1. Kapitel

Der Kapitalismus der Vergangenheit

[15] Ich erblickte das Licht der Welt zu Boston im Jahre 1857. »Was«, fragt der Leser, »1857? Das ist ein drolliger Irrtum. Der Herr meint natürlich 1957.« Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist kein Irrtum. Es war gegen vier Uhr nachmittags, am 26. Dezember, einen Tag nach Weihnachten im Jahre 1857 und nicht 1957, als ich zum erstenmal Bostons Ostwind atmete. Und wie ich dem Leser versichern kann, blies er in jenen vergangenen Tagen ebenso durchdringend wie im gegenwärtigen Jahre des Heils 2000.

Diese Behauptungen werden im ersten Augenblick und besonders dann wunderlich erscheinen, wenn ich hinzufüge, daß ich dem Äußeren nach ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren bin. Niemand könnte es darum verargt werden, wenn er kein Wort weiter von einem Buche lesen will, das bloß seine Leichtgläubigkeit hinter das Licht zu führen scheint. Nichtsdestoweniger versichere ich dem Leser im vollen Ernst, daß ich ihm durchaus nichts vorzuphantasieren gedenke, und ich will versuchen, ihn vollständig davon zu überzeugen, wenn er nur die Geduld behält, noch wenigen Seiten meiner Erzählung seine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Leser gestatte mir, meine Behauptung zu rechtfertigen, daß ich besser weiß als er, wann ich geboren bin. Tut er das, und läßt er mein Versprechen gelten, so will ich meine Erzählung fortsetzen. Jeder Schulknabe weiß, daß am Ende des neunzehnten Jahrhunderts keine Zivilisation existierte, die der heutigen zu vergleichen gewesen wäre. Gewiß waren bereits die Elemente in Fluß, die unsere heutige soziale Ordnung entwickeln sollten. Nichts war jedoch geschehen, um die seit undenklichen Zeiten bestehende Spaltung der Gesellschaft in vier Klassen abzuschaffen,[15] die viel treffender als vier Nationen bezeichnet werden könnten, denn die Unterschiede zwischen ihnen waren bei weitem größer als diejenigen, die unsere heutigen Nationen voneinander scheiden. Ich meine die Spaltung in Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete. Ich selbst war reich und obendrein gebildet und besaß folglich alle Vorbedingungen für das Glück, dessen sich die Schoßkinder des Geschicks in jener Zeit erfreuten. Ich lebte in Luxus und kümmerte mich nur um die Vergnügungen und Annehmlichkeiten des Lebens. Die Arbeit anderer gab mir die Mittel für meinen Unterhalt, ohne daß ich die geringste nützliche Tätigkeit dafür verrichtete. Meine Eltern und Großeltern hatten in derselben Weise gelebt, und ich nahm an, daß sich meine etwaigen Nachkommen einer ähnlichen Existenz erfreuen würden.

»Aber wie konnte ich leben, ohne für die Welt irgend etwas Nützliches zu leisten?« wird der Leser fragen. »Warum sollte die Gesellschaft jemanden als Müßiggänger erhalten, der ganz gut nützliche Arbeit für sie leisten konnte?« Die Antwort lautet, daß mein Urgroßvater eine Geldsumme aufgespeichert hatte, von der seine Nachkommen von da an lebten. Der Leser wird natürlich folgern, daß diese Summe sehr groß gewesen sein müsse. Andernfalls wäre sie doch durch die Unterhaltskosten von drei nichtstuenden Generationen aufgezehrt worden. Das war jedoch nicht der Fall. Die Summe war ursprünglich durchaus nicht groß gewesen. Umgekehrt: nachdem sie drei Geschlechter in Müßiggang erhalten hatte, war sie viel größer geworden, als sie anfangs gewesen war. Das Geheimnis dieses Gebrauchs ohne Verbrauch, dieser Wärme ohne Verbrennung erscheint fast wie Zauberei. Es erklärt sich jedoch durch die findige Anwendung einer Kunst, die zum Glück gegenwärtig verlorengegangen ist, in der aber unsere Vorfahren eine hohe Meisterschaft erreicht hatten. Ich meine nämlich die Kunst, die Last des eigenen[16] Unterhaltes den Schultern anderer aufzubürden. Wer es so weit gebracht hatte – und es so weit zu bringen, war das Ziel, nach dem alle strebten –, von dem hieß es, daß er von den Zinsen seines Kapitals lebe. Es würde uns zu lange aufhalten, wollten wir hier auseinandersetzen, auf welche Weise die alte Wirtschaftsordnung solches möglich machte. Soviel sei nur bemerkt, daß die Zinsen des Kapitals eine Art ständiger Steuern waren, die der Geldbesitzer von der Produktion der werktätigen Arbeiter erheben konnte. Diese Einrichtung erscheint unseren modernen Anschauungen ganz unnatürlich und unvernünftig. Man würde sich auch sehr in der Annahme täuschen, daß sie von unseren Vorfahren nie einer Kritik unterzogen worden wäre. Im Gegenteil! Von den ältesten Zeiten an hatten Gesetzgeber und Propheten danach getrachtet, den Zins abzuschaffen oder ihn wenigstens auf den niedrigsten Fuß herabzudrücken. Alle derartigen Bestrebungen waren jedoch gescheitert und hatten notwendigerweise scheitern müssen, solange die alte Gesellschaftsordnung weiterbestand. Zur Zeit, von der ich schreibe, nämlich zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts, hatten im allgemeinen die Regierungen den Versuch aufgegeben, die Sache überhaupt regeln zu wollen.

Besser als lange Darlegungen gibt ein Vergleich dem Leser eine allgemeine Vorstellung davon, wie die Menschen in jenen Tagen zusammenlebten, und wie insbesondere die sozialen Beziehungen zwischen Armen und Reichen waren. Die damalige Gesellschaft glich einer riesigen Kutsche, vor die die große Masse gespannt war, und die von dieser auf einer holperigen und staubigen Straße mühsam vorwärtsgeschleppt wurde. Der Hunger war Kutscher, und er duldete kein Verschnaufen. Aber trotzdem ging es nur sehr langsam vorwärts. Obwohl es so hart war, auf dem beschwerlichen Wege den Wagen fortzuschleppen, war dieser doch mit Passagieren besetzt, die niemals abstiegen, mochte die Straße noch so steil ansteigen. Die Sitze auf dem Wagen waren sehr luftig und bequem. Unbelästigt durch den Staub konnten ihre Inhaber sich mit Muße an der Landschaft ergötzen oder kritische Bemerkungen über das Verdienst des sich abquälenden Vorspanns austauschen. Natürlich waren die Sitzplätze sehr begehrt, und beim Wettbewerb um sie ging es heiß her. Jeder hielt es für das Hauptziel seines Lebens, sich selbst einen Sitzplatz in der[17] Kutsche zu sichern und ihn später seinen Kindern zu hinterlassen. Nach dem Wagenreglement konnte jeder Passagier seinen Platz überlassen, wem er wollte; andererseits gab es jedoch viele Zufälle, durch die ein Sitz ganz und gar verlorengehen konnte. Denn diese Plätze waren ebenso unsicher wie angenehm. Bei jedem plötzlichen Stoß der Kutsche wurden Personen aus ihr herausgeschleudert und stürzten zu Boden. Einmal gefallen, waren sie sofort gezwungen, im Geschirr zu gehen und das Fuhrwerk vorwärtsschleppen zu helfen, in dem sie wenige Minuten früher so angenehm dahinkutschiert waren. Selbstverständlich galt es für ein entsetzliches Unglück, wenn jemand seinen Sitz verlor. Wie eine stets dräuende Wolke beschattete die Befürchtung das Glück der Fahrenden, daß sie oder die Ihrigen aus der Kutsche geschleudert werden könnten.

»Aber«, wird der Leser fragen, »dachten die Fahrenden denn nur an sich? Wurde ihnen ihr Luxus nicht unerträglich, wenn sie ihn mit dem Lose ihrer an den Wagen gespannten Brüder und Schwestern verglichen; wenn sie sich sagen mußten, daß ihr eigenes Gewicht deren Mühsal vergrößerte? Empfanden sie kein Mitleid für Mitgeschöpfe, von denen sie nur ein Glückszufall unterschied?« O gewiß! Die Fahrenden gaben öfters ihrem Mitleid für die Ziehenden Ausdruck. Namentlich dann, wenn das Fuhrwerk an eine schlechte Stelle der Straße oder an einen besonders steilen Hügel kam, und das geschah ja immer wieder. Es war ein entsetzlicher Anblick, den dann die verzweifelten Anstrengungen des Vorspanns boten, das krampfhafte Vorwärtsdrängen und Zurücksinken der Ziehenden, die vom Hunger erbarmungslos vorwärtsgepeitscht wurden, mochten auch Unzählige zusammenbrechen und in den Kot getreten werden. Und dieser Anblick verfehlte nicht, oft sehr edle Gefühlsausbrüche der Fahrenden hervorzulocken.

Zu solchen Zeiten riefen die einen den sich keuchend Mühenden des Vorspanns ermutigende Worte zu, ermahnten sie zur Geduld und Ausdauer und vertrösteten sie auf das Jenseits, wo ewige Freuden sie für ihr hartes Schicksal im Diesseits entschädigen sollten. Andere wieder sammelten, um Salben und Tränklein für die Verletzten und Krüppel zu kaufen. Man hielt es dann übereinstimmend für höchst bedauerlich, daß der Wagen gar so schwer zu ziehen sei, und fühlte sich allgemein erleichtert,[18] wenn die besonders schlechte Wegstelle vorüber war. Dieses Gefühl der Erleichterung war allerdings nicht bloß auf Rechnung des Mitleids mit den Ziehenden zu setzen. Vielmehr brachten die bösen Stellen auch immer etwas Gefahr für die Fahrenden mit sich. Die Kutsche kam dort oft so stark ins Schwanken, daß sie ganz umzustürzen drohte, die Fahrenden mußten dann befürchten, von ihren Sitzen herabgeschleudert zu werden. Der Wahrheit gemäß muß ich zugestehen, daß der Anblick des Elends der Ziehenden, die sich am Seil abquälten, nur eine Hauptwirkung hatte: er erhöhte in den Augen der Fahrenden den Wert ihrer Sitzplätze auf dem Wagen, und sie klammerten sich daher noch krampfhafter an sie fest. Wenn die Fahrenden nur sicher gewesen wären, daß weder sie noch die Ihrigen jemals vom Wagen fallen würden! Sie hätten sich dann wahrscheinlich darauf beschränkt, zu den Sammlungen für Salben und Verbandzeug beizusteuern, ohne sich weiter im geringsten um die Leute zu kümmern, die den Wagen schleppten.

Ich weiß wohl, daß dieses ihr Verhalten den Männern und Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts als eine unglaubliche Unmenschlichkeit erscheinen muß. Allein zwei höchst merkwürdige Tatsachen erklären es zum Teil. Erstens glaubte man in jener Zeit fest und aufrichtig, die menschliche Gesellschaft könne nicht anders vorwärtskommen, als wenn viele den Wagen ziehen und wenige darin fahren würden. Ja, mehr noch: man war sogar ehrlich davon überzeugt, daß es nicht möglich sei, das Geschirr, die Kutsche, die Straße oder die Verteilung der Arbeit wesentlich zu verbessern. Die Dinge wären zu allen Zeiten so gewesen und würden auch zu allen Zeiten so bleiben, hieß es. Das sei sehr bedauerlich, könne aber nicht geändert werden, und die Philosophie verbiete, Mitleid für Dinge zu vergeuden, für die es keine Abhilfe gäbe.

Noch merkwürdiger ist die andere Tatsache. Die in dem Wagen Fahrenden hegten nämlich in der Regel die höchst sonderbare Einbildung, daß sie ihren ziehenden Brüdern und Schwestern nicht genau glichen, sondern daß sie aus feinerem Ton wären, gewissermaßen einer höheren Klasse von Wesen angehörten, die mit Fug und Recht Anspruch darauf erheben könnten, gezogen zu werden. Das scheint unbegreiflich, aber da ich einst in dem nämlichen Wagen gefahren bin und die nämliche Einbildung[19] gehabt habe, so darf man mir Glauben schenken. Das Sonderbarste des Wahns aber war dieses: er befiel sofort die Leute, die eben erst von der Straße auf einen Sitz im Wagen hinaufgeklettert waren und an den Händen noch die Schwielen trugen, die vom Ziehen am Seil herrührten. Für diejenigen aber, deren Eltern und Großeltern bereits so glücklich gewesen waren, in der Kutsche zu fahren, war es zu einem unumstößlichen Glaubensartikel geworden, daß sie ganz anderen Wesens seien als die gemeine Masse der Ziehenden. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Einbildung jedes tatkräftige Mitgefühl für die Leiden der Masse in eine kühle, tatlose Sympathie verwandeln mußte. Ich berufe mich auf diese Tatsache als auf den einzigen mildernden Umstand zur Erklärung der Gleichgültigkeit, die in der Periode, über die ich schreibe, mein eigenes Verhalten zum Elend meiner Brüder kennzeichnete. Im Jahre 1887 erreichte ich mein dreißigstes Jahr. Ich war noch unverheiratet, jedoch mit Edith Bartlett verlobt. Sie fuhr, wie ich, auf dem Wagen. Mit anderen Worten – um den Vergleich fallen zu lassen, der hoffentlich seinen Zweck erfüllt und dem Leser eine allgemeine Vorstellung von den Gesellschaftsverhältnissen jener Epoche gegeben hat –, ihre Familie war reich. In jener Zeit, wo das Geld allein alles gewährte, was das Leben angenehm machte und für kulturwürdig galt, war es genug, daß ein Mädchen reich war, damit es Freier fand. Edith Bartlett war jedoch nicht nur reich, sondern auch noch schön und anmutig.

Ich weiß recht gut, daß meine Leserinnen gegen diese meine Behauptung protestieren werden. »Hübsch mag sie wohl gewesen sein«, höre ich sie sagen, »allein anmutig nun und nimmer! Wie konnte ein Mädchen in der Kleidung anmutig sein, die in jenen Tagen Mode war? War damals der Kopf nicht mit einem fußhohen, schwindelerregenden Gebäude bedeckt, und bauschten nicht künstliche Vorrichtungen die Kleider hinten derart auf, daß sie die Gestalt mehr verunzierten als irgendeine frühere Erfindung der Schneiderinnen? Kann man sich denken, daß jemand in einem solchen Kostüm anmutig gewesen wäre?« Der Einwurf ist zutreffend. Ich kann auf ihn nur erwidern, daß sicher und gewiß die Damen des zwanzigsten Jahrhunderts holde Beweise dafür sind, wie bedeutend zweckmäßige Gewänder die weibliche Anmut heben. Trotzdem bleibe ich[20] in der Erinnerung an ihre Urgroßmütter bei der Behauptung, daß selbst die unförmlichste Kleidung ihre Schönheit, den Liebreiz des weiblichen Geschlechts, nicht ganz zu entstellen vermochte.

Unsere Hochzeit sollte stattfinden, sobald das Haus fertig geworden war, das ich für uns in einem der gesuchtesten, das will besagen der vornehmsten Stadtteile erbauen ließ. Man muß nämlich wissen, daß damals die Nachfrage nach Wohnungen in den verschiedenen Stadtteilen Bostons nicht von der natürlichen Umgebung abhing, sondern von der Art der Bevölkerung, die in einer Gegend ihren Sitz hatte. Jede Klasse oder Nation wohnte für sich, in ihren eigenen Vierteln. Der Reiche, der unter den Armen, der Gebildete, der unter den Ungebildeten sein Heim hatte, glich einem Menschen, der abgeschieden und einsam unter einer neiderfüllten und fremden Rasse lebte. Als ich den Bau meines Hauses beginnen ließ, hatte ich vorausgesetzt, daß er im Winter 1886 vollendet sein würde. Im Frühling des folgenden Jahres stand das Haus jedoch noch unfertig da, und meine Verheiratung lag noch in der Zukunft. Die Verzögerung war ganz dazu angetan, einen feurigen Verliebten zur Verzweiflung zu bringen. Sie wurde verursacht durch eine Reihe von Streiks, das heißt vereinbarter Arbeitseinstellungen der Maurer, Zimmerleute, Maler, Klempner und anderer Bauhandwerker. Ich erinnere mich nicht mehr der besonderen Ursachen dieser Ausstände. Streiks waren nämlich in jener Zeit so alltäglich geworden, daß man sich gar nicht mehr um ihre besonderen Anlässe kümmerte. Seit der großen wirtschaftlichen Krise des Jahres 1873 war es ohne Aufhören bald in dem einen, bald in dem anderen Industriezweig zu Aufständen gekommen. Die Dinge hatten sich in der Tat so weit zugespitzt, daß es eine Ausnahme schien, wenn irgendeine Arbeiterkategorie ihrem Beruf länger als etliche wenige Monate hindurch ununterbrochen nachging.

Der Leser, der den angeführten Tatsachen Beachtung geschenkt hat, wird natürlich diese Störungen des gesellschaftlichen Wirtschaftslebens richtig einschätzen. Er wird in ihnen die erste und noch zusammenhanglose Phase der großen Bewegung erkennen, welche schließlich mit der Einführung der modernen Wirtschaftsordnung nebst all ihren sozialen Folgen endete. Bei einem nachträglichen Überblick erscheint dies alles so[21] einfach und klar, daß ein Kind es verstehen könnte. Aber da wir keine Propheten sind, so hatten wir in jenen Tagen keine klare Vorstellung von den kommenden Ereignissen. Wir sahen nur, daß sich das Wirtschaftsleben unseres Landes in einer höchst mißlichen Lage befand. Das Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer, zwischen Kapital und Arbeit schien in unerklärlicher Weise aus den Fugen gegangen zu sein.

Die Arbeiterklasse war ganz plötzlich und allgemein von einer tiefen Unzufriedenheit mit ihrer Lage erfüllt und von der Überzeugung angesteckt worden, daß diese Lage wesentlich verbessert werden könnte, wenn man nur wüßte, wie das Ding anzufassen sei.

Von allen Seiten wurden einstimmig Forderungen laut nach höherem Lohn, kürzerer Arbeitszeit, besseren Wohnungen, besserer Erziehung sowie einem Anteil an den Annehmlichkeiten des Lebens und der Errungenschaften der Kultur jener Epoche. Lauter Forderungen, deren Erfüllung unmöglich schien, wenn die Gesellschaft nicht um ein Bedeutendes reicher würde, als sie es damals war. Die Arbeiter wußten zwar ungefähr, was sie wollten, allein sie hatten keine Ahnung, wie sie das Gewollte erreichen konnten. Mit freudigem Enthusiasmus scharten sie sich um jeden, der ihnen hierüber irgendeine Aufklärung geben zu können schien. Viele, die sich gern hervortaten, erhielten in der Folge plötzlich einen großen Ruf als Parteiführer, obgleich gar mancher unter ihnen den Arbeitern äußerst wenig Klarheit über ihre Ziele zu bieten imstande war. Man mochte die Bestrebungen der Arbeiter für noch so sinn- und zwecklos halten, eins mußte man anerkennen: die Hingebung, mit der sie einander bei Streiks unterstützten – ihrer Hauptwaffe im Kampfe –, die Opfer, die sie dabei brachten, ließen keinen Zweifel an ihrem tiefen Ernst. Was das schließliche Ende der Arbeiterunruhen anbetrifft – mit diesem Namen pflegte man nämlich meist die von mir beschriebene Bewegung zu bezeichnen –, so gingen darüber die Meinungen der Leute meiner Klasse weit auseinander, je nach ihrem individuellen Temperament. Der Sanguiniker behauptete nachdrücklichst, es sei nach der Natur der Dinge unmöglich, daß die neuen Hoffnungen der Arbeiter sich jemals verwirklichen könnten, und zwar einfach darum, weil die Welt nicht genug Reichtümer und Möglichkeiten[22] habe, sie zufriedenzustellen. Nur wenn die Massen hart arbeiteten und dürftig lebten, verhungere die Menschheit nicht ganz und gar. Solange die Gesellschaft als Ganzes genommen so arm bleibe wie bis dahin, sei keine nennenswerte Verbesserung der Lage der Arbeiter möglich. Diese kämpften nicht gegen die Kapitalisten, sie lehnten sich vielmehr gegen Notwendigkeiten auf, die einem eisernen Gürtel gleich die Menschheit zusammenhielten. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann die dickköpfige Masse endlich den wahren Sachverhalt erkennen und sich damit zufrieden geben werde, das Unabänderliche zu ertragen.

Leute von weniger sanguinischem Temperament gestanden die Richtigkeit dieser Ausführungen zu, gingen aber in ihren Befürchtungen weiter. Gewiß, meinten sie, natürliche Gründe sprächen dagegen, daß sich die Bestrebungen der Arbeiter je verwirklichten. Nur sei zu befürchten, daß die Arbeiter selbst diese Tatsache nicht eher einsehen würden, als bis sie die ganze Gesellschaft über den Haufen geworfen hätten. Die Arbeiter seien im Besitz des Stimmrechts und der Macht, die Welt auf den Kopf zu stellen. Ihre Führer rieten ihnen, ihre Macht zu gebrauchen, und die Arbeiter schickten sich an, das wirklich zu tun. Einige der Schwarzseher gingen so weit, zu prophezeien, daß binnen kurzem der Zusammensturz der sozialen Ordnung da sei. Die Menschheit, schlossen sie, habe die höchste Stufe der Zivilisation erklommen, sie schicke sich nun an, Hals über Kopf ins Chaos hinabzustürzen. Nach diesem Absturz werde sie sich ohne Zweifel wieder erholen, um ihr Kletterwerk an der Leiter der Zivilisation von neuem zu beginnen. Durch wiederholte derartige Versuche aus der geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeit würden höchstwahrscheinlich die rätselhaften Beulen erklärt, die der menschliche Schädel aufweise. Wie alle großen Bewegungen, so drehe sich auch die Geschichte der Menschheit im Kreise und kehre immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Die Vorstellung eines unendlichen Fortschritts in gerader Linie sei ein bloßes Hirngespinst, das jedes Seitenstücks in der Natur entbehre. Die Bahn eines Kometen sei vielleicht das beste Bild des Weges, den die Menschheit durcheile. Aufwärts und sonnenwärts strebe das Menschengeschlecht aus der Nacht der Barbarei zur Sonnenhöhe der Zivilisation, um dann wiederum zum Ausgangspunkt seiner Bahn in die tiefsten Regionen[23] des Chaos herniederzusteigen. Das war selbstverständlich eine extreme Ansicht, allein ich erinnere mich, daß ernste Bekannte in ihren Gesprächen über die Zeichen der Zeit sie vertraten. Es war zweifellos die gang und gäbe Meinung denkender Leute, daß die Gesellschaft einer kritischen Epoche entgegengehe, die tiefgehende Veränderungen mit sich bringen könne. Die Arbeiterunruhen, ihre Ursachen, ihr Verlauf und die Mittel, sie zu verhüten, bildeten das Hauptthema der Erörterungen, die in der Presse und in ernsten Unterredungen gepflogen wurden. Die nervöse Spannung, die sich der öffentlichen Meinung bemächtigt hatte, fand ihren greifbaren Ausdruck in der Erregung, die das müßige Geschwätz einer Handvoll Leute verursachte, die sich selbst als Anarchisten bezeichneten. Diese bildeten sich nichts Geringeres ein, als das amerikanische Volk durch Androhung von Gewalttätigkeiten so weit terrorisieren zu können, daß es ihre Ideen annähme. Als ob eine Nation sich je aus bloßer Furcht dazu verstehen würde, eine neue soziale Ordnung einzuführen! Obendrein eine mächtige Nation, die erst vor kurzem eine Rebellion der Hälfte ihrer Bürger niedergeschlagen hatte, um das herrschende politische Regime aufrechtzuerhalten.

Als reicher Mann, der ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung hatte, teilte ich natürlich die Befürchtungen meiner Klasse. Ja, zweifelsohne war ich zur Zeit, von der ich schreibe, den Bestrebungen der Arbeiter besonders feindlich gesinnt. Der Grund dazu war ein ganz persönlicher: der Aufschub meines Eheglücks infolge der Streiks.[24]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 15-25.
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