495. Die tanzenden Mädchen.

[361] Zur Zeit, als meine Großmutter ein junges Mädchen war, hatte der Küster K. sein Dienstmädchen und deren Schwester, zwei hübsche junge Mädchen, in die Stadtkirche geschickt, um dieselbe zu reinigen. Die beiden flinken Mädchen kehrten und fegten nach Herzenslust. Als sie bis zu dem großen, freien, mit glatten Fliesen belegten Platz vor dem Altare gekommen waren, sagte die Eine ›Hier muß es sich wunderschön tanzen lassen!‹ Sogleich warf die Andere den Besen weg, und alsbald drehten sich beide lustig im Kreise herum. Aber o weh! als sie bis mitten vor den Altar gelangt waren, standen sie wie in den Boden gewurzelt, und keine Kraftanstrengung, kein Jammern vermochte sie von der Stelle loszureißen. Spät am Abend, als er die Mädchen nicht zurückkommen sah, begab sich der Küster in die Kirche und fand die Beiden vor dem Altare stehen, von wo auch seine Versuche sie nicht zu entfernen vermochten. Rathlos eilte er zu seinem Vorgesetzten, dem Consistorialrath Z., der auf die Erzählung des Küsters seinen Ornat anlegte und sich mit ihm in die Kirche begab. Er trat sogleich zu den betenden Mädchen und flehte brünstig zu Gott, ihnen ihren Leichtsinn gnädiglich zu verzeihen, worauf sich denn auch der Bann löste und die Mädchen reuig und demüthig nach Hause gingen; aber tanzen haben sie seitdem nie mehr gewollt.


Fräulein W. Zimmermann in Neu-Strelitz.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 361-362.
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