XI. Capitul.
Jäckel patrociniert dem Schreiber in der Kammer und bringt dadurch Wolffgang auf eine andere Resolution.

[689] »Du ehrlicher Vogel,« sagte ich, »bist du's oder bist du's nicht?« Als er mich nun recht ansah, fuhr er ineinander, daß man ihm alle Knochen – denn er war so mager und zaundürr, daß man ihm gar leichtlich Feuer von den Fingern konnte geschlagen haben – klappern hörte. »Ach, Herr,« sagte er, »freilich bin ichs, ich elender und verlassener Mensch. Ach, was habe ich getan, daß ich von Euch hinweggelaufen bin! Es gehet mir leider, daß es zu erbarmen ist. Wie kommt der Herr hieher, wie lebet Er sonsten?« – »Du hast«, sprach ich, »um solche Sachen keine große Nachfrage zu halten; sage du mir, du Domine Nobiscum, wie kommst du hier unter diesen Baum?« – »Ich habe«, antwortete er, »heute nacht allhier geschlafen und mich, wie Euer Gestreng sehen, in diesem Lauberhaufen eingescharret.« – »Es ist kein Wunder,« sagte ich, »daß du schläfest wie ein Schwein, du lebest vielleicht auch nicht besser. Nun werde ich mit dir nicht viel conferieren, noch ein sonderliches Dicentes anstellen. Wir kommen weiter zusammen. Mache dich auf! hie siehst du mein Terzerol, gehest du einen Schritt auf die Seite, bis daß ich dich in Verhaft bringen lasse, so wirst du hie das letzte Mal geschlafen haben!« Mit diesen Worten schmiß ich ihn mit meinem Stecken über den Buckel, und als er aufstund, mußt ich ihn wieder in das Laub liegen heißen, weil er allenthalben so lumpicht und nackicht ging, daß es eine Schand vorm ehrbaren Frauenzimmer war.

Indessen hatte man den Patienten wieder auf die Beine gebracht und auf seinem Pferd mit zweien Laquayen ins Schloß[689] geschaffet, allwo er verbunden und sonsten in allem wohl gewartet worden, denn Gottfridens Schlößlein war mit aller Zugehör und hübschen Zimmern wohl versehen. Dannenhero hatte der Kranke gute Hoffnung zu seiner ehesten Genesung, weil ein wohlgelegener Ort halbe Medicin ist und viel mehr wirket als der beste Barbier. Damit nun der Schreiber Andreas nicht zurückbliebe, hing ich ihm einen blauen Livereymantel um den Leib, und also brachte ich ihn wie ein verdecktes Essen in das Schloß, allwo der Jäckel wohl tausend Kreuz über seiner Gegenwart machte. Er zog ihm den Mantel von dem Rumpf und war geschwind mit seinem Reißblei hervor, ihn abzuzeichnen. Wenn ein kleines Windlein ging, so rauschten seine Lumpen an dem Leib, gleich als stünd man unter einer großen Linden.

»Du Vogel«, sagte der Jäckel zu ihm, »bist Ursach, daß ich von Herren Wolffgang hinwegmigrieren müssen, nun kommst du wie ein Bettler dahergezottelt. Ich will dich abmalen und dein Bildnis auf dem Markt aufstellen.« Indem der Jäckel so mit ihm kauderwelschte, krochen dem Andreas etliche Läuse über den Kragen herunter. »Hast du viel solche Dinger?« fragte der Jäckel. »Freilich,« sprach der Schreiber, »mehr Läuse als Pfenninge!« Damit packte ihn der Schloßbüttel oder Schergant, wie dergleichen ehrbar Gesindlein betitult wird, behende an und ließ an diesem Subjecto seine stattliche Handgriff vor der gesamten adeligen Gesellschaft prächtig sehen, wie fertig und wohlgeschickt er [sei], seine Anpackungsfinten zu formieren und seine Finger an einem solchen Clavier zu applicieren. Doch will ich ihn hierinnen mit keinem Organisten, viel weniger den Schreiber Nobiscum mit einer Orgel vergleichen, ob man ihm schon den halben Blasbalg zum Hosen aushängen sah.

Ich fragte den Advocaten um Urteil und Recht, auch daß ich in diesem Stücke nicht entschlossen wäre, meine sonst gewöhnliche Vexation zu treiben, sondern, weil er ein Manifestum furtum auf meinem Hause begangen, ihm deswegen bei dem Gericht zu Ollingen zu belangen. »Nun,« sagte der Advocat, »so wird ihm der Galgen gewiß zuerkannt, lässet der Herr aber zu Unterhausen sprechen, so wird ihm der[690] Staupbesen zuteil. Denn daselbst ist das Gericht nicht so scharf wie zu Ollingen, weil daselbsten wenig mit ganzer Häut davonlaufen.« – »Es mag ihm zuerkannt werden, was da will,« sagte ich, »so muß er zu Ollingen justificiert werden. Ein solcher Frevel ist höchst strafwürdig, und muß einem andern zum Exempel ein Supplicium statuiert werden, damit unsereiner hinfüro desto sicherer sei. Wer weiß, wo der Schelm in dem Land herumlaufet und den Bauren das Ihrige stiehlet. Oh, an den Galgen mit einem solchen Schelmen, sobald ich nach Haus komme, wird sich das Facit finden.«

So ernstlich ich mich wegen dieses Kerlatens vor dem Advocaten stellete, so ließ er doch nichtsdestoweniger fleißige Nachfrage halten, ob der Schreiber bei gutem Vermögen wäre oder nicht. Denn, im Fall er ein wenig bei Mitteln gewesen, hätt er sich gar wohl getrauet, ihn vor Gericht stattlich zu defendieren und also zu verhüten, daß der Schreiber weder gehangen noch mit dem Staupbesen abgestrafet würde. Aber all dieses Vorhaben des Advocatens war vergebens und umsonst, weil aus des Schreibers seinen schlechten Federn genugsam abzunehmen war, was er vor ein elender Vogel sei, der wie eine Fledermaus in dem Land herumflatterte. Derentwegen unterließ er sein Vorhaben, und anstatt er den Bartholum und andere gute Ausleger aufgeschlagen, stach er davor etliche gute Kannen Rheinwein aus und ließ den Schreiber so gut in dem Loche sitzen, als ihn der wohlqualificierte Schergant hineingeschlossen hatte.

Der Jäckel, so schnauzig er vorhin den Gefangenen angefahren, so beflissen war er hernach, vor diesen seinen gewesenen Kameraden zu bitten. »Was haben Euer Gestreng«, sagte er zu mir, »vor eine Ergötzlichkeit, wenn dem armen Schelmen die Gurgel gebrochen wird? Ich habe schon gehöret, wie der Advocat einen übeln Ausspruch gemacht, und dadurch ist dem armen Teufel eine schlimme Wahrsagung widerfahren. Euer Gestreng meinen zwar, daß dadurch die Gerechtigkeit befördert und die Laster gestrafet werden, weil es heißet: fiat justitia et pereat mundus. Nun ist zwar an diesem närrischen Nobiscum ein schlechtes Subjectum verloren,[691] und liegt wenig daran, ob man ihn henke, köpfe, radbreche oder gar in hundert Krautstücken zerhaue. Jedennoch ist er gleichwohl ein Mensch und hat so wohl eine vernünftige Seel als ein Edelmann, obgleich sein Vater ein Schwefelhölzelkrämer gewesen und Fingerhüte samt Nadeln und kleinen Spiegeln verkaufet hat. Euer Gestreng werfen ein, daß er gleichwohl ein Großes verbrochen, indem er sich unterstehen dörfen, nicht allein Ihr Schloß zu bestehlen, sondern noch darzu die Beschließerin mit sich hinwegzuführen. So ist es an dem, daß dieser Frevel höchst strafwürdig sei; aber vielleicht ist solches Verbrechen vielmehr aus einer blinden Liebsbegierde als aus einer vorgenommenen Schelmerei entstanden. Man weiß und ist genugsam bekannt, wie liederlich die Jugend und wie bald sie verführet ist. Er ist ein junges Blut, und ob das Laster an sich selbst wohl groß ist, wird es doch in Ansehung seines Unverstandes verringert, und kann dannenhero keine ordentliche Strafe bei ihm stattfinden.

Zudem, wenn man betrachtet, in was vor einem elenden Zustand er in dem Land herumterminieret, hat man vielmehr Ursach, seinen Ratio Status zu beklagen als ihn bei der Obrigkeit zu belangen. Er hat sich allem Ansehen nach eben dazumal seines Glückes beraubet, da er Euer Gestreng das kostbare Kleid samt der Büchse gestohlen, hat sich also selbst mehr Schaden als Euer Gestreng getan. Was wird es diesem oder jenem nützen, ob man ihn gleich an den höchsten Galgen henket? Er ist ring und leicht, voll Lumpen und Flecken, der Wind wird ihn eben in der Stund wieder vom Hochgericht hinwegführen, in welcher er hinangeknüpfet worden. ›Sehet,‹ werden die Leute sagen, ›da hängt der Schreiber von Ichtelhausen, Herr Andreas Nobiscum!‹ Wenn nun die Schulschreiber und andere liederliche Dintenschlucker (bonos semper exceptos volo) vorübergehen, so werden sie sagen: ›Hier ist Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein!‹ Und Euer Gestreng seien versichert, daß viele Menschen, welche ihn hangen sehen, viel mehr auf die Grausamkeit Euer Gestreng als über des Andreas Verbrechen schmälen werden. Darum wäre es meine unmaßgebliche[692] Meinung, Euer Gestreng ließen den Gesellen aus angeborner adeligen Resolution gutwillig los, und damit er nicht gar, wie die Griechen sagen, asymbolos hinwegginge, könnte man ihn unvorschreiblich zuvor mit einer guten Pastanda und einer folgenden wohlgeschmalznen Prügelsuppen abzwiffeln, hernach zum Schloß ausjagen und hinlaufen lassen, wo der Weg am weitesten wär.

Solche Exempel sind viel am Tage, aus welchen kann bewiesen werden, daß große Gemüter viel behender zum Verzeihen als zum Strafen gewesen. Sie haben sich viel ehe geneigt zur Gnade als zum Zorn, und ist hierinnen das unvernünftige Pferd unser stattlicher Lehrmeister, wenn es das Gebell eines schlechten Hundes nicht achtet, sondern generos forttrabet und sich durchaus an seinem wichtigen Gange nicht irren lässet. Ja, die unlebbaren Schiffe auf der See zeigen mit einer annehmlichen Lehre, daß sie nicht achten das Sausen und Brausen der wasserreichen Wellen, sondern dringen glückselig durch die Fluten und desto glückseliger in den Port. Wem ist in diesen Landen nicht bekannt, was vor eine elende Creatur der Andreas Nobiscum sei? Er hat alle Punkten eines elenden Kopfes an sich, und dannenhero kann er keinem Übeltäter ähnlich sein, weil er viel zu wenig Hirn im Kopfe hat, aus eigener Phantasie ein rechtschaffenes Schelmenstück zu practicieren. Sein Alter erstrecket sich kaum über zwanzig Jahr, und vielleicht wird er durch seine Besserung zehenfältig wieder einbringen, was er hierinnen liederlicherweise versehen hat.

Solches, ob es wohl noch nicht erwäglich ist, ihm seine Strafe aufzuheben, so bin ich doch Euer Gestreng und Herrlichkeiten großer Clemenz genugsam versichert, welche einem solchen armen Teufel zur größten Glückseligkeit dienet. Man soll ohnedem, wie man im Sprüchwort saget, viel lieber hundert ehrlich als nur einen zum Schelmen machen helfen. Darum zweifelt mir nicht, Euer Gestreng werden nach der hohen Vernunft das Elend des verlassenen Menschens selbsten genugsam zu ermessen und zu begnädigen wissen. Was ist Ihnen mit einer Handvoll Menschenblut gedienet? Diese Gelegenheit, eine Barmherzigkeit zu erweisen[693] einem solchen Menschen, der, wie gehört, so schmählich sterben soll, stehet nicht allen offen. Euer Gestreng kennen mich wohl, daß ich außer allem Falsch rede, und ob ich wohl den Schreiber zuvor übel angefahren, geschah es doch aus keiner verdammlichen Passion, sondern aus einem zulässigen Eifer, den man billig wider einen solchen Lumpenhund semper & ubique anwenden soll. Sonsten bin ich ihm gar gewogen und wollte, daß ich mein altes Kleid hier hätte, dem armen Schelmen sein bloßes Fell zu bemänteln, welcher dem Lazarus nicht viel unähnlich siehet, und ist zwischen diesen beiden nur der Unterschied, daß jener an dem Leib, dieser aber an den Kleidern unzählig viel Wunden hat.«

Solches redete der Jäckel zu mir, als ich abends in einer Kammer allein war, und ich muß bekennen, daß er mir dadurch mein Vorhaben ziemlich verrucket, denn obgleich seine abgelegte Rede nicht ordentlich, noch viel weniger mit hübsch gezierten Worten ausgepoliert war, so hatte sie nichtsdestoweniger Nachdrucks genug, mir ein ferners Nachdenken zu verursachen, und dieses um so viel desto mehr, weil ich den Jäckel überaus liebhatte und mir seine öfters gegebene Vermahnungen jederzeit zum Besten ausgeschlagen. Darum sagte ich mir bald dieses, bald ein anders vor, mit dem Schreiber zu unterfangen. Ich wollte ihn, wie der Verwalter des Herrn Friderichs getan, zur Strafe meine alte Archiven abschreiben lassen, bald sollte er mir wie der Kaiser Mauritius dem Tamerlan aufwarten, wiederum wollte ich ihn zum Possen zum Galgen führen und anstatt des Schwerts mit einem Fuchsschwanz um den Hals schmeißen lassen. Zu solchen Vorhaben gab der Jäckel sein kurzweiliges Ridez und brachte mich dadurch auf einen solchen Laun, daß ich dem Gefangenen um seinetwillen gar eine geringe Kreuzschul aufrichtete. »Die Rede,« sprach ich, »welche du wegen des Schreibers gehalten, will ich heute nacht in etwas überlegen und bedenken. Ich weiß wohl, daß man geschwinder zur Vergebung als zur Rache sein soll. Schlafe wohl und verlasse mich anitzo. Wie mich gedünkt, so höre ich die Schloßglocke.« – »Ja,« sprach der Jäckel, »es ist halb zwölf Uhr und hohe Zeit zu schlafen.« Damit machte er seine Reverenz samt[694] noch einer artigen Positur, und als ich darüber zu lachen anfing, eilete er mit einem kurzweiligen Gaukelsprung zur Kammer hinaus.

Quelle:
Johann Beer: Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommer-Täge. Frankfurt a. M. 1963, S. 689-695.
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