504. Warum die Wächterglocke in Röbel nicht mehr geläutet wird.

[369] Wie's noch heut zu Tage in vielen Orten des In- und Auslandes geschieht, so wars früher auch in Röbel auf der Neustadt Sitte, des Abends, wenn die Wächter ihren nächtlichen Umgang durch die Straßen der Stadt begannen, die sogenannte Wächterglocke zu ziehen. Seit vielen Jahren aber schon ist dieser alte, schöne Brauch in Röbel gänzlich abgekommen. Weshalb dies eigentlich geschehen, darüber erzählte mir ein alter Mann eine ganz wunderliche Geschichte.

Einer der Nachtwächter Röbels hatte nämlich früher das Amt, sobald er und seine Kameraden auf die Wache gezogen waren, die in dem Thurme der Neustädter oder St. Nikolai-Kirche hängende[369] Wächterglocke zu läuten, um dadurch gleichsam den friedlichen Bewohnern der Stadt anzuzeigen, daß sie sich jetzt unbesorgt zur Ruhe begeben könnten, indem sie, die treuen Wächter, jetzt für Alle wachten, um das gute Städtchen während der Nacht vor Feuer und Unglück zu bewahren. Als nun eines Abends wieder der Wächter, wie gewöhnlich, zur bestimmten Zeit in den Thurm getreten war, um sein Amt zu verrichten und eben das dort von der Wächterglocke herunterhängende Tau in die Hand nehmen wollte, war es ihm, als zöge ihm Jemand dasselbe von oben neckisch aus der Hand. Anfänglich hielt er dies zwar für Täuschung, dennoch aber faßte er recht derbe nach dem Reife und siehe da, wieder wurde dasselbe in die Höhe gezogen. Unser guter Wächter aber verstand keinen Spaß, deshalb erfaßte er mit großer Kraft den Strick, in der sicheren Meinung, wenn sich auch wirklich Jemand da oben versteckt habe, um ihn zu necken, so wolle er demselben wohl beweisen, daß er doch noch mehr Macht als Jener habe und die Glocke dennoch schon in Schwung bringen werde. Doch so oft und so viel er auch zog, obgleich er sich auch mit voller Leibeskraft an das Tau hing, er wurde doch immer wieder, als sei er leicht wie eine Feder, mit demselben in die Höhe gezogen. Da wards unserem Wächter ganz unheimlich zu Muthe, denn jetzt merkte er wohl, daß er es hier nicht mit einem irdischen Wesen zu thun habe; und ohne seine Absicht zu erreichen, ohne die Glocke geläutet zu haben, mußte er endlich den Thurm verlassen. Als der Wächter am nächsten Abend wieder kam, um die Glocke zu läuten, gings ihm wieder so, wie am Tage zuvor, und wieder mußte er unverrichteter Sache davongehen. Da erzählte er denn seinen Kameraden, den Neustädter Predigern und noch vielen alten, klugen und weisen Leuten, was ihm passirt war. Allgemein rieth man nun dem Wächter, wenns ihm am nächsten Abend wieder so ergehe, den Geist, oder was es da oben sonst sein möge, doch einmal anzureden. Der dritte Abend kam und mit ihm die Stunde des Läutens der Wächterglocke. Viele Leute begleiteten den alten Nachtwächter, als er nach dem Thurme ging. Gefaßt ergriff derselbe hier das Tau, sogleich aber wurde er wieder mit demselben in die Höhe gezogen. Da rief er denn, eingedenk der ihm gewordenen Rathschläge, mit lauter Stimme hinauf ›Wißt du lüden, ora sall ik lüden? sünst will ik 'a[370] van gan!‹ Aber keine Antwort erfolgte hierauf, und nur von Neuem wurde der Wächter in die Höhe gezogen. Da ergriff Alle ein Grausen und sich bekreuzend liefen sie davon.

Niemand wollte nach dieser Begebenheit wieder des Abends in den Thurm gehen, um die Wächterglocke zu ziehen; und so soll denn seit dieser Zeit das Läuten derselben ganz aufgehört haben.


Niederh. 2, 77 ff.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 369-371.
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