11. Kapitel

Im Musikzimmer

[92] Als wir nach Hause kamen, war Doktor Leete noch nicht zurückgekehrt, und Frau Leete befand sich auf ihrem Zimmer.

»Lieben Sie Musik, Herr West?« fragte Edith.

Ich versicherte ihr, daß nach meiner Ansicht Musik das halbe Leben sei.

»Ich müßte eigentlich wegen meiner Frage um Entschuldigung bitten«, sagte das junge Mädchen. »Heutzutage pflegt man diese Frage gar nicht zu stellen. Allein ich habe gelesen, daß es zu Ihrer Zeit sogar unter den Gebildeten Leute gab, die von Musik nichts wissen wollten.«

»Ein Grund entschuldigt dies«, sagte ich. »Es gab zu meiner Zeit Musik, die ganz unkünstlerisch war.«

»Das weiß ich«, sagte sie, »und ich glaube fast, daß solche Musik auch nicht nach meinem Geschmack gewesen wäre. Möchten Sie vielleicht jetzt etwas von unserer Musik hören, Herr West?«

»Ihnen zu lauschen, würde mir die größte Freude sein«, erwiderte ich.

»Mir!« rief Edith lachend aus. »Dachten Sie, ich wollte Ihnen etwas Vorspielen oder vorsingen?«

»Gewiß, das hoffte ich«, versetzte ich.

Da Edith bemerkte, daß ich etwas verwirrt, ja beschämt war, unterdrückte sie ihre Heiterkeit. »Natürlich«, sagte sie, »singen wir heutzutage alle; das Singen gilt als selbstverständlich für die Ausbildung der Stimme. Manche Leute lernen auch zu ihrem persönlichen Vergnügen ein Instrument spielen. Allein unsere Leistungen stehen an Schönheit und[92] Vollendung so weit hinter denen der Musiker von Beruf zurück, und es ist uns so leicht, uns den von ihnen gebotenen Kunstgenuß zu verschaffen, daß wir uns nicht einfallen lassen, unser Singen und Spielen überhaupt als Musik zu betrachten. Alle wirklich guten Sänger und Spieler stehen im Dienst der Nation, und wir übrigen verhalten uns meist still. Aber möchten Sie tatsächlich etwas Musik hören?«

Ich versicherte Edith aufs neue, daß mir dies ein großes Vergnügen bereiten würde.

»Bitte, kommen Sie dann mit mir in das Musikzimmer«, sagte sie. Ich folgte ihr in ein Gemach ohne Tapeten, Vorhänge und Portieren; die Wände hatten Holztäfelung, und der Fußboden war spiegelblankes Parkett. Ich war darauf gefaßt, ganz neue Arten von Instrumenten zu erblicken, allein ich konnte im Zimmer absolut nichts entdecken, was man selbst mit dem größten Aufwand von Einbildungskraft für dergleichen hätte halten können. Augenscheinlich amüsierte mein verdutztes Gesicht Edith höchlich.

»Bitte, werfen Sie einen Blick auf das heutige Programm«, sagte sie, indem sie mir eine Karte reichte, »und sagen Sie mir, was Sie am liebsten hören möchten. Nur bitte ich zu beachten, daß es jetzt fünf Uhr ist.«

Die Karte trug das Datum: »Den 12. September 2000« und enthielt das größte Konzertprogramm, das mir je vor Augen gekommen war. Es war ebenso reichhaltig wie lang und bot eine schier endlos scheinende Reihe von Soli, Duetten und Quartetten für Vokal- und Instrumentalmusik, dazu viele Kompositionen für Orchester.

Die riesige Liste verblüffte mich aufs äußerste. Da wies Ediths rosige Fingerspitze auf eine besondere Abteilung hin, die den Vermerk trug: »Fünf Uhr nachmittags.« Es wurde mir nun klar, daß das ungewöhnliche Programm für den ganzen heutigen Tag galt und in vierundzwanzig Abteilungen zerfiel, die den Stunden entsprachen. Die Abteilung »Fünf Uhr nachmittags« enthielt nur eine kleine Anzahl von Stücken, von denen ich eine Orgelkomposition anhören wollte.

»Es freut mich, daß Sie die Orgel lieben«, sagte Edith zu mir, »ich kenne kein zweites Instrument, das so sehr jeder meiner Stimmungen zusagt.«[93]

Sie ließ mich auf einem bequemen Sessel Platz nehmen, ging nach der anderen Seite des Zimmers und – wie es mir schien – drückte hier nur auf einen oder zwei Knöpfe. Sofort ward das Gemach mit den erhabenen Klängen eines Orgelchors erfüllt – erfüllt und nicht durchbraust, denn durch irgendeine Vorrichtung war die Stärke der Töne genau der Größe des Raumes angepaßt. Mit angehaltenem Atem lauschte ich der Musik bis zu Ende. Ich. hatte nicht im entferntesten erwartet, ein so herrliches Werk so vorzüglich vorgetragen zu hören.

»Prachtvoll!« rief ich aus, nachdem die letzte mächtige Tonwelle langsam verklungen war. »Ein Bach muß diese Orgel gespielt haben, aber wo befindet sie sich?«

»Bitte, gedulden Sie sich noch einen Augenblick«, sagte Edith. »Ehe Sie weiterfragen, möchte ich gern, daß Sie noch diesen Walzer hören; ich finde ihn nämlich ganz allerliebst.«

Während sie noch sprach, schwebten auch schon Geigentöne durch das Zimmer und schufen hier den Zauber einer Sommernacht.

Nachdem der Walzer verklungen war, wendete sich Edith zu mir. »Die Musik, die Sie soeben gehört haben, ist durchaus nicht geheimnisvoll und märchenhaft. Nicht Feen und Elfen spielen sie, sondern gute, ehrliche und außerordentlich geschickte Menschenhände. Wie auf alles andere, so haben wir auch auf die Musik den Grundsatz übertragen, durch das Zusammenwirken der geeignetsten Kräfte mit Arbeitsersparnis das Höchste zu leisten. Die Stadt besitzt eine Anzahl von Musiksälen, deren Akustik den verschiedenen Arten der Musik genau angepaßt ist. Diese Säle sind durch Telephon mit allen Häusern der Stadt verbunden, deren Bewohner einen unbedeutenden Betrag entrichten. Sie können überzeugt sein, daß es in ganz Boston niemand gibt, der nicht angeschlossen ist. Jeder Saal hat seinen Stab von Musikern, der so zahlreich ist, daß das Tagesprogramm der dort aufgeführten Werke volle vierundzwanzig Stunden ausfüllt, obgleich jeder Solist und jede Gruppe von Musikern nur bei[94] wenigen Nummern mitwirken. Wenn Sie sich die Karte ansehen, so werden Sie bemerken, daß sie das Programm für vier Konzerte enthält. Jedes einzelne davon ist einer besonderen Musikgattung gewidmet und findet gleichzeitig mit den übrigen statt. Sie können jedes der vier Stücke hören, die gerade jetzt gespielt werden, sobald Sie auf den Knopf drücken, dessen Leitung Ihr Haus mit dem Musiksaal verbindet, wo das ausgewählte Werk aufgeführt wird. Die Programme sind derartig zusammengestellt, daß die gleichzeitig gespielten Stücke eine große Auswahl bieten, und zwar nicht nur von Instrumental- und Vokalmusik und den verschiedenen Instrumenten, sondern auch der mannigfaltigsten Motive, von den ernstesten bis zu den heitersten. Auf diese Weise können jeder Geschmack und jede Stimmung befriedigt werden.«

»Es scheint mir, Fräulein Leete«, sagte ich, »daß wir zu meiner Zeit geglaubt hätten, den Gipfel der menschlichen Glückseligkeit erklommen zu haben, wäre es uns gelungen, eine Einrichtung wie diese zu ersinnen. Nämlich daß jeder in seinem Heim Musik hören konnte, die nicht nur vollendet in ihrer Ausführung und unabhängig von einer bestimmten Veranstaltung war, sondern auch jeder Stimmung angemessen, und die nach Belieben des Zuhörers anfing und endete. Es scheint mir, daß wir bei diesem Wirklichkeit gewordenen Märchen darauf verzichtet hätten, nach weiteren Verbesserungen zu streben.«

»Ich konnte mir bisher nie recht vorstellen«, sagte Edith, »wie der altmodische Musikgenuß von denen Ihrer Zeitgenossen ertragen werden konnte, die musikalisch waren. Eine Musik, die des Anhörens wirklich wert war, blieb den Massen ganz unerreichbar. Ja, selbst die Bevorrechteten konnten gute Musik nur mit großen Unbequemlichkeiten und außerordentlichen Kosten hören, und das obendrein nur während einer kurzen Zeit, die von einem Dritten nach Belieben bestimmt wurde. Zu alledem mußte man noch viele andere Unannehmlichkeiten mit in den Kauf nehmen. Ihre Konzerte, Ihre Opern, du lieber Himmel! Sie mußten einen Menschen zur Verzweiflung bringen! Um ein oder zwei Musikstücke nach seinem Geschmack zu hören, war man gezwungen, stundenlang dazusitzen und eine Musik über sich ergehen zu lassen, die einem nicht gefiel. Bei Tisch braucht man die Gänge nicht zu nehmen, die man[95] nicht gern ißt. Auch der Hungrigste würde nicht gern an einer Mahlzeit teilnehmen, wenn er alles essen müßte, was auf den Tisch käme. Und ich bin überzeugt, daß das Gehör des Menschen nicht weniger empfindlich ist als sein Geschmack. Weil es so schwer war, sich wirklich gute Musik zu verschaffen, so meine ich, ertrug man zu Ihrer Zeit im eigenen Hause das Spiel und den Gesang von Leuten, die nur die Anfangsgründe der Musik beherrschten.«

»Das stimmt«, erwiderte ich, »für die meisten von uns gab es nur solche Musik oder gar keine Musik.«

»Ach ja!« seufzte Edith, »wenn man es sich recht überlegt, so ist es gar nicht sonderbar, daß Ihre Zeitgenossen im allgemeinen kein großes Interesse für Musik hatten. Ich muß sagen, solche Musik wäre mir auch greulich gewesen.«

»Habe ich Sie recht verstanden«, fragte ich, »daß dieses Musikprogramm für alle vierundzwanzig Stunden des Tages gilt? Nach dieser Karte scheint es tatsächlich so. Wer aber wird denn zum Beispiel zwischen Mitternacht und Morgen Musik hören?«

»O viele«, versetzte Edith. »Wir benutzen die Einrichtung zu jeder Stunde. Aber würde die Musik von Mitternacht bis Morgen sonst niemand erwünscht sein, so wäre sie doch Schlaflosen, Kranken und Sterbenden ein Genuß. Alle unsere Schlafzimmer sind am Kopfende des Bettes mit einem Telephon versehen, das jedem Schlaflosen ermöglicht, nach Belieben die Musik zu hören, die seine Stimmung verlangt.«

»Befindet sich diese Einrichtung auch in meinem Zimmer?« fragte ich.

»Ja gewiß. Ach, wie gedankenlos, wie sehr gedankenlos von mir, daß ich Ihnen dies nicht schon gestern abend sagte! Ehe Sie sich heute zur Ruhe begeben, wird mein Vater Sie mit der Einrichtung bekannt machen. Ich bin fest überzeugt, daß Sie, sollten die unheimlichen Gefühle wirklich wiederkommen und Sie quälen, allen Spuk verscheuchen können, wenn Sie den Schalltrichter öffnen.«

Abends erkundigte sich Doktor Leete nach unserem Besuch im Warenhaus. Nach einem flüchtigen Vergleich zwischen den Verhältnissen des neunzehnten und denen des zwanzigsten Jahrhunderts kamen wir zufällig auch auf die Erbschaftsfrage.[96]

»Ich vermute«, sagte ich, »daß es nicht mehr gestattet ist, Eigentum zu vererben.«

»Im Gegenteil«, erwiderte Doktor Leete, »dem steht nichts im Wege. Wenn Sie uns erst näher kennenlernen, Herr West, so werden Sie ganz gewiß finden, daß die persönliche Freiheit heutzutage weit weniger beschränkt ist als zu Ihrer Zeit. Unser Gesetz schreibt allerdings vor, daß jeder Bürger während eines bestimmten Zeitraumes der Nation durch seine Arbeit dient. Wir lassen ihm nicht, wie Ihre Zeitgenossen, die Wahl, zu arbeiten, zu stehlen oder zu verhungern. Von diesem einen Grundgesetz abgesehen, beruht unsere Gesellschaftsordnung in keiner Weise auf gesetzlichem Zwang. Und das Gesetz ist so gefaßt, daß es alle gleich trifft und keinen drückt. Es ist der Ausdruck eines Naturgesetzes, des Gesetzes, das den Garten Eden regierte. Kein Zwang regelt unsere Ordnung, nur freiwilliges Übereinkommen; unser Grundgesetz ist die logische Folge des Tätigkeitsdranges der menschlichen Natur unter vernünftigen Verhältnissen. Gerade die Erbschaftsfrage beleuchtet dies trefflich. Da die Nation der einzige Kapitalist und Grundeigentümer ist, so bleibt natürlich der persönliche Besitz des einzelnen auf seinen jährlichen Kredit beschränkt und auf die angeschafften Gebrauchs- und Haushaltungsgegenstände. Der Kredit erlischt wie eine Pension zu Ihrer Zeit mit dem Tode; er begreift nur noch eine bestimmte Summe für das Begräbnis in sich. Was der einzelne sonst sein eigen nennt, das kann er hinterlassen, wem er will.«

»Wodurch verhütet man«, fragte ich, »daß sich nicht doch im Laufe der Zeit durch Erbschaft wertvolle Besitztümer in den Händen einzelner anhäufen und die Gleichheit in den Lebensverhältnissen der Bürger ernstlich bedroht wird?«

»Das wird ganz einfach von selbst verhindert«, lautete die Antwort. »Bei unserer Organisation der Gesellschaft wird angehäufter Privatbesitz zur Last, sobald er das übersteigt, was wirklich unsere Behaglichkeit erhöht. Wer zu Ihrer Zeit sein Haus mit Gold- und Silbergerät, seltenem Porzellan, kostbaren Möbeln und ähnlichen Dingen vollgepfropft hatte, der galt für reich, weil diese Dinge Geldeswert besaßen und jederzeit in[97] Geld umgesetzt werden konnten. Heutzutage würde man jemand sehr bedauern, der durch die Hinterlassenschaften von hundert gleichzeitig verstorbenen Verwandten zu solchem Besitz käme. Die Gegenstände können nicht verkauft werden, sie hätten für den Erben also keinen Wert, es sei denn, er benütze sie tatsächlich oder erfreue sich an ihrer Schönheit. Da aber sein Jahreskredit der gleiche bleibt, so müßte er sein Einkommen damit erschöpfen, Häuser zur Aufbewahrung seiner Besitztümer zu mieten und Leute zu bezahlen, die sie in Ordnung hielten. Sie können fest von diesem überzeugt sein: der glückliche Erbe würde so schnell wie möglich unter seine Freunde die Gegenstände verteilen, deren Besitz ihn nur ärmer macht, und keiner der Freunde würde mehr annehmen, als er in seiner Wohnung bequem unterbringen und selbst in Ordnung halten könnte. Sie sehen also, daß es eine ganz überflüssige Vorsichtsmaßregel wäre, wollte die Nation die Vererbung persönlichen Eigentums verbieten, um der Anhäufung von Privatbesitz vorzubeugen. Sie kann es getrost jedem Bürger selbst überlassen, darauf zu achten, daß er nicht mit Besitz überlastet wird. Der einzelne ist in dieser Beziehung so vorsichtig, daß er gewöhnlich auf den größten Teil vom Nachlaß seiner verstorbenen Angehörigen verzichtet und sich nur wenige Gegenstände vorbehält, die für ihn von besonderem Wert sind. Die Nation übernimmt den übrigen Nachlaß und überweist Sachen von Wert dem Gemeingut.«

»Sie sprachen von einer Bezahlung der Leute, die die Häuser in Ordnung zu halten haben«, sagte ich. »Ihre Bemerkung ruft mir eine Frage in den Sinn, die ich schon mehrmals an Sie richten wollte. Wie haben Sie die Dienstbotenfrage gelöst? Wer möchte wohl Dienstbote in einem Gemeinwesen sein, wo alle Mitglieder gesellschaftlich einander gleich sind? Schon für die Damen meiner Zeit hielt es recht schwer, Dienstmädchen zu finden, und doch konnte damals von einer sozialen Gleichstellung kaum die Rede sein.«

»Gerade weil wir alle gesellschaftlich gleichstehen, so daß diese Gleichheit durch nichts verletzt werden kann, und weil Dienen ehrenvoll in einer Gesellschaft ist, deren Grundidee lautet, daß alle ihre Glieder einander dienen sollen, wäre es uns ein leichtes, ein so vorzügliches Dienstpersonal zu haben, wie Sie es nie erträumt hätten, wenn wir nur Bedienende[98] brauchten«, erwiderte Doktor Leete. »Allein wir brauchen sie nicht.«

»Wer besorgt aber die Hausarbeit?« fragte ich.

»Es gibt keine Hausarbeit«, antwortete Frau Leete, an die ich meine Frage gerichtet hatte. »Unsere Wäsche wird zu äußerst billigen Preisen in öffentlichen Waschanstalten besorgt, und öffentliche Küchen bereiten unsere Mahlzeiten. Unsere gesamte Leibwäsche und Kleidung wird in öffentlichen Werkstätten hergestellt und ausgebessert. Die Heizung und Beleuchtung geschieht durch Elektrizität. Wir bewohnen Häuser, die nicht größer sind, als notwendig ist; wir möblieren sie so, daß es nur geringe Mühe kostet, sie in Ordnung zu halten. Wir bedürfen also keiner Dienstboten.«

»Weil Ihnen die ärmeren Klassen ein unbeschränktes Angebot von Leibeigenen lieferten, denen Sie alle schweren und lästigen Arbeiten aufbürden konnten«, sagte Doktor Leete, »so kümmerten Sie sich nicht um Erfindungen, die die Notwendigkeit beseitigt hätten, Dienstboten zu halten. Jetzt müssen wir alle der Reihe nach jede gesellschaftlich notwendige Arbeit verrichten. Da hat auch jeder einzelne in der Gesellschaft das nämliche, und zwar ganz persönliche Interesse daran, Mittel und Wege ausfindig zu machen, die Arbeitslast zu erleichtern. Dieser Umstand hat einen mächtigen Anstoß zu Erfindungen gegeben, die in allen Zweigen menschlicher Tätigkeit Arbeit ersparen. Eines der ersten Ergebnisse davon war, in der Häuslichkeit die größte Behaglichkeit mit so wenig Arbeit wie möglich zu schaffen.«

»Natürlich können Fälle eintreten, in denen unser Hauswesen außergewöhnliche Arbeit fordert«, fuhr Doktor Leete fort. »So zum Beispiel bei einer allgemeinen Reinigung, bei großen Reparaturen oder auch bei Krankheit. Aber dann können wir jederzeit die nötige Hilfe aus dem Heer der arbeitspflichtigen Bürger erhalten.«

»Allein, wie entschädigen Sie diese für ihre Arbeit, da sie doch kein Geld haben?«

»Selbstverständlich bezahlen wir diese Hilfskräfte nicht persönlich, wir zahlen für sie an die Nation. Brauchen wir ihre Dienste, so wenden wir[99] uns an ein eigenes Büro, und der Wert ihrer Leistungen wird auf unserer Kreditkarte vermerkt.«

»Welch ein Paradies für die Frauen muß die Welt jetzt sein!« rief ich aus. »Von den Haushaltungssorgen waren zu meiner Zeit nicht einmal reiche Damen befreit, die über eine zahlreiche Dienerschaft verfügten. Was die Frauen der bloß wohlhabenden oder gar der ärmeren Klassen anbelangt, so lebten und starben sie als Märtyrerinnen dafür.«

»Ja«, sagte Frau Leete, »was ich darüber gelesen habe, hat mich davon überzeugt, daß in Ihrer Zeit die Männer – mochten sie auch noch so übel dran sein – doch immerhin bei weitem glücklicher waren als ihre Mütter und Frauen.«

»Die breiten Schultern der Nation«, sagte Doktor Leete, »tragen jetzt federleicht an der Last, die die Frauen damals zu Boden drückte. Ihr Elend, wie überhaupt das ganze soziale Elend Ihrer Zeit, entsprang aus dem Unvermögen, ein planmäßiges Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte durchzuführen. Es war dies eine Folge des Individualismus, auf dem Ihre Gesellschaftsordnung beruhte, des Individualismus, der nicht begreifen wollte, daß jeder einzelne einen zehnmal größeren Nutzen von seinen Mitmenschen hat, wenn er sich mit ihnen vereinigt, als wenn er mit ihnen kämpft. Wahrhaftig, man darf sich nicht wundern, daß Ihre Zeitgenossen nicht angenehmer lebten! Erstaunlich ist nur, daß sie es überhaupt fertigbrachten, zusammenzuleben. Ging doch jeder eingestandenermaßen darauf aus, den Nächsten zu knechten und seiner Güter zu berauben.«

»Vater, Vater, wenn du so heftig wirst, wird Herr West meinen, du schiltst ihn aus«, rief Edith lachend dazwischen.

»Wenn jemand bei Ihnen einen Arzt nötig hat«, fragte ich, »wendet er sich dann einfach an das bestimmte Büro und läßt sich von dem ersten besten behandeln, der ihm geschickt wird?«

»Das wäre kaum empfehlenswert«, gab Doktor Leete zur Antwort. »Der Erfolg des Arztes hängt zum großen Teil davon ab, daß er die Konstitution des Patienten genau kennt und die damit zusammenhängenden Eigentümlichkeiten. Wie zu Ihrer Zeit muß es deshalb dem Kranken freistehen, einen bestimmten Arzt rufen zu lassen. Der einzige[100] Unterschied zwischen einst und jetzt besteht darin, daß der Arzt sein Honorar nicht persönlich für sich, sondern für die Nation erhebt. Nach einer ärztlichen Taxe notiert er den Betrag auf der Kreditkarte des Patienten.«

»Wenn das Honorar stets gleich hoch ist und der Arzt, wie ich vermute, keinem Patienten seine Hilfe versagen darf«, sagte ich, »so haben die guten Ärzte sicherlich ungemein viel zu tun, während die schlechten ohne Praxis bleiben.«

»Zuerst entschuldigen Sie diese scheinbare Eitelkeit in dem Munde eines ehemaligen Arztes«, erwiderte Doktor Leete lächelnd, »es gibt bei uns gar keine schlechten Ärzte. Jetzt darf nicht mehr wie zu Ihrer Zeit jeder, dem es einfällt, ein paar medizinische Floskeln auswendig zu lernen, die Menschen als Versuchsobjekte betrachten. Es dürfen nur die Studierenden praktizieren, die die strengen Staatsprüfungen bestanden und ihre Befähigung für den ärztlichen Beruf zweifelsfrei bewiesen haben. Weiter müssen Sie festhalten, daß heutzutage kein Arzt danach trachtet, seine Praxis auf Kosten seiner Kollegen auszudehnen. Es ist auch nicht ein Grund dafür da. Schließlich müssen die Ärzte über ihre Tätigkeit regelmäßig an die Medizinalbehörde Bericht erstatten, und wenn sie nicht genügend beschäftigt sind, so wird ihnen Arbeit zugewiesen.«

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 92-101.
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