13. Kapitel

Weltstaatenbund und Güteraustausch

[114] Als ich mich zurückzog, begleitete mich Doktor Leete in mein Schlafzimmer, um mich mit der Einrichtung des Musiktelephons bekannt zu machen, wie mir Edith dies versprochen hatte. Er zeigte mir, wie man durch das Drehen einer Schraube bewirken konnte, daß die Musik bald mächtig den Raum durchbrauste, bald wie in der Ferne verklingend in leisen Tönen dahinstarb, so daß man selbst nicht recht wußte, ob man sie wirklich höre oder dies nur träume. Wenn von zwei Personen in dem Zimmer die eine der Musik lauschen, die andere jedoch schlafen wollte, konnte der Apparat so eingestellt werden, daß die Musik für die eine hörbar, für die zweite unhörbar war.[114]

»Wenn Sie es können, Herr West, so möchte ich Ihnen dringend raten, heute nacht lieber zu schlafen, als der schönsten Musik der Welt zu lauschen«, sagte Doktor Leete, nachdem er mir die nötigen Erklärungen gegeben hatte. »Bei den aufregenden Eindrücken, die jetzt auf Sie einstürmen, ist der Schlaf ein geradezu unersetzliches Mittel, Ihre Nerven zu beruhigen und zu stärken.«

Ich erinnerte mich, wie es mir diesen Morgen ergangen war, und versprach, dem Rate Folge zu leisten.

»Schön«, sagte der Doktor, »dann will ich das Telephon auf acht Uhr stellen.«

»Was heißt das?« fragte ich.

Er erklärte mir, daß man sich vermittels eines Uhrwerks zu jeder beliebigen Stunde durch Musik wecken lassen könne.

Nun zeigte sich – was sich auch in der Folge klar herausstellte –, daß ich meine Neigung zur Schlaflosigkeit zusammen mit anderen Unannehmlichkeiten des Lebens im neunzehnten Jahrhundert zurückgelassen hatte. Wie die Nacht zuvor versank ich ohne Schlafmittel in Schlummer, sobald ich mein Haupt auf das Kissen gelegt hatte.

Mir träumte, ich säße auf dem Thron der Abencerragen in der Festhalle der Alhambra, wo ich meine Edlen und Feldherren bewirtete, die, vom Halbmond geführt, am nächsten Tage gegen die Christenhunde Spaniens ziehen sollten. Sprühende Springbrunnen kühlten die Luft, die von Blumenduft erfüllt war. Eine Schar Tänzerinnen mit herrlichen Gliedern und Rosenlippen tanzte mit berauschender Anmut nach dem Klange von Zimbeln und Saiteninstrumenten. Schaute man zu der vergitterten Galerie empor, so erhaschte man dann und wann einen Blitz aus dem Auge einer Schönen des königlichen Harems, die von oben herab ihre Blicke über die Blüte der maurischen Ritterschaft schweifen ließ. Lauter und lauter erschallten die Zimbeln, wilder und wilder drehte sich der Reigen, bis das heiße Blut der Wüstensöhne dem kriegerischen Fanatismus nicht länger zu widerstehen vermochte und die sonnverbrannten[115] Helden von ihren Sitzen sprangen. Tausende von Klingen flogen aus den Scheiden, durch die Halle brauste der Ruf: »Allah il Allah!«; er weckte mich. Helles Tageslicht flutete durch mein Zimmer, in dem die elektrisierenden Klänge eines türkischen Marsches ertönten.

Beim Frühstück erzählte ich Doktor Leete meinen Traum und mein Erwachen. Nicht bloßer Zufall war es, so erfuhr ich, daß mich gerade die Klänge eines Marsches geweckt hatten. Während der Morgenstunden wurden in einer der Musikhallen stets lebhafte, fortreißende Weisen gespielt.

»Übrigens, da wir gerade von Spanien sprechen«, sagte ich, »fällt mir ein, daß ich Sie noch gar nicht gefragt habe, wie sich die Zustände in Europa gestaltet haben. Ist in den Staaten der Alten Welt auch eine soziale Umwälzung vor sich gegangen?«

»Gewiß«, erwiderte Doktor Leete. »Die großen Länder Europas sowie Australien, Mexiko und Teile von Südamerika sind gegenwärtig genau solche Republiken wie die Vereinigten Staaten. Sie alle haben nun eine planmäßige Organisation des Wirtschaftslebens. Die Vereinigten Staaten waren seinerzeit nur die Pioniere der allgemeinen Umwandlung. Die friedlichen Beziehungen der Nationen – und andere gibt es nicht – werden durch die lose Form eines Staatenbundes gesichert, der die ganze Welt einschließt. Ein internationaler Rat regelt Handel und Verkehr der Bundesstaaten. Er entscheidet auch über die gemeinsam zu ergreifenden Maßregeln, die die noch zurückgebliebenen Völkerschaften und Rassen allmählich auf eine höhere Kulturstufe emporheben sollen. Jede einzelne Nation besitzt innerhalb ihrer Grenzen vollständige Autonomie.«

»Wie ist es aber möglich, daß Sie ohne Geld internationalen Handel treiben?« fragte ich. »Wenn Sie auch innerhalb der Nation ohne Geld auskommen, so brauchen Sie doch eine Art Geld, wenn Sie mit anderen Nationen in Geschäftsverkehr stehen wollen.«

»Durchaus nicht; das Geld ist auch für die internationalen Handelsbeziehungen überflüssig geworden. Solange der Handel zwischen den einzelnen Nationen der Privatspekulation überlassen blieb, bedurfte man auch des Geldes, um die äußerst verwickelten Überführungen der Waren aus der einen in die zweite und dritte Hand und so fort durchführen zu[116] können. Heutzutage dagegen ist der internationale Handelsverkehr Sache der Nationen, von denen jede als Ganzes, als einziger Händler im Weltverkehr steht. Heute gibt es folglich in der ganzen Welt nur etwa ein Dutzend Kaufleute, und da ihr Geschäft unter der Kontrolle des internationalen Bundesrats steht, so reicht eine ganz einfache Buchführung hin, ihren Verkehr zu regeln. Natürlich haben wir keine Zölle. Eine Nation führt nur solche Artikel ein, die nach einer Erklärung ihrer Regierung dem allgemeinen Interesse dienlich sind. Jede Nation besitzt ein besonderes Büro, das den Güteraustausch mit den anderen Nationen vermittelt. Hält es zum Beispiel dieses amerikanische Büro für notwendig, daß in einem Jahre eine bestimmte Quantität französischer Waren für Amerika bezogen wird, so erteilt es dem französischen Büro die entsprechende Order, und dieses läßt wiederum seinerseits Aufträge auf amerikanische Erzeugnisse unserem Büro zugehen. In der nämlichen Weise funktioniert der Geschäftsverkehr zwischen den anderen Nationen.«

»Wie werden aber die Preise für ausländische Waren festgestellt, seit sie nicht mehr wie sonst durch die Konkurrenz geregelt werden?«

»Der Preis, zu dem eine Nation einer anderen Güter abläßt«, erwiderte Doktor Leete, »muß genau der gleiche sein, den sie dafür ihren eigenen Bürgern in Anrechnung bringt. Dadurch wird jede Gefahr eines Irrtums oder Versehens beseitigt. Der Theorie nach ist keine Nation verpflichtet, mit ihren Erzeugnissen einen Schwesterstaat zu versorgen. In Wirklichkeit liegt es jedoch im Interesse aller Länder, ihre Waren untereinander auszutauschen. Wenn eine Nation eine andere regelmäßig mit gewissen Waren versorgt, so müssen die beiden einander alle eintretenden Veränderungen melden, die von Einfluß auf ihren Verkehr sein können.«

»Nehmen wir aber an«, warf ich ein, »eine Nation besitze ein Monopol auf irgendwelches Naturprodukt und weigere sich, die übrigen Staaten oder auch nur einen einzigen mit ihm zu versehen. Was dann?«

»Ein solcher Fall ist bisher noch nicht vorgekommen. Sollte er aber je eintreten, so würde diese Nation damit nur sich selbst den größten Schaden zufügen«, erwiderte Doktor Leete. »Dem Gesetze nach gibt es im internationalen Wirtschaftsverkehr keine ›meistbegünstigten‹ und ›begünstigten‹ Nationen mehr. Es verlangt, daß jede Nation ausnahmslos[117] mit allen übrigen Ländern gleich brüderlich verkehrt. Wollte eine Nation sich des von Ihnen angedeuteten Verhaltens schuldig machen, so würde sie sich damit vom Verkehr mit den übrigen Staaten der Welt ausschließen. Diese Möglichkeit braucht uns also keine großen Sorgen zu machen.«

»Aber«, versetzte ich, »ich kann mir einen anderen Fall denken. Eine Nation besitzt vielleicht für eine Güterart ein natürliches Monopol und exportiert größere Quantitäten davon, als sie selbst verbraucht. Sie kann in der Folge den Preis steigern und so, ohne die Ausfuhr abzuschneiden, aus der Not der Nachbarn Profit ziehen. Was geschieht dann? Gewiß müßten die Bürger dieses Landes selbst die Güter dieser Art teurer bezahlen, allein in ihrer Gesamtheit würden sie aus ihrer Ausfuhr einen Profit ziehen, der ihren Verlust reichlich aufwiegt.«

»Wenn Sie erst den Grundsatz verstehen lernen«, antwortete Doktor Leete, »nach dem man in unserer Ordnung die Preise aller Erzeugnisse regelt, so werden Sie auch dieses begreifen: heute können die Preise schlechterdings nicht in die Höhe geschraubt werden, es sei denn, daß zur Erzeugung der Güter längere und schwerere Arbeit erforderlich würde. Der nämliche Grundsatz hat für den nationalen wie den internationalen Wirtschaftsverkehr uneingeschränkte Gültigkeit. Übrigens bedürften wir seiner nicht einmal. Der von Ihnen befürchtete Fall ist ein Ding der Unmöglichkeit. Unser Tun ist beherrscht von dem tief eingewurzelten Bewußtsein der Gemeinsamkeit aller Interessen, mögen sie national oder international sein, von der Überzeugung, daß Selbstsucht die größte aller Torheiten ist. Sie müssen wissen, daß wir die schließliche Vereinigung aller Länder der Welt zu einem einzigen Volk von Brüdern erhoffen. Die ganze Menschheit als ein einziges gewaltiges Ganze zusammengeschlossen, das wird ohne Zweifel die letzte und vollendetste Form der menschlichen Gesellschaft sein. Mit der Verwirklichung dieses Ideals werden Vorteile geschaffen, die der gegenwärtige Verband von gleichberechtigten autonomen Staaten nicht zu gewähren vermag. Einstweilen sind wir mit der bestehenden Ordnung der Dinge soweit zufrieden, daß wir es gern unseren Nachkommen überlassen, das Ideal zu verwirklichen. Manche meiner Zeitgenossen sind sogar der Ansicht, daß dies nie erfüllt werden[118] könne. Sie halten einen Staatenbund, wie wir ihn haben, für mehr als eine bloß zeitweilige Lösung des Problems von der Organisation der menschlichen Gesellschaft: nämlich für die beste und endgültige Lösung dieses Problems überhaupt.«

»Wie regeln Sie etwaige Ungleichheiten im Wirtschaftsverkehr zwischen zwei Nationen?« fragte ich. »Gesetzt, wir hätten mehr aus Frankreich eingeführt, als dahin ausgeführt?«

»Am Ende jedes Jahres«, erwiderte Doktor Leete, »werden die Geschäftsbücher jeder Nation einer sorgfältigen Durchsicht unterzogen. Wenn Frankreich uns schuldet, so schulden wir vielleicht einer dritten Nation, die wiederum Frankreich schuldet und so fort. Die Differenz, die sich ergibt, nachdem der internationale Bundesrat die Rechnungen zusammengestellt und verglichen hat, ist dank unserer Wirtschaftsordnung nie bedeutend. Wie viel oder wenig sie auch betragen möge, so verlangt der Bundesrat, daß sie nach einigen Jahren ausgeglichen werde. Ja, wenn die Differenz zu groß wird, so steht ihm das Recht zu, jederzeit die Berichtigung des Betrags zu fordern. Man will nicht, daß eine Nation einer anderen allzuviel schulde, damit nicht Gesinnungen entstehen, die den Geist der Brüderlichkeit schwächen, der alle Nationen untereinander verbinden soll. Aus dem nämlichen Grunde kontrolliert der Bundesrat die Güter, die zwischen den Nationen ausgetauscht werden, und achtet darauf, daß sie von vorzüglicher Qualität sind.«

»Womit aber werden die Differenzen ausgeglichen, wenn Sie kein Geld haben?« fragte ich.

»Mittels der wichtigsten Erzeugnisse der einzelnen Länder. Die unerläßliche Voraussetzung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen war eine Verständigung darüber, welche Erzeugnisse und in welchen Mengen diese an Zahlungs Statt angenommen würden.«

»Noch, eine Auskunft möchte ich erbitten«, sagte ich. »Sie betrifft die Auswanderung. Da eine jede Nation als geschlossene Wirtschaftsgenossenschaft organisiert ist und alle Produktionsmittel monopolisiert hat, so müßte wohl ein Einwanderer Hungers sterben, vorausgesetzt, daß seine Niederlassung überhaupt erlaubt wäre. Meiner Vermutung nach kann heutzutage von Auswanderung keine Rede mehr sein.«[119]

»Im Gegenteil«, erwiderte Doktor Leete. »Bei uns findet eine fortwährende Auswanderung statt, denn unter Auswanderung verstehen Sie doch wohl eine dauernde Übersiedlung nach fremden Ländern. Ein ganz einfaches internationales Übereinkommen über die gegenseitigen Entschädigungen regelt die Frage. Siedelt zum Beispiel ein einundzwanzigjähriger Mann von England nach Amerika über, so verliert England, was es für seine Erziehung und seinen Unterhalt aufgewendet hat, Amerika erhält dagegen umsonst einen Arbeiter. Es ist also natürlich, daß Amerika England dafür entschädigt. Der nämliche Grundsatz kommt in allen Fällen zu sinngemäßer Anwendung. Hat der Auswanderer seiner Arbeitspflicht fast genügt, so wird die Nation entschädigt, bei der er sich niederläßt. Was arbeitsunfähige Personen anbelangt, so erachtet man es für das beste, daß sie unter Schutz und Verantwortlichkeit der eigenen Nation bleiben; ihre Einwanderung in andere Länder ist nur gestattet, wenn ihr Vaterland ihnen vollen Unterhalt verbürgt. So geregelt, ist das Recht jedes einzelnen unbeschränkt, auszuwandern, sobald es ihm beliebt.«

»Wie aber, wenn jemand eine Vergnügungs- oder Forschungsreise unternehmen will? Wie kann ein Fremder ein Land besuchen, dessen Bewohner kein Geld in Zahlung nehmen und ihre Existenzmittel auf Grund einer wirtschaftlichen Organisation erhalten, an der der Reisende keinen Teil hat? Seine eigene Kreditkarte hat doch sicherlich in einem fremden Lande keine Gültigkeit. Wie bestreitet er die Kosten seiner Reise?«

»Heute gilt in Europa eine amerikanische Kreditkarte geradeso wie ehemals amerikanisches Gold«, antwortete Doktor Leete. »Und zwar genau unter derselben Voraussetzung, nämlich, daß sie in die Münze des bereisten Landes umgesetzt wird. Ein Amerikaner, der Berlin besucht, präsentiert dort seine Kreditkarte im Büro des Bundesrats und empfängt für ihren ganzen oder teilweisen Betrag eine deutsche Kreditkarte. Die Vereinigten Staaten werden dafür in entsprechender Höhe als Schuldner Deutschlands in den internationalen Geschäftsbüchern belastet.«


»Herr West würde heute vielleicht gern im ›Elefanten‹ zu Mittag speisen«, sagte Edith, als wir den Frühstückstisch verließen.[120]

»So nennen wir nämlich das Speisehaus unseres Bezirks«, erklärte mir ihr Vater. »Wir lassen nicht bloß in öffentlichen Küchen für uns kochen, sondern wir nehmen auch unsere Mahlzeiten in öffentlichen Speisehäusern ein. Dort ist das Essen und die Bedienung besser, als wir sie zu Hause haben können. Nur Frühstück und Abendbrot nehmen wir daheim ein, weil es der Mühe nicht lohnt, ihretwegen auszugehen; mittags speisen wir dagegen meist außer dem Hause. Seit Sie unser Gast sind, haben wir unsere Gewohnheit durchbrochen, um Ihnen Zeit zu lassen, mit unseren Verhältnissen etwas vertraut zu werden. Was meinen Sie dazu, wollen wir heute im Speisehaus zu Mittag essen?«

Ich erwiderte, daß mir der Vorschlag nur angenehm sei. Bald darauf trat Edith lächelnd zu mir und sagte: »Gestern überlegte ich, wie ich Ihnen Ihren Aufenthalt bei uns erträglich machen könnte, bis Sie sich schließlich an uns und unsere Sitten gewöhnt hätten. Da kam ein Einfall. Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie in die Gesellschaft einiger recht lieber Leute aus Ihrer Zeit brächte, mit denen Sie sicherlich sehr gut bekannt gewesen sind?«

Ich erwiderte mit etwas unsicherer Stimme, es würde mir gewiß ungemein angenehm sein, doch könnte ich nicht begreifen, wie sie dieses Kunststück zuwege bringen wolle.

»Kommen Sie nur mit«, gab sie lachend zur Antwort, »und überzeugen Sie sich selbst, ob ich mein Wort nicht halten werde.«

Die vielen wunderbaren Erlebnisse der letzten Zeit hatten mich zwar gegen Überraschungen etwas abgestumpft, dennoch harrte ich voller Spannung der Dinge, die da kommen sollten. Edith führte mich in ein Zimmer, das ich bis jetzt noch nicht betreten hatte. Es war ein trauliches Gemach mit Bücherschränken an den Wänden.

»Hier sind Ihre Freunde«, sagte Edith, indem sie auf einen Schrank deutete. Ich ließ meine Blicke über die Namen auf den Bücherrücken schweifen: Shakespeare, Milton, Wordsworth, Shelley, Tennyson, Defoe, Dickens, Thackeray, Hugo, Hawthorne, Irving und viele andere große Schriftsteller aus meinen Tagen und allen Zeiten. Nun verstand ich den Sinn von Ediths Äußerung. Sie hatte wirklich Wort gehalten, und zwar in einer Weise Wort gehalten, die die buchstäbliche Erfüllung ihres Versprechens[121] zur Enttäuschung für mich gemacht haben würde. Sie hatte mich in einen Kreis von Freunden geführt, die in den hundert Jahren, seit ich mich zum letztenmal an ihnen erfreut hatte, ebensowenig gealtert waren wie ich selbst. Ihr Geistesflug ging noch so hoch, ihr Witz war noch so glänzend, ihr Lachen und Weinen so ansteckend wie zur Zeit, als ihre Worte den Menschen eines versunkenen Jahrhunderts die Stunden im raschen Fluge entfliehen ließen. Nun war ich nicht länger einsam und konnte mich in so guter Gesellschaft auch künftighin nicht mehr einsam fühlen, wie weit auch die Kluft sein mochte, die zwischen mir und meinem früheren Leben gähnte.

»Freuen Sie sich nicht, daß ich Sie hierhergebracht habe?« rief Edith glückstrahlend aus, als sie auf meinen Zügen den Erfolg ihres Versuches las. »Nicht wahr, Herr West, ich hatte eine gute Idee? Wie schade, daß ich sie nicht schon früher hatte! Ich will Sie nun mit Ihren alten Freunden allein lassen, denn ich weiß, daß diese jetzt für Sie die allerbeste Gesellschaft sind. Aber denken Sie daran, daß Sie über Ihre alten Freunde nicht Ihre neuen vergessen dürfen.«

Mit dieser scherzhaften Mahnung ließ sie mich allein.

Mich zog besonders der Name des Schriftstellers an, der mir vor allen anderen vertraut und lieb war. Ich griff einen Band Dickens heraus, setzte mich und begann zu lesen. Dickens war von jeher mein Liebling unter den Schriftstellern des Jahrhunderts gewesen, ich meine natürlich, des neunzehnten Jahrhunderts. Selten war eine Woche meines früheren Lebens vergangen, ohne daß ich einen Band seiner Werke hervorgenommen hätte, um mit seiner Lektüre eine müßige Stunde auszufüllen. Jedes beliebige Buch, das mir von früher her bekannt war, würde unter den gegenwärtigen Umständen einen außerordentlichen Eindruck auf mich gemacht haben. Um wieviel tiefer mußte mich da nicht die wohlvertraute Kunst Dickens erschüttern, die geradezu überwältigend die Erinnerung an mein früheres Leben wachrief. Indem sie mich den unendlich großen Gegensatz zwischen dem Sonst und dem Jetzt voll empfinden ließ, brachte sie mir das Außergewöhnliche meiner Lage noch stärker als seither zum Bewußtsein. So neu und wunderbar auch eine fremde Umgebung für jemand sein mag, er wird bald anfangen, sich als einen Teil von ihr zu[122] betrachten. Binnen kurzem verliert er die Fähigkeit, die neuen Verhältnisse objektiv zu beobachten und das Ungewöhnliche an ihnen richtig zu beurteilen. Diese Fähigkeit war bei mir schon etwas abgeschwächt worden, aber während ich Dickens durchblätterte, kam sie mir in ihrer ursprünglichen Frische zurück. Die Gedanken, die seine Schilderungen in mir weckten, führten mich rückwärts und stellten mich von Angesicht zu Angesicht mit der Auffassung meines früheren Lebens. Klar und deutlich wie noch nie bisher sah ich jetzt Vergangenheit und Gegenwart wie Kontrastbilder nebeneinander.

Das Genie des großen Romanschriftstellers aus dem neunzehnten Jahrhundert kann wohl den Zeiten Trotz bieten, wie das des unsterblichen Homer. Allein was der Gegenstand seiner ergreifenden Erzählungen gewesen war: das Elend der Armen, die Ungerechtigkeit der Mächtigen, die mitleidslose Grausamkeit der sozialen Ordnung – das alles war so vollständig vom Erdboden verschwunden, wie Circe und die Sirenen, die Charybdis und die Zyklopen.

In den ein oder zwei Stunden, die ich dasaß, mit dem offenen Buche vor mir, hatte ich nicht mehr als ein paar Seiten gelesen. Jeder Absatz, jede Zeile zeigten mir die Weltumwandlung von einer neuen Seite, in einem neuen Lichte und führten meine Gedanken auf weite, vielverzweigte Abwege. Während ich in Doktor Leetes Bibliothek sann und grübelte, erlangte ich allmählich eine klarere und zusammenhängendere Vorstellung von dem eigenartigen Schauspiel, das zu sehen mir durch die merkwürdigsten Fügungen vergönnt worden war. Größer und größer ward mein Staunen über die anscheinende Launenhaftigkeit des Schicksals. Hatte es nicht von allen meinen Zeitgenossen mir allein beschert, jetzt noch auf Erden zu weilen. Mir, das heißt einem Mann, der sich weder irgendwelcher Verdienste rühmen durfte, noch zu Außerordentlichem berufen schien! Ich hatte diese neue Welt weder geahnt, noch für sie gewirkt, wie dies so viele meiner Zeitgenossen getan hatten, unangefochten durch den Hohn der Toren und die Mißdeutungen der Wohlwollenden. Sicherlich wäre es gerechter gewesen, daß einer jener prophetischen und kühnen Geister die Verwirklichung seiner Ideale gesehen und sich an ihnen erfreut hätte. Mein Schicksal zu erleben wäre jener Dichter tausendmal[123] würdiger gewesen, der im Geiste bereits die Welt geschaut, die ich jetzt als greifbare Wirklichkeit vor mir sah. Hatte er sie nicht schon in Worten besungen, die mir in den letzten wunderbaren Tagen immer und immer wieder in den Ohren geklungen hatten? In »Lockleys Hall« hatte Tennyson eine Vision in tönende Verse gebannt, die ihm die fernste Zukunft enthüllte. Dort atmete und sprach eine dichterische Ahnung der neuen Welt mit all ihren Wundern. Dort war die Zeit des internationalen Völkerbundes vorausgesehen, die Zeit der Menschheitsverbrüderung, in der die Kriegstrommeln nicht mehr dröhnen und die Schlachtenbanner nicht mehr wehen; die Zeit, wo der gesunde Menschenverstand der Massen auch bei den temperamentvollsten Nationen triumphiert, und ein einheitliches allgemeines Gesetz die ganze Erde regiert. Denn im Wandel der Zeiten ist das Ideal der Menschen immer erhabener geworden, ihr Gedankenflug hat sich in immer höhere Regionen erhoben, und nun ist die Erfüllung edelsten Ringens und Strebens da.

Wohl hatte Tennyson als Greis in manchem Augenblick den Glauben an seine eigene Prophezeiung verloren. Stunden der Mutlosigkeit und des Zweifels gehören zum Los jedes Propheten. Nichtsdestoweniger aber werden seine Verse ewiges Zeugnis ablegen von dem Seherblick, der dem Dichter eigen, und von der Erkenntnis, die das Erbteil des Glaubens ist.

Doktor Leete holte mich aus der Bibliothek ab, in der mich Grübeleien und Träumereien stundenlang festgehalten hatten. »Edith erzählte mir ihren Einfall«, sagte er, »und ich hielt ihn für ausgezeichnet. Ich muß gestehen, daß ich ein wenig neugierig darauf bin, welchen Schriftsteller Sie für Ihre erste Lektüre gewählt haben. Ah, Dickens! Sie zählen also auch zu seinen Bewunderern? In diesem Punkte stimmen wir durchaus mit Ihnen überein. Wir sind der Überzeugung, daß er alle Schriftsteller seiner Zeit überragt. Aber nicht etwa, weil er das größte Genie besaß, sondern weil sein großes Herz für die Armen schlug, weil er die Opfer der damaligen Gesellschaftsordnung verteidigte und die Grausamkeit und[124] den Trug dieser Gesellschaft schonungslos enthüllte und stäupte. Keiner seiner Zeitgenossen hat so viel getan wie er, um die Aufmerksamkeit auf das Unrecht und Elend der alten Ordnung der Dinge zu lenken und die Augen der Menschen der Erkenntnis zu erschließen, daß eine gewaltige Umwandlung der Verhältnisse not tat, obgleich er selbst diese Umwandlung nicht klar voraussah.«

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 114-125.
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