546. Der Schwarze See bei Groß-Tessin.

[394] In der Nähe meines Heimatsdorfes Groß-Tessin bei Neukloster, wo mein seliger Vater Pastor war, liegt in dem Schlemminer Forst eine bewaldete Anhöhe, die sogenannte ›Hohe Burg‹, zu deren Füßen ein kleiner See, der ›Schwarze See‹, sich ausbreitet. In diesem See befindet sich nicht blos eine goldene Wiege, ein goldenes Bett, ein goldener Sarg, welche alle drei in mondhellen Nächten zuweilen auf der Oberfläche des Wassers erscheinen, sondern es ist in der Tiefe des Sees auch eine verzauberte Prinzessin verborgen, welch' letztere in jeder Johannisnacht von einem makellosen Jüngling erlöst werden kann, vorausgesetzt, daß derselbe Alles, was in gedachter Nacht ihm[394] widerfahren möchte, stillschweigend über sich ergehen läßt, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Einst nun geschah es, daß in einer Johannisnacht ein frommer Schäfer dem See sich nahte, um die Prinzessin zu befreien und sie selbst nebst aller ihrer Herrlichkeit zu gewinnen. Auch hatte er bereits verschiedene Proben lautlos überstanden und schon saß die Prinzessin auf seinem Schoße, als plötzlich eine Schlange ihm in den Mund hineinkroch. Dieser letzten Versuchung nicht gewachsen, schreit der Schäfer laut auf und mit dem Schrei ist auch die Prinzessin sammt all ihrem Glanz und Glück verschwunden.


Pastor J. Schiller in Prestin bei Crivitz.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 394-395.
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