Vorwort

Die allgemeine Mangelhaftigkeit der historischen Kenntnisse unter unserer Frauenwelt, welche wohl ihren vornehmsten Ursprung in dem durchschnittlich noch sehr unzureichenden Unterricht dieses wichtigen Gegenstandes findet, bewog mich schon vor einer Reihe von Jahren, strebsamen Mädchen und auch Frauen, die sich dafür interessirten, während der Wintermonate Vorträge über allgemeine Geschichte in aufsteigender Reihenfolge von den ältesten Zeiten an, zu halten. Je mehr ich mich der Neuzeit näherte, je mehr bildete naturgemäß die deutsche Geschichte den Mittelpunkt dieser Vorlesungen, bis dann zuletzt die Darstellung des 19. Jahrhunderts, bei den jungen Hörerinnen vornehmlich, ein ganz besonderes Interesse erregte.

Dies fand sich auf's Neue bestätigt, als nach der Begründung des Alice-Lyceum in Darmstadt, diese Vorträge einem größeren Kreise zugänglich wurden, und ich, während dreier Winterhalbjahre, in je zwanzig Vorlesungen die deutsche Geschichte, von der Zeit des westphälischen Friedens bis 1870, vortrug. Auch hier zeigten sich die Hörerinnen durch die Geschichte der neuesten Zeit besonders lebhaft angeregt und so sehe ich mich durch eine[5] zweimalige Erfahrung veranlaßt, den letzten Abschnitt meiner Vorträge, die Zeit von 1815–70 behandelnd, nach nochmaliger sorfältiger Ueberarbeitung, dem Drucke zu übergeben, von der Hoffnung geleitet, damit auch dem jüngeren Lesepublikum, sowohl weiblichen, als männlichen Geschlechts, eine willkommene Gabe zu reichen.

Noch fehlt es fast ganz in unserer populären Geschichtsliteratur an einer kurzgedrängten und übersichtlichen Darstellung jener trüben und doch auch wieder so verheißungsvollen Epoche unserer Geschichte, welche einer besseren Gegenwart voranging, die man jungen Leuten zur Selbstbelehrung in die Hand geben könnte. Das überreiche, schon verarbeitete Material jener kaum vergangenen Zeit liegt noch so bruchstückartig und weit auseinander, entweder in bandreichen Werken, die aber nur einzelne Zeitabschnitte behandeln, oder in chronikartigen Darstellungen, Monographien, Biographien u.s.w. zerstreut, daß es der Jugend kaum zugänglich ist. Auch muß der rothe Faden des Selbsterlebten noch gar oft das Fragmentarische zusammenhalten, gar manche Zeitstimmung durch die Erinnerung des Schreibenden erst neu belebt werden. Darum hoffe ich mit meinem bescheidnen Werke, bis Vollendeteres geschaffen wird, eine Lücke auszufüllen, die man schon öfter im Familienkreise, wie im Schulzimmer empfunden hat; um dessen Lesbarkeit zu fördern und die Trockenheit, die von Geschichtserzählungen oft so schwer zu trennen ist, womöglich ferne zu halten, habe ich mich entschlossen, ganz einfach die Form der Vorlesung beizubehalten, weil ich denke, daß dadurch auch der Leser zum Hörer wird, und ihm das Gesagte frischer, anregender und lebendiger vor die Seele tritt.

Daß ich für meine Arbeit keine Quellenstudien gemacht, keine gelehrten Forschungen angestellt, versteht sich[6] fast von selbst, aber mit unermüdlichem Fleiße habe ich mich bemüht, den Stoff, den ich den besten vorhandenen Geschichtswerken1 entnommen, zu einem klaren, lebendigen Bilde zu gestalten, dabei den Pinsel mit offenen Freimuth in jene Farben tauchend, die ich in meinem eignen Denken und Empfinden vorfand. Doch gilt dies Letztere nur von der allgemeinen Auffassung, im Einzelnen war ich redlich bestrebt, die Menschen und Dinge im richtigen Verhältniß zu ihrer Zeit, ihrer Umgebung und Entwickelung zu kennzeichnen.

Mit dem Vertrauen, daß man meine Absicht nicht mißversteht, daß Niemand glaubt, ich wolle hier ein gelehrtes Werk liefern, übergebe ich mein Buch der Oeffentlichkeit, und zunächst den Händen der deutschen Jugend, wobei ich ihr den Wunsch ausspreche, daß sie gerne, trotz der Mängel, die ihm ohne Zweifel anhaften, in diesen Spiegel unserer letzten historischen Vergangenheit, den eine wahrhaftige und voll Wärme für ihr Vaterland empfindende Gesinnung vor ihr aufstellt, schauen möge. – Ja, blicke getrost hinein, deutsche Jugend, und wenn Du auch vieles Schmerzliche dabei erschaust, so erinnere Dich stets[7] daran, wie schwer sich Deine Nation durch eine lange, dunkle Nacht zum Tage durchgerungen! Vergiß es nimmermehr, wie sie es auch für Dich gethan, und wie es darum Deine heiligste Sorge sein muß, darüber zu wachen, daß es fortan hell und licht bleibe im deutschen Vaterlande, für alle Zeit!


Darmstadt, im Februar 1875.

Luise Büchner.[8]

Quelle:
Luise Büchner: Deutsche Geschichte von 1815 bis 1870. Leipzig 1875.
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