VI.

[152] O Kinderseelen ihr!


Um nicht das Wichtigste von allem zu vergessen,

Wir sahen überall, obgleich wir's nie begehrt,

So oft die Stufen auch der Leiter wir durchmessen,

Den lästgen Anblick, den die Sünde uns gewährt:


[152] Das Weib, die Sklavin, die ohn' Abscheu, ohne Lachen

Sich liebt und tut, was Stolz und Dummheit ihr gebot,

Der Mann, ein Zwingherr, den Begier und Zorn entfachen,

Der Sklavin Sklave und ein Bach in Schmutz und Kot;


Der Henker, der sich freut, des Opfers Qual zu schärfen;

Die Orgie, der das Blut die rechte Würze gibt;

Das Gift der Herrschgewalt, Despoten zu entnerven,

Das stumpfe Volk, das in der Peitsche Schlag verliebt;


Und Religionen, die der unsren alle gleichen,

Zum Himmel klimmend, stolz auf ihre Heiligkeit,

Die, wie ein Zärtling, der sich wälzt im Bett, im weichen,

Sich ihre Wollust sucht in Pein und härnem Kleid.


Die Menschheit redet toll, am eignen Geist sich freuend,

Und wie sie immer war, von Wahnsinn heimgesucht,

In ihrem Todeskampf zu Gott dem Herren schreiend:

O du mein Ebenbild, mein Meister! Sei verflucht!


Die wenigst Dummen noch, die kühn den Wahnsinn lieben,

Den Haufen fliehend, der verschont bleibt vom Gericht,

Ins grenzenlose Reich des Opiums getrieben! –

So heißt des Erdenballs allewiger Bericht.

Quelle:
Baudelaire, Charles: Blumen des Bösen. Leipzig 1907, S. 152-153.
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Die Blumen des Bösen
Les Fleurs du Mal /Die Blumen des Bösen: Franz. /Dt
Die Blumen des Bösen: Französisch/Deutsch
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