192. Die Watermöhm.

[153] In der Elde bei Slate, in der Nähe von Parchim, wohnt die ›Watermöhm‹. Der Ortspastor ging eines Abends am Ufer des Wassers spazieren, da hörte er es aus demselben mit dumpfer Stimme rufen: ›De Stunn is dor, æwer de Knaw noch nich.‹ Dem Pastor wurde graulich zu Muthe und er kehrte nach dem Dorfe um. Da begegnete ihm ein Knabe, der auf seine Frage, wohin er wolle, sagte, er wolle Schnecken und Muscheln am Wasser sammeln. ›Thu das nicht,‹ sagte der Pastor, ›da hast du einen Schilling, geh und hol mir aus meinem Hause die Bibel, die auf meinem Tische liegt.‹ Der Knabe lief eiligst fort und kam bald mit der Bibel wieder, wie der Pastor beim Kruge vorbeiging. ›Jetzt geh ich ans Wasser,‹ sagte der Knabe. ›Nicht doch,‹ versetzte der Pastor, ›da geh und laß dir ein Glas Bier im Kruge geben.‹ Der Knabe trank das Bier, und fiel todt hin. Die Stunde war da, die die Stimme verkündet hatte, und der Knabe auch.


W. Heyse in Leussow; vgl. Mussäus in den Meklenburg. Jahrbüchern. 5, 78. NS. 84, 304. Eine ähnliche Geschichte, aber ohne diesen tragischen Ausgang, mitgetheilt von Lehrer[153] F. Haase in Rostock, ist diese: Ein Müller aus Hohen-Luckow bei Doberan wollte mal von Schwerin nach Hause zurückkehren. Sein Weg führte ihn am Schweriner See vorbei. Es war Winter und der See hatte sich mit einer dünnen Eisdecke belegt. Als er so dahin geht, hört er auf einmal eine Stimme aus dem See rufen: ›Tid und Stunn' is dor, aewer de Minsch noch nich.‹ Wie er noch darüber nachdenkt, sieht er einen Menschen in rasender Eile auf sich zukommen. Trotz der ziemlich strengen Kälte geht er doch in Hemdärmeln, während er den Rock über den Arm geschlagen hat. Der Müller, über das sonderbare Gebahren des Menschen verwundert, sucht ihn aufzuhalten, um nach dem Grund seiner Eile sich zu erkundigen. ›Guter Freund!‹ ruft er ihn an, ›kann er mir nicht ein wenig Feuer auf meine Pfeife geben?‹ Doch der Fremde scheint seine Bitte gar nicht zu beachten. Das Verstörte seines ganzen Aussehens sagt dem Müller immer deutlicher, diesen Menschen müsse er festzuhalten suchen. Er thut dies durch Gespräch. Er fragt ihn, wohin er denn so eilig wolle. Der Fremde ruft ihm zu, daß er um jeden Preis zu einer bestimmten Stunde in Schwerin sein müsse. Auf den Einwand des Müllers, daß dies ja unmöglich sei, antwortet er, er werde seinen Weg über den See nehmen. Jetzt, denkt der Müller, muß Gewalt angewendet werden. Er ergreift den Fremden, wie ein Wüthender ringt dieser mit ihm und nur die körperliche Ueberlegenheit läßt den Müller die Oberhand behalten. Endlich läßt der Unbekannte nach – ein tiefer Seufzer entsteigt seiner Brust, gleichsam als sei er aus einem ängstlichen Traume erwacht, und nun erzählt er dem Müller, daß es ihn mit unwiderstehlicher Gewalt getrieben habe, über den See zu gehen, er habe gar keine Veranlassung, nach Schwerin zu gehen und werde jetzt mit ihm umkehren. Bei seinem Abschiede konnte er nicht Worte genug des Dankes finden und gesteht nun selbst, daß er ohne die Ankunft des Müllers jetzt im Grunde des Sees gebettet läge.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 153-154.
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