257. Der Schäferknecht zu Raguth.

[206] Der alte Kirchenjurat Schmidt zu Tessin erzählt: Wohl noch vor dem Jahre 1740 lebte auf dem Hofe zu Raguth ein Schäferknecht. Er war ein gottloser Mensch. Nun begab es sich, daß, wenn er die Schafe hütete auf der Seite, wo die Raguther mit der Tessiner Feldmark zusammenstößt, er sehr oft seine Schafe weit auf das Tessiner Feld gehen ließ. Stellte man ihn darüber zur Rede, so pflegte er trotzig zu entgegnen, daß all der Acker bis nahe an Tessin seinem Herrn gehöre.

Er hatte schon geraume Zeit diesen Unfug getrieben, als er eines Tages, da er dasselbe Stück aufführte, von Tessiner Leuten gepfändet wurde. In damaliger Zeit hatte jeder Edelmann an seinem Hofe eine eigene Gerichtsbarkeit. Das war auch in Tessin der Fall, und vor dieses Gericht wurde der Schäferknecht geführt. Hier sollte er schwören, daß er zu seinem Thun berechtigt gewesen sei. Und er schwur ›Ik sta up minen Herrn sin Sand un Land.‹ Er hatte nämlich Sand von der Raguther Feldmark in seine Schuhe oder Stiefel gethan, und so schwur er, daß er auf seines Herrn Sand und Land stehe. Nun sollte er schwören, daß er jetzt auf Raguther Acker gehe. Und er schwur weiter ›Ik ga up minen Herrn sin Grund und Bodden.‹ Kaum hatte er aber diesen Eid geleistet, so wurde seine Zunge schwarz, seine Sprache war fort, und am dritten Tage war er eine Leiche.

Seit dieser Zeit muß er in den Zwölften des Abends und Nachts auf der richtigen Scheide wandern, wobei er spricht ›Hir geit dei Scheid! hir! hir!‹ Sehr oft sind Leute in der Gegend, wo der[206] Schäferknecht sein Wesen hatte, bis zu unsern Bauernhöfen (den Tessiner) verirrt und in das Torfmoor gerathen, von wo heraus sie nur mit Mühe kommen konnten. Mir selber ist es einmal ähnlich ergangen, als ich spät Abends am Neujahrstage von Döbbersen zurückkehrte. Als ich bei der Raguth-Tessiner Scheide anlangte, war es vollkommen Nacht. Ich hatte nun noch durch das kleine Gehölz zu gehen und dann einen Fußsteig, der damals dort vom Fahrwege ablief und bis zu unsern Bauernhöfen führte, zu betreten. Glücklich gelangte ich auf diesem Pfade bis zu den beiden bekannten alten Eichen. Bald nachher mußten einige Schmale Gräben kommen, die ich zu überschreiten hatte. Sie kamen; aber es schien, als wollte ihre Zahl gar nicht enden; immer wieder kam ein Graben. Als ich mich wieder zurechtfand, war ich ganz nahe am Fahrwege.

Zu meines Vaters Zeit lebte ein Schäferknecht auf unserm (dem Tessiner) Edelhofe. Es war damals noch Sitte, auch auf den Höfen, daß die Schafe des Nachts bei schönem Wetter draußen blieben. Sie wurden als dann in Hürden getrieben und der Schäferknecht kroch in seine Hütte. Eines Nachts, gleich als ob Wölfe zwischen sie gefahren wären, stob die Heerde auseinander, die Schafe sprangen alle über die Hürden und flohen dem nahen Gehölze zu. Der Knecht brachte sie mit Hilfe seines Hundes jedoch bald wieder zusammen und legte sich wieder in seine Hütte. Aber es wiederholte sich zum zweiten- und drittenmal. Als die Heerde auch zum viertenmal entfloh, rief der Knecht voll Zorn: ›Hest du sei mi wegjagt, denn kannst du sei mi ok man wedder bring'n.‹ Ruhig blieb er in seiner Hütte. Wie er am folgenden Morgen aufstand, um nach seinen Schafen zu sehen, standen und lagen sie ruhig in ihren Hürden, und es war, als ob nichts geschehen wäre.


Ein Seminarist in Neukloster.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 206-207.
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