1.

[380] Vor vielen Jahren lebte in Rostock ein schönes und tugendsames, aber sehr armes Bleichermädchen. Ein reicher Kaufmannssohn knüpfte ein Liebesverhältniß mit ihr an und erfreute sich auch ihrer Liebe. Als er aber das Ziel seiner Wünsche erreicht, verließ er sie und verlobte sich mit einem vornehmen Mädchen. Das Bleichermädchen aber war schwanger von ihm und machte ihm, als sie ihn einst auf der Bleiche traf, bittere Vorwürfe, daß er sie verlassen. Vor den Folgen bange, beschloß der junge Mann, sich des Mädchens zu entledigen und stürzte sie in das nahe Wasser, wo man sie am andern Tage fand. In der Meinung, daß sie sich selbst das Leben genommen, verweigerte man ihr ein ehrliches Begräbniß. Da aber fingen an dem Beerdigungstage – es war Dienstag Abend – die Glocken der Marienkirche an von selbst zu läuten, die Lichter brannten in ihr, als wenn ein Vornehmer begraben würde und die Orgel spielte von selbst. Alle Leute liefen staunend zusammen, der Mörder aber, von Gewissensqual ergriffen, gestand und verfiel der verdienten Strafe. Seitdem wurden alle Dienstag Abend die Glocken der Marienkirche geläutet. Als man es einmal abschaffen wollte, da läuteten sie zur bestimmten Stunde von selbst, worauf man den alten Brauch wieder aufnahm. In neuerer Zeit ist es aber auch abgekommen.


Niederh. 1, 206. ff.; vgl. 3, 155, Anmerkung.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 380.
Lizenz:
Kategorien: