71. Der treue Burggeist zu Scharzfeld am Harz.

[341] Im elften Jahrhundert gehörte diese Burg dem Oberberghauptmann von Helden, dessen schöne Frau Kaiser Heinrich der vierte in Goßlar kennen lernte. Böse Wünsche stiegen in ihm auf, er wußte auf[341] ne geschickte Weise den Mann von der Burg Schatzlar zu entfernen, jagte oft in der Nähe derselben, ward von einem Ungewitter überfallen und die Thore der Burg öffneten sich ihm zum Schutze. Die einsame Burgfrau war schwach genug, nicht dem Gedanken widerstehen zu können, daß ein Kaiser ihrer Schönheit huldigte und ward ihrem Gemale treulos.

Die unwürdige Liebe des Kaisers hatte ein Pfaffe aus dem nahen Kloster Pöhlde unterstützt. Zwar war diese Mitwirkung ganz geheim getrieben worden, aber der Verräther schläft nicht, hier war es der Burggeist. Lange hatte dieser sein Wesen auf dem Schlosse getrieben, spukte in der Küche, im Keller, besonders aber auf dem runden Thurme, der vor dem Schlosse stand. Man war seiner so gewohnt, da er niemand beleidigte, hörte sein Gepolter und sein Geheul ohne Grausen, da es zu oft kam und ließ ihn ruhig seinen Unfug treiben.

Dieser Burggeist erhob jetzt ein ungewöhnlich fürchteliches Geheul, tobte entsetzlich, ob dieser Schandthat, in der ganzen Burg herum und erschütterte sie in ihrer Grundfeste. Gefoltert von den heftigsten Gewissensbissen irrte die Gefallene aus einem Winkel in den andern; das Hofgesinde schlug Kreuz auf Kreuz und erwartete allgemeine Zerstörung mit bebenden Gliedern. Doch nicht züchtigen[342] wollte der Geist, nur aufbrechen und seinen alten Sitz verlassen. Es war ihm nicht möglich, hier länger zu verweilen, wo die Unschuld und Tugend vom Reichsoberhaupte selbst mit Füßen getreten war. Unter krachenden Donnerschlägen fuhr er im runden Thurme hinauf, hob die Bedachung desselben ab, und stürzte sie in die Tiefe, schwebte über Scharzfeld, schrie es laut über die ganze Gegend aus, daß der Pfaffe mehr als der Kaiser an dieser Sünde schuldig sei und verschwand.

Seit der Zeit hat kein Dach wieder auf dem Thurme festsitzen wollen, so oft man es auch zu erneuern versuchte; denn der Burggeist kam immer und riß es ab. Der Pfaffe aber ging sein Lebelang verstört umher und kam nie wieder zu einem heitern Gesichte.

Quelle:
Johann Gustav Büsching: Volks-Sagen, Märchen und Legenden. Leipzig 1812, S. 341-343.
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