74. Die Tidianshöle bei Schloß Falkenstein am Harz.

[353] Ihr Eingang, der sehr niedrig und beschwerlich ist, befindet sich am Fuße eines der Seltenberge, und die Entstehung ihres Namens, Tidian, verliert sich im grauen Alterthume.

Eine unter dem gemeinen Manne sehr verbreitete Sage macht diese weitläuftige unterirdische Höle zu einer Goldgrube, in der mancher Schatzgräber, die sogar aus Venedig hierher gewandert sein sollen, große Schätze gefunden hat. Wenigstens sprechen die Spuren vom Durchwühlen und Umgraben der Erde, die man hier herum findet, für die Wahrheit der Sage in Rücksicht des Suchens[353] wenn man auch an dem Finden zweifeln muß. Man erzählt von einer großen Statüe von gediegenem Golde, die mehrere Personen in einem Gange der Höle gesehen, und auch davon große Klumpen Gold abgeschlagen haben sollen. Bei näherer Untersuchung habe man gefunden, daß dieses Gold an Feinheit und Reinheit alles andere übertreffe; die wiederholten Versuche dieser glücklichen Schatzgräber wären aber nicht mit eben dem Erfolge belohnt worden, denn alles Suchens ungeachtet hätten sie den Eingang zur Höle des goldenen Mannes nicht wieder finden können.

Unter allen diesen fabelhaften Sagen von der goldreichen Höle des Tidians ist folgende am meisten in der Gegend verbreitet, und trägt am unverkennbarsten den romantischen Charakter der grauen Vorzeit, in welchem wir fast immer die rächende Nemesis, dem Verbrechen auf dem Fuße folgend, erblicken.

Vor mehrern Jahrhunderten lebte auf der alten Burg im Dienste eines Grafen von Falkenstein ein frommer gottesfürchtiger Schäfer. Eines Tages, es war der St. Johannistag, als er ruhig seine Heerde am Fuße der Berge weidete, erblickte er in der Mittagsstunde im Thalgrunde eine wunderschöne Blume, die sogleich seine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Voll Verwunderung über den seltenen[354] Schimmer ihrer herrlichen glänzenden Farben eilte er auf dieselbe zu, pflückte sie, und befestigte sie, nicht wissend, welches köstliche Kleinod er besitze, auf seinem Hute. Kaum hatte er sich wieder ruhig neben seiner Heerde im Schatten einer Eiche gelagert, als er nicht fern von sich den Eingang einer Höle erblickte, die er bis zu dieser Stunde, so oft er auch schon in dieser Gegend seine Schafe gehütet, nie wahrgenommen hatte. Voll Verwunderung über diesen neuen Anblick und voll Neugierde, das Innere dieser Höle näher zu untersuchen, betrat er dieselbe, und fand sie mit einem glänzenden Sande angefüllt. Außer sich vor Freude über den glänzenden Fund, und ahnend, daß dieser Sand mehr als gewöhnlicher Sand sei, füllte er seine Taschen mit dem schimmernden Funde, und trug denselben ohne Jemanden ein Wort von seinem Abentheuer zu erzählen, nach Magdeburg zu einem Goldschmidt. Dieser, dem beim ersten Anblicke sogleich der Schimmer des edelsten Metalls entgegenstrahlte, und der bei näherer Untersuchung die vorzügliche Reinheit und Güte desselben entdeckte, bezahlte den Schäfer ansehnlich, und bat ihn, in der Hoffnung eines künftigen größern Gewinns, ja recht bald und oft mit gefüllten Taschen zu ihm zurück zu kehren. Glücklich und überglücklich über seinen Fund, kehrte der ehrliche Schäfer[355] zu seiner Heerde, und sein Glück nicht mißbrauchend, nur dann erst zu seiner Goldgrube zurück, als das für seine erste Ladung gelöste Geld aufgezehrt war.

So setzte er geraume Zeit, seine Entdeckung in den sichernden Schleier des Geheimnisses gehüllt, seine Gänge zur Höle des Ueberflusses und von da zu dem Goldschmidt nach Magdeburg fort.

Nun begab es sich, daß sein Herr, der Graf von Falkenstein, zu seiner bevorstehenden Vermählung mit seiner schönen Braut bei demselben Goldschmidt, den sein Schäfer so reichlich mit Golde versorgte, Ringe und anderes kostbares Geschmeide bestellte. Er erstaunte, als ihn der Goldschmidt fragte, ob er gewöhnliches oder Tidianisches Gold haben wollte, denn ihm war wohl bekannt, daß in seinen Waldungen ein ganzer Distrikt seit langer Zeit den Namen des Tidian führe. Auf seine Frage, was das für Gold sei und woher er es erhielte, belehrte ihn der Goldschmidt, daß das Tidianische Gold das schönste und reinste sei, was man bis jetzt kenne, und daß ein alter Schäfer ihm von Zeit zu Zeit davon bringe. Der Graf von Falkenstein, nur noch neugieriger durch diese Antwort gemacht, bat den Goldschmidt, ihn rufen zu lassen, sobald sein Goldlieferant zu ihm käme. Nicht lange, so erhielt der Graf die Nachricht, daß der[356] Schäfer da sei, und er säumte nicht, sich sogleich zu dem Goldschmidt zu begeben. Hier fand er nun, zu seinem großen Erstaunen, in der Person des Goldmännchens seinen alten, wohlbekannten Schäfer, der eben so sehr erstaunte, hier mit seinem Herrn zusammenzutreffen, und sein so lange bewahrtes Geheimniß entdeckt zu sehen.

Arglos erzählte er auf das Geheiß seines Herrn diesem sein glückliches Abentheuer, und erbot sich, ihn zu der wunderbaren Höle des Tidian zu geleiten. Kaum war der Graf von Falkenstein auf seiner Burg angelangt, als er in Begleitung seines Schäfers den Weg zur Höle antrat, und die magische Kraft der Wunderblume, die der Schäfer noch immer, jedoch unbewußt, welche geheime Kraft dieselbe besitze, auf seinem Hute trug, zeigte auch beiden den Eingang zu den unterirdischen Schätzen, von denen sie, so viel sie fortbringen konnten, mit sich nahmen.

Der Graf entzückt über den glücklichen Ausgang seiner ersten Wanderung, erdrückte fast mit Liebkosungen den ehrlichen Schäfer, den er als den Urheber seines künftigen unermeßlichen Reichthums pries, und wiederholte bald in seiner Begleitung die Wallfahrt zur Höle des Tidian mit eben so glücklichem Erfolge. Doch seine mit dem zunehmenden Reichthum wachsende Habsucht, seine unersättliche[357] Goldgier peinigte ihn Tag und Nacht mit dem Gedanken, seine Schätze mit Jemanden theilen zu müssen, und der quälende Argwohn, daß sein Schäfer das Geheimniß der Höle weiter verbreiten und ihn so um den größten Theil seiner von der Zukunft gehofften unermeßlichen Schätze bringen könne, verdrägte bald jedes menschliche Gefühl aus seiner Brust, und verleitete ihn zu der fürchterlichen Grausamkeit, seinem Wohlthäter die Augen ausstechen zu lassen. Da that der arme geblendete Mann, seinen Peiniger verfluchend, den Wunsch, daß die Höle sich augenblicklich schließen, und so lange verschlossen bleiben möchte, bis drei gebrechliche regierende Herren, als ein Lahmer, ein Stummer und ein Blinder, auf dem Falkenstein residirt haben würden.

Sein Wunsch ward erhört, denn obgleich der Eingang zu der Höle des Tidians noch heut zu Tage existirt, so findet man doch nirgends mehr die Oeffnung zu der goldreichen Grotte, und obgleich bereits ein lahmer und ein stummer Herr von der Asseburg (von welchem Letztern sich das Bildniß noch in dem Rittersaale befindet) auf dem Falkenstein residirt haben sollen, so möchte doch wohl der dritte und letzte, der zur Oeffnung der Höle erfordert wird, umsonst erwartet werden, da nun[358] schon seit 50 Jahren die alte Burg unbewohnt steht.

Quelle:
Johann Gustav Büsching: Volks-Sagen, Märchen und Legenden. Leipzig 1812, S. 353-359.
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