1.

[363] Eine fromme Frau, die in der Nähe der Kirche wohnte, wurde einst des Nachts durch den aus der Kirche herüberschallenden Gesang geweckt. In der Meinung, es sei der Morgengottesdienst, steht sie eilig auf, zieht sich an, wirft den Mantel um und geht schnell in die Kirche, deren Fenster sie erleuchtet sieht. Sie setzt sich auf ihren Platz, schlägt ihr Gesangbuch auf und singt mit. Da wird ihre Schulter berührt und Jemand flüstert ihr zu ›Nawersch, nu is't Tit, nu ga na Hus.‹ Sie wendet sich um und sieht eine schon vor Jahren verstorbene Nachbarin neben sich. Wie sie weiter um sich sieht, erblickt sie lauter Gesichter von Verstorbenen. Da eilt sie aus der Kirche heraus, und wie sie die Thür hinter sich zumacht, ist der letzte Vers des Liedes zu Ende gesungen, die Thür fährt mit Krachen ins Schloß, so daß der Zipfel ihres Mantels noch eingeklemmt wird. Sie reißt sich los; da schlägt es Eins auf dem Kirchthurm, in der Kirche ist alles Licht verschwunden.


Erzählt von Küster Hackbusch in Röbel; mitgetheilt von Primaner Pechel aus Röbel. Von der St. Nikolai-Kirche in Röbel erzählt bei Niederh. 3, 137 ff.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 363.
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