266. Die Enzjungfrau.

[251] Auf dem Berge bei Neuenbürg steht das dachlose alte Schloß, und in dem Bergwald jenseits der Enz liegen die wenigen Ueberbleibsel der Raubburg. Der Mörtel beider Schlösser ist mit Wein angemacht, und deßhalb das Gemäuer von großer Festigkeit. Von der einen Burg zur andern führte ein unterirdischer Gang, dessen Thüren jetzt verschüttet sind. In ihm liegt ein Schatz, den ein schneeweißes Fräulein, die Enzjungfrau, hütet. Zuweilen sieht man sie abends von der Raubburg über die Schlößleinsbrücke auf das alte Schloß gehen, wo auch ein mitternächtliches Licht umwandelt[251] und bis an die Enz herabkömmt. In dieser sah einst beim Mondschein ein Birkenfelder Mann einen weißen Schwan heranschwimmen und warf ihm drei Brocken Brod zu. Da verwandelte sich der Schwan in die Enzjungfrau, die in einem Schifflein von lauterm Golde saß und zu dem Manne sagte, er solle in der nächsten Nacht um zwölf auf das alte Schloß kommen, dort den Stein, welchen sie ihm beschrieb, bei Seite schieben und in das Gemach darunter steigen, wo er einen guten Fund thun werde. Zur bestimmten Zeit war der Mann auf dem Schlosse, wälzte den Stein weg und eröffnete dadurch den Zugang zu einer langen Treppe, die ihn in das Gemach hinabführte. Darin brannte Licht, an der Wand stand ein Menschengerippe, mit einem Halseisen angekettet, und dabei, auf dem Boden, ein Hafen, worin drei weiße Kirschkerne lagen. Weiter konnte der Mann nichts entdecken und ging deßhalb unzufrieden nach Hause, wo er seinem Nachbar alles erzählte. Von demselben ward ihm gerathen, die Kirschkerne, welche wahrscheinlich Gold seien, zu holen; aber als er in der folgenden Nacht es thun wollte, konnte er weder den Stein noch den Eingang mehr finden.

Manche behaupten, die Kirschkerne würden, wenn der Mann sie genommen, sich in drei Schlüssel verwandelt haben, mit denen er den unterirdischen Gang hätte aufschließen, dann den dortigen Schatz gewinnen und das Fräulein erlösen können.

Quelle:
Bernhard Baader: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Band 1, Karlsruhe 1851, S. 251-252.
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