562. Die Nixe im Stolpsee.

[404] Am Rande des Stolpsees, der vom Fürstenberger und Himmelpforter Gebiete umschlossen wird, erhebt sich ein kleiner Berg, auf dessen Höhe sich ein prächtiger Laubwald, der Ering genannt, ausbreitet.[404] Auf der einen Seite am Abhange dieses Berges, seewärts, steht vereinzelt ein kleiner Buchbusch, von dem sich nicht weit entfernt die grüne Wiese des Unterförsters zu Drögen befindet. Der Schneider und Fischer Seiler aus Fürstenberg fischte einst in einer dunklen Sommernacht auf dem Stolpsee. Da ihn bei diesem Geschäft eine große Müdigkeit überfiel, fuhr er mit seinem Kahn an das Ufer, befestigte ihn dort, damit er nicht abtreibe und legte sich dann unter den Buchbusch zum Schlafe nieder. Er mochte so ungefähr eine halbe Stunde geschlafen haben, da – es war gerade Nachts zwischen 11 und 12 Uhr – packte ihn plötzlich etwas bei den Füßen und zog ihn den Berg hinunter in den Stolpsee. Als er die Kälte des Wassers an seinen Füßen spürte und jeden Augenblick erwarten konnte, ganz in die Tiefe des Sees gezogen zu werden, rief er in seiner Todesangst die göttliche Hilfe an, trat dabei fest auf den Grund und entkam glücklich wieder aus der unbekannten Gewalt. Diesen Vorfall erzählte Seiler nach einigen Tagen seinem Freunde, dem Schiffer Scharff, der gleichfalls Fischer war. Derselbe wollte aber nicht recht an die Wahrheit der Geschichte glauben, lachte darüber und legte sich selbst einmal des Nachts unter den gefährlichen Buchbusch. Aber es ging ihm jetzt gerade ebenso, wie früher dem Seiler. Und nur mit genauer Noth rettete er sich als geübter Schwimmer aus der Tiefe des Stolpsees, in die er bereits gezogen war. Der Schuhmacher Rehfeld aus Fürstenberg, der einmal des Nachts um 12 Uhr in die Nähe des Buchbusches gekommen war, erzählt noch mit Grauen, daß es ihm dort gewesen, als wenn eine große Heerde Vieh über den Stolpsee getrieben werde und daß er sich des Nachts nie wieder dorthin begeben möchte. Daß dies Alles das Werk einer im Stolpsee hausenden Wassernixe ist, die zwar noch Niemand genau gesehen hat, glaubt man allgemein.


Niederh. 4, 74 ff.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 404-405.
Lizenz:
Kategorien: