11. Der diebische Rathsherr zu Schweidnitz.

[51] Es hat sich bei dem Alterthum eine seltsame Geschichte zugetragen, daß ein Rathsmann, welcher dem Stadt-Keller gegen über gewohnet, sich das Gold der gemeinen Schatzkammer verblenden[51] lassen. Damit er nun seinen Gold- und Geldhunger stillen möchte, hat er eine Dohle unterrichtet, welche zu Abends durch eine ausgebrochene Glasscheibe, oder durch offenes, mit eisernem Gegitter verwahrtes Fenster, in die alte Rathsstube eingeflogen und von der goldenen Münze (welche man, wegen genugsamer Sicherheit des Zimmers, nicht in die Kasten verschlossen, sondern auf dem Tische liegen lassen) täglich ein Stück oder mehr in dem Schnabel mit sich nach Hause gebracht.

Als man endlich den großen Abgang und die Verminderung des Goldes verspüret, haben die Rathsleute sich selbst unter einander in Verdacht gezogen, deswegen sie einen verordnet, der zu Nachts in der verschloßnen Rathsstube verblieben und auf den Dieb ein wachsames Auge führen sollte. Nach der Sonnen Untergang, bei eingetretener Dämmerung, kommt die Dohle, nach ihrer abgerichteten Gewohnheit, durch das Fenster hinein, ergreift mit dem Schnabel ein Stück Goldes und fleuget mit dem Raube davon, in ihres Lehrers Behausung. Als man nun diese List eigentlich wahrgenommen, sind etliche Goldstücke gezeichnet, auf den Rathstisch geleget und nachmals von dem fliegenden Boten abgehohlet worden. Worauf dann der ganze Rath sich in gewöhnlicher Rathsstube versammlet und darüber den Entschluß gefaßt: was[52] derjenige für einer Strafe würdig, welcher das gemeine Wesen beraubete? Unter andern gab der schuldige Rathsherr, unwissentlich, wohin solche Rathsversammlung angezielet, folgende Meinung: daß derselbe, der dem gemeinen Wesen die Einkünfte zu schmälern und zu entziehen sich unterstünde, würdig sei, daß er von dem obersten Umgange und steinernen Kranze des Rathsthurmes bis auf die Erde herunter steigen, oder darauf sein Leben, durch Zwang des Hungers, verlieren müßte.

Unterdessen schickte man gewisse Gerichtspersonen in des schuldigen Rathmannes Behausung, darinnen nicht allein der fliegende, zum Dienst abgerichtete, Bote, sondern auch die gezeichnete Goldmünze anzutreffen gewesen. Da nun besagter Rathsmann, der allbereit ein hohes Alter erreicht hatte, seinen getreuen Boten und die Münze, wem dieselbe zuständig, erkannte, hat er sich der von ihm ausgesprochenen Strafe, ob man selbige zwar, aus Ansehung seines grauen Alters, erlindern wollen, willig und geduldig unterworfen.

Der alte Mann, der zuvor in großen Ehren saß, stand, nach eröfnetem und von ihm gefälltem Urtheil, auf dem Kranze des Thurmes, in Gegenwart vieler hundert Menschen. Er war voller Todesangst, jedoch rafte er seine noch übrigen Kräfte zusammen, daß er bis unter den Kranz, auf ein steinern[53] Geländer oder dreieckigten Thurmwinkel mit Zittern und Zagen abgestiegen, allwo er auch, nachdem er sein eigenes Fleisch an Armen und Füßen, so weit er sich mit den Zähnen erreichen können, vor Hunger abgenaget, am zehnten Tage erbärmlich gestorben ist.

Quelle:
Johann Gustav Büsching: Volks-Sagen, Märchen und Legenden. Leipzig 1812, S. 51-54.
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