108. Worüber die Glocken gehen, das ist heilig.

[94] Wie Sie wohl schon öfter gehört haben, stand vor alten Zeiten vor dem Brandenburger Thor ein Galgen. Vor vielen Jahren ist nun einmal in der Nacht ein alter hiesiger Fischer, Namens Eichholz, an demselben vorbeigekommen gerade als noch der Körper eines Hingerichteten daran gehängt hat. Der alte Mann kam von dem Dorfe Thurow, wo er wohl etwas mehr getrunken hatte, als ihm gut und[94] dienlich war, und so kam es denn, daß er in seiner übermüthigen Laune, ohne weiter etwas Arges dabei zu denken, den im Winde Baumelnden spottend aufforderte, doch einmal herunter zu kommen und mit ihm Abendbrot zu essen. Kaum hatte der Fischer diese frevelhaften Worte ausgesprochen, da stieg auch schon das Gerippe von dem Galgen, und kam zu seinem größten Entsetzen geradewegs auf ihn zu. Schauerlich mit der dürren Hand drohend, sprach es dann mit hohler Stimme ›Bist du morgen Nacht zwölf Uhr nicht pünktlich wieder hier, so hole ich dich!‹ und damit entfernte es sich wieder. Halb todt vor Angst und Schrecken, mit klappernden Zähnen und über und über mit Schweiß bedeckt, kam der alte Fischer zu Hause an. Sofort eilte er in seiner so großen Noth zu dem damaligen Prediger, beichtete selbigem Alles genau und ausführlich und bat ihn flehentlich um seinen Rath und Beistand. Der Pastor, ein sonst sehr kluger und gelehrter Herr, sann viel hin und her; trotz alles Nachdenkens und Kopfbrechens wußte er aber keine rechte Hilfe ausfindig zu machen und keinen andern Ausweg anzugeben, als daß Eichholz thun müsse, wie ihm der Erhängte geheißen; doch werde er selbst mitgehen und ihn zu retten versuchen. Am andern Abend spät trat nun mit Zittern und Zagen der reumüthige Fischer seinen schweren Gang an. Der Pastor sowie noch einige Freunde begleiteten den Armen und hatten ihn zwischen sich in ihre Mitte genommen, und so schritten, unter dem Geläute der Kirchenglocken, ernst und schweigend die Männer durch die stille Nacht dahin. Schon von ferne sahen sie im Mondenscheine den Galgen und darunter den Erhängten, wie er grinsend mit den Knochenfingern winkte. Als die Wanderer dem Hochgerichte ziemlich nahe waren, machten sie Halt. Noch einmal fiel hier der Fischer mit dem Pastor auf die Knie und rief laut Gott um seinen Schutz und Beistand an. Nachdem er nun auch noch das heilige Abendmahl empfangen hatte, gab er gestärkt und gekräftigt dem Pastor und jedem seiner Freunde die Hand zum Abschiede, und ging dann, seine Seele dem Allmächtigen empfehlend, gefaßt und ergeben allein dem Gerippe entgegen. Doch als er dasselbe beinahe erreichte, winkte es ihm zurück und sprach ›Das Gebet und das heilige Abendmahl haben dich nicht gerettet, wohl aber die Glocken, denn worüber die gehen, das ist heilig; und so kehre denn wieder[95] heim in Frieden, laß aber künftig die Todten in Ruhe!‹ Darauf ist das Gerippe verschwunden und der alte Fischer unangefochten wieder mit seinen Begleitern nach Hause zurückgekehrt.


Nach einer Erzählung von Mutter L..r bei Niederh. 1, 23 f.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 94-96.
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