284. Geist barbiert.

[220] In einem Wirthshaus an der Landstraße war eine Stube, in der Niemand des Nachts mehr bleiben wollte, weil Alle, die darin[220] gewohnt, am Morgen todt gefunden worden waren. Eines Abends kommt ein vornehmer Herr an, um die Nacht zu bleiben. Es war aber jede Stube besetzt, bis auf die eine. Der Wirth theilte ihm mit, daß es darin nicht geheuer sei; der Herr aber lachte und sagte, der Wirth solle ihm nur ein Bett darin aufmachen lassen. Das geschah. Der Fremde läßt das Licht brennen und schläft ein. Plötzlich geht die Thür auf, er erwacht und sieht, wie ein dicker, starker Mann, mit einer kurzen Jacke bekleidet und mit einer schwarzen Sammtkappe auf dem Kopfe eintritt. Ein Putzgeschirr hat er in einem Beutel unterm Arm, macht es auf, holt das Putzmesser heraus und streicht es am Riemen auf und ab. Jedesmal, wenn er zum Ende des Riemens kommt, sieht er den Fremden an und winkt ihm, er solle sich rasiren lassen. Der Gast ermannt sich und setzt sich schweigend auf einen Stuhl vor dem dicken Mann. Dieser schlägt schweigend Schaum, seift ihn ein und barbiert ihn ganz regelrecht. Wie er fertig ist, dankt er ihm und sagt, er sei nun erlöst. Er sei Krüger in dem Hause gewesen und habe aus Habsucht in diesem Zimmer einem Gaste den Hals abgeschnitten. Er sei zu ewigem Wandern verdammt worden, bis sich Jemand von ihm hier rasiren lasse. Das habe Keiner gewollt und daher habe er Alle getödtet. Jetzt habe er Ruhe gefunden. Da erlosch das Licht und der Geist war verschwunden. Der Fremde aber kam zum Erstaunen Aller am andern Morgen gesund zum Vorschein.


Pogge in Pölitz.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 220-221.
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