4.

[124] In einer Mainacht ging ein Bote von Sternberg nach Schwerin. Sein Weg führte ihn durch das Dorf Jülchendorf. Wer des Weges kundig ist, wird wissen, daß sich in der Nähe dieses Ortes ein Eichenholz befindet, und daß in demselben ein ziemlich hoher Berg liegt. Als der Bote in die Nähe dieses Berges kam, richtete er zufällig seine Augen nach dem Gipfel desselben. Hier gewahrte er eine große Menschenmenge, die, wie es schien, ein Saufgelage hatte; denn der Bote vernahm ein Gläsergeklirr, daß der Gipfel des Berges davon erschallte. Dem Boten wurde ganz unheimlich zu Muthe. Nachdem er einigermaßen sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte, näherte er sich der Gruppe, um ihrem Treiben zuzuschauen. Was seine Aufmerksamkeit am meisten fesselte, war eine mächtige Riesengestalt, deren Stimme klang wie das Rollen des Donners. Wer beschreibt aber das Entsetzen des armen Boten, als es plötzlich durch die Eichen rauschte, und der Riese, den er noch soeben auf dem Berge gesehen, in seiner ganzen Größe vor ihm stand. Er glaubte nichts Andres, als daß seine letzte Stunde geschlagen habe. Nicht wenig wunderte er sich daher, als der Riese ihn statt dessen mit folgenden Worten anredete ›Alter, du bist hungrig und durstig, willst du mitessen und trinken, so[124] komm und sei nicht blöde.‹ So unangenehm ihm diese Einladung nun auch sein mochte, so mußte er doch gute Miene zum bösen Spiel machen. Ohne Zögern folgte er dem Riesen, und als sie oben angelangt waren, mußte unser Bote sogleich Platz nehmen. Vor ihm standen die schönsten Speisen und kleine daumenlange Wesen standen zu seiner Aufwartung vor ihm. Jetzt hatten sie ihn mit Allem versehen, und er brauchte nur zur Ausführung zu schreiten. Er erfaßte Messer und Gabel, aber, siehe da! er vermag es nicht zu heben, obgleich es nur die gewöhnliche Größe hatte. Das verdrießt ihn, und schon will er sich entfernen, da naht sich ihm ein altes, häßliches Weib, das, wie es ihm schien, in sein Dorf gehörte, und raunte ihm ins Ohr ›Der dir gegenübersitzt, hindert dich daran. Spei ihm ins Angesicht, und es wird dir gelingen.‹ Kaum aber hatte er es gethan, als ihn plötzlich ein Sturmwind erfaßte und den Berg hinunterwarf, daß seine Glieder fast zerschellt wären. Reisende, die an der Stelle vorüberzogen, fanden ihn und brachten ihn in die nächste Stadt, wo er lange krank lag.


Von einem Seminaristen in Neukloster; vgl. Meklenburg. Jahrbücher 5, 83 (Niederh. 3, 140).

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 124-125.
Lizenz:
Kategorien: