844. Kaiser Karl im Brunnen und im Berge

[551] Eine Fürstin unter den Städten ist Nürnberg, sie war der deutschen Kaiser liebste Tochter, des fränkischen Reiches Krone und Thüringens Vormauer. Nürnberger Tand ging durch alle Land. So klang und klingt der alten freien Reichsstadt Lob von einer Zeit zur andern. Auf dem Markt zu Nürnberg steht der schöne Brunnen, mit herrlichem Bildwerk geziert und vom künstlichen Gitter[551] umgeben. Der Brunnen soll sechzehnhundert Schuh tief sein, nach andern nur dreihundert, die Kette, an der die Eimer hangen, wiegt dreitausend Pfund. In dieses Brunnens Tiefe hat Kaiser Carolus magnus sich verwünscht, da drunten der Welt Ende zu erwarten. Einst ließen die Herren von Nürnberg einen Verbrecher in die Tiefe des Brunnens hinab, der sahe Carolum drunten sitzen an einem Steintisch, wie den Barbarossa im Kyffhäuser. Der Bart war durch den Tisch hindurchgewachsen und reichte schon zweimal um den Tisch herum. Wann er zum dritten umreicht, wird der Welt Ende vor der Türe sein.

Nicht weit von Nürnberg erhebt sich der Kaiser-Karlsberg, auch in diesem soll der Kaiser Karl sitzen und auf der Welt Ende harren mit allen seinen Wappnern. In frühern Zeiten ward aus dem Berge oft ein schöner Gesang vernommen – da waren die Zeiten noch gut –, jetzt hört man aus ihm nur noch klagendes Weinen, weil die Zeiten so schlecht sind. Damit besagtes Weltende nicht allzu schnell herbeirücke, als welches schrecklich und sehr störend wäre, so muß des Kaisers Bart siebenmal um den Tisch wachsen, und da sich nun die Leute darüber gestritten und noch streiten, ob der Bart des verzauberten Kaisers dreimal oder siebenmal um den Tisch wachsen müsse, so ist davon das Sprüchwort entstanden, wann über unausgemachte Sachen nutzlos gestritten wird: es ist ein Streit um des Kaisers Bart. Die Sage geht, ein Bäckerjunge aus Fürth habe einst, wie dort der Semmelknabe im Guckenberge, durch einen Gang Brot in den Kaiser-Karlsberg gebracht, es sei ihm aber auch gleich jenem ergangen, oder noch schlimmer, denn als er das Geheimnis zu entdecken gezwungen worden, sei er zum letzten nicht wiedergekehrt, und nur seine Kleider seien zerstückt außen am Berge gefunden worden.

Aus dunkler Mythenzeit klingt schon die Sage herein, daß ein König Noro im Berge verzaubert sitze, der habe der Stadt ihren alten Namen verliehen: Nor im Berg; aus seines Namens spätem Nachhall ist aber ohne Sinn Nero geworden, ein prächtig Fündlein für die Diftler, die nun gleich die Stadt vom Römerkaiser Nero gründen ließen, denn römisch mußte diesen klassischen Narren alles sein, was gelten sollte, Deutsches paßte nicht in ihren gelahrten Kopf, Kropf und Zopf.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 551-552.
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