674. Der Lindwurm.

[475] Vor etwa 20 Jahren wurde nachstehende Erzählung in Meklenburg und Pommern als ganz neu und durchaus wahr verbreitet. Es trat selbige mit solcher entschieden glaubhafter Umständlichkeit auf, daß sogar die derzeitigen Zeitschriften davon Notiz nahmen. Jedenfalls ist es eine ältere Sage, welche mal wieder aufgefrischt ist und dadurch, daß selbige an einen jetzt noch lebenden Herrn und dessen Gut angeknüpft wurde, das Interesse des Publicums so sehr beschäftigte. Die Sage aber lautet so. Der Herr v.H. in T. (es wurde der Oberlandmundschenk v. Heiden-Linden auf Tützpatz genannt) erzürnte sich mit seinem Kutscher (nach Anderen mit dem Statthalter), und ließ selbigen in einen alten, seit langer Zeit unbenutzten Keller sperren. Gegen Abend hörte man den Eingesperrten in dem Keller laut um Hilfe schreien. Die Leute berichteten solches dem Herrn und baten ihn, den Menschen zu befreien. Aber der Zorn des Herrn war noch nicht verraucht. Es wurde der Befehl ausgegeben, den Keller nicht vor dem nächsten Morgen zu öffnen. Noch spät in der Nacht hörte man das Klagen und Winseln des Gefangenen. Am nächsten Morgen aber, als man den Keller öffnete, fand man nur die abgenagten Knochen des Menschen dort. Ein Thier, welches selbigen verzehrt, war nicht zu entdecken; jedoch wagte man auch nicht, die hinteren verfallenen Räume des Kellers genauer zu durchsuchen. Um nun sich Gewißheit über das dort etwa hausende Thier zu verschaffen, warf man am nächsten Tage ein vergiftetes Kalb in den Keller. Es fand sich nun anderen Morgens ein todtes Ungeheuer mit Schuppen, Ringelschwanz, Flügeln, vier Beinen und ungeheurem Rachen im Keller. Selbiges Thier ist nach Neu-Brandenburg gekommen, dort ausgestopft und auf dem Markt zur Schau ausgestellt worden.


H. Burmeister-Körkwitz.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 2, Wien 1879/80, S. 475-476.
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