472. Der Krebs von Hagenow.

[344] Noch jetzt liegt der Stadt Hagenow die Pflicht ob, eine zwischen den Dörfern Heide und Eichhof befindliche Brücke, die über einen kleinen Bach, die sogenannte Lak, einen unbedeutenden Arm der Sude, führt, zu erhalten, obgleich sowohl beide Dörfer, als auch der Bach zum Amtsbezirk Hagenow gehören. Wie die Stadt zu dieser Verpflichtung gekommen, darüber lebt im Munde des Volkes nachstehende Sage.

Vor Zeiten hat man in Hagenow einen Krebs gefangen, der von ungewöhnlicher Größe gewesen. Der Fischer, der das Thier nicht kennt, liefert es an den Bürgermeister ab; doch weder dieser, noch der eiligst auf das Rathhaus berufene Magistrat hat eine Ahnung davon, was es für ein Geschöpf sei. Endlich nach gründlicher Besichtigung und reiflicher Ueberlegung entscheidet man sich dafür, daß es ein Modenschneider sei, da er ja zwei Scheeren mit sich führe.[344] Da die Kleider der weisen Väter der Stadt in sehr defectem Zustande sich befinden, einigt man sich schnell dafür, unter Beihilfe dieses Schneiders sich neue Kleider anfertigen zu lassen. Ein Stück Tuch wird herbeigeholt und auf dieses der Modenschneider gesetzt; wohin der kriecht, dahin schneidet ein Schneider der Stadt mit seiner Scheere. Als auf diese Weise das ganze Stück Tuch zerschnitten ist, werden die einzelnen Stücke zusammengenäht; doch man erstaunt nicht wenig; denn das Fabricat hat nicht die mindeste Aehnlichkeit mit einem Kleidungsstück. In gerechter Entrüstung über diesen unerhörten Frevel beschließt der hochweise Magistrat, den Modenschneider zum warnenden Exempel im Wasser zu Tode zu brühen. Als jedoch das Wasser in dem Kessel, in den man den Schneider geworfen, warm wird, sitzt dieser in einem Nu auf dem Kesselbaum. Daß ihm auf diese Weise nicht beizukommen, begreift man jetzt, und der Vorschlag, ihn in fließendem Wasser zu ersäufen, findet allseitige Zustimmung. In dem ersten fließenden Wasser, das man außerhalb der Stadt trifft, will man ihn vom Leben zum Tode bringen, und so kam man zu der Lak. Auf der Brücke wird angehalten; denn von hier soll er hinabgeworfen werden. Es geschieht; und als er im Wasser mit dem Schwanze hin und herschlägt, meint die auf der Brücke stehende Volksmenge, welche den Zug aus der Stadt hieher begleitet, er thue dies in der Todesangst, und gibt ihre Freude über das Gelingen ihres klug ersonnenen Racheplans durch laute Ausrufungen kund. Im selben Augenblick jedoch bricht die Brücke unter dem Volk, und daher hat noch heute die Stadt für Erhaltung derselben Sorge zu tragen.


Von einem Seminaristen in Neukloster.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 344-345.
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