386. Das verwünschte Schloß Gammelin.

[290] Vor langer, grauer Zeit stand auf einem der Diedrichshäger Berge das schöne Schloß Gammelin. Die letzte Erbin desselben war eine junge schöne Jungfrau Namens Sarah. Sie lebt jetzt seit vielen hundert Jahren in einem der Berge, und ihr Schloß wird von starken Ketten gehalten, daß es nicht emporkommen kann. Ihre Diener und andern Unterthanen sind schon vor vielen Jahren übers Meer gewandert, bis auf ein Mädchen, das ihr mit aller Treue ergeben ist. Eines schönen Tages kamen zwei Schiffe von Rostock herunter und legten sich diesen Bergen gegenüber vor Anker. Man sah die Capitäne ans Land kommen und lange umherspähen, als suchten sie etwas. Endlich kam ein altes graues Männlein aus dem[290] nahen Walde auf sie zugeschritten, das sie fragten, ob es nicht wüßte, wo die Leute sich hier wohl aufhielten, die über das Meer geschafft zu werden wünschten? ›Die sind schon alle auf den Schiffen,‹ sagte der Kleine. ›Kommen Sie einmal her und blicken Sie über meine linke Schulter hin auf Ihre Schiffe, so werden Sie das gewiß sehen können,‹ fügte er auffordernd bei. Und richtig, auf dem Deck beider Schiffe wimmelte es von Menschen. Die Schiffer gingen auf Zurathen des Männchens an Bord und stachen in See.

Es ist noch nicht sehr lange her, als Jungfrau Sarah von sich hat etwas vernehmen lassen, und viele Leute wissen noch von Mutter oder Großmutter, wie dieselbe mit dem Kuhhirten zu Wittenbeck, der sein Vieh am Walde weidete, den Vertrag abgeschlossen hat, gegen guten Lohn und Brod ihre beiden Kühe ›Rörick‹ und ›Brünick‹ mit zu hüten. An jedem Morgen kamen Rörick und Brünick brüllend aus dem Walde zu seiner Heerde gelaufen und gingen den Tag über zwischen seinen Kühen. Des Mittags kam ein junges Mädchen mit dem Milcheimer in der Hand aus dem Walde. Sie war recht hübsch, auch gut gekleidet und hatte eine weiße Schürze vor. Sobald sie ihre Kühe beim Namen rief, eilten dieselben zu ihr, und nachdem sie gemolken waren, gingen die Kühe zur Heerde zurück und das Mädchen verschwand im Walde, in der Oeffnung eines Berges. Der Hirte fand bei einem gewissen Steine des Abends sein Vesperbrod nebst einer Kruke mit Bier – nach andern Mittheilungen wars Mittagsessen – und am Johannistage auch dort seinen Hütelohn. So ging es mehrere Jahre, bis ein neuer Hirte kam, mit dem sie den Contract nicht wieder eingegangen ist. In späteren Jahren ist von zwei Leuten, deren Heimat weit, weit von hier gewesen ist, und die sehr alte unbekannte und hier unverständliche und unleserliche Bücher bei sich geführt haben, wieder nach der schönen Erbin des Schlosses Gammelin gefragt und gesucht worden. Aus ihren alten Schriften haben diese Männer herausgelesen, daß das Schloß zwischen Wittenbeck und Brunshaupten stehe, nur der bestimmte Berg ist ihnen unbekannt gewesen. Sie haben daher einen ganzen Sommer in der Kühlung an den Bergen oft Tage und Nächte hindurch gehorcht und geforscht und doch den Ort nicht gefunden, auch Jungfer Sarah nicht erlöset.


Fr. Schulz bei Niederh. 3, 171 ff.[291]

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 290-292.
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