, als ein guter Familienvater mit ihnen für das Wohl Frankreichs zu arbeiten. Darauf begab er sich mit den Abgeordneten nach dem Stadthause, den Gefahren trotzend, die ihn auf diesem Wege umgaben. Ohne den Schutz einer bewaffneten Macht, ohne königlichen Prunk, ritt der Herzog, die dreifarbige Cocarde am Hut, durch die Straßen; ihm voran gingen ein Trommler und die Bediensteten der Kammer, neben ihm ritt sein Adjutant, und hinter ihm her kamen zu Fuße die Abgeordneten; Lafitte, der sich den Fuß verletzt hatte, wurde in einer Sänfte getragen. Immer dichter zogen sich die Massen zusammen, immer feindseliger wurden die Blicke, je weiter man in das Gewirre der Straßen eindrang, Rufe gegen die Bourbonen trafen des erbleichenden Fürsten Ohr, der einen schweren Königsritt, wo jeder weitere Schritt ihm den Tod bringen konnte, durchzumachen hatte. Auf dem Rathhause befand sich Lafayette, es kam Alles darauf an, ob er den Herzog einlassen werde oder nicht, aber er empfing ihn an der Treppe, und geleitete ihn in einen der Säle, wo eine dichte Menge sie umringte. Ein junger Mann nahm die schriftliche Erklärung der Abgeordneten, die sich für Louis Philipp aussprach, in die Hand und las sie laut vor; der Herzog fügte einige Worte hinzu, und als sich im Augenblick darnach feindselige Stimmen gegen ihn erhoben, denen er ruhig[194] erwiderte, drückte ihm Lafayette mit raschem Entschluß eine dreifarbige Fahne in die Hand, zog ihn an ein Fenster und umarmte ihn feurig, während die Fahne über ihnen emporflatterte. Dieser Moment war zu schön und ausdrucksvoll, um die Franzosen nicht zu entzücken, lauter Jubel brach sich Bahn und die Dynastie Orléans war vom Volke begnadigt, die Königskrone, die Karl X. verspielt hatte, sank auf ihr Haupt.

Die Lage Karls X. war unterdeß in Versailles so unsicher geworden, daß er seine Flucht bis Rambouillet fortsetzte, wo man von Allem entblößt, der König weinend und schluchzend, mit Staub bedeckt, am Abend ankam; noch hoffte er, die Krone seinem zehnjährigen Enkel, dem Grafen Chambord, zu erhalten, unter der Generallieutnantschaft des Herzogs von Orléans, aber Frankreich wollte von dem »Wunderkind« damals so wenig wissen, wie heute. Der gestürzte König fügte sich endlich den Vorstellungen, die man ihm machte, und beschloß, sich nach England zurückzuziehen; man wollte keine Rache an ihm nehmen, ihm kein Leids zufügen, aber es war hohe Zeit, daß er ging. Ruhig ließ ihn das französische Volk ein neues Exil jenseits des Kanales aufsuchen, aus dem ihm keine zweite Rückkehr nach Frankreich zu Theil ward. Er starb zu Frohsdorf in der Verbannung, der Gegenwart ein Beispiel und eine Lehre bietend, das man trotzdem nicht begreifen wollte. – Schon am 7. August folgte ihm Louis Philipp auf den Thron, nachdem man in der Kammer in großer Eile die Verfassung nach den Wünschen der Mehrheit umgestaltet hatte. Fast einstimmig war der Herzog von Orléans zum Könige gewählt worden; als ihm nun im Palais Royal Lafitte, an der Spitze der Deputirten, den Willen der Nation kund gab, und sich der Herzog ihm als Zeichen der Annahme in die Arme warf, erscholl wiederum ein lauter Ruf des Enthusiasmus, der sich noch steigerte, da jetzt Louis Philipp und Lafayette auf dem Balcon[195] erschienen, und der alte Königsbeherrscher seinem Schützling zurief: »Sie sind der Fürst, wie wir ihn bedurften!«

Damit brach glorreich und rasch die Zeit des Bürgerkönigthums über Frankreich an, um 18 Jahre später noch schneller wieder zu erlöschen.[196]

Quelle:
Luise Büchner: Deutsche Geschichte von 1815 bis 1870. Leipzig 1875, S. 167-197.
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