15. Kapitel

Bücher und Presse

[132] Auf unserer Wanderung durch das Gebäude gelangten wir auch in die Bibliothek. Wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, uns in den luxuriösen Ledersesseln auszuruhen, mit denen sie ausgestattet war. In einer der von Bücherregalen umgebenen Nischen nahmen wir Platz und plauderten.4[132]

»Edith erzählte mir«, sagte Frau Leete, »daß Sie den ganzen Vormittag in unserer Bibliothek verbracht haben. Sie können mir glauben, Herr West, daß ich Sie für den beneidenswertesten aller Sterblichen halte.«

»Ich möchte gern wissen, warum?« antwortete ich.

»Weil Ihnen die Bücher der letzten hundert Jahre neu sind«, versetzte Frau Leete. »Sie werden so viel interessante Werke zu lesen finden, daß Ihnen in den nächsten fünf Jahren kaum Zeit zum Essen bleiben kann. Ach, was würde ich nicht darum geben, wenn ich Berrians Romane noch nicht gelesen hätte!«

»Oder die von Nesmyth, Mutter«, fügte Edith hinzu.

»Gewiß, oder ›Oates Gedichte‹, oder ›Vergangenheit und Gegenwart‹, oder ›Im Anfang‹, oder – oh, ich könnte wenigstens ein Dutzend Bücher nennen, von denen ich für jedes ein Jahr meines Lebens geben möchte!« rief Frau Leete begeistert aus.

»Nach Ihren Worten zu urteilen«, sagte ich, »muß dieses Jahrhundert hochbedeutende literarische Werke hervorgebracht haben.«

»Jawohl«, versetzte Doktor Leete. »Es war ein Zeitalter von beispiellos geistigem Glanze. Wahrscheinlich hat sich nie zuvor in der menschlichen Gesellschaft ein materieller und moralischer Umschwung vollzogen, der so groß in seinem Umfang, so gewaltig in seiner Tragweite gewesen wäre und sich in so kurzer Zeit durchgesetzt hätte, wie die Umwandlung der alten in die neue Gesellschaftsordnung zu Anfang dieses Jahrhunderts. Als die Menschen die Größe des ihnen zugefallenen Glückes zu ermessen anfingen, erkannten sie, daß die stattgehabte Umwälzung nicht nur eine Verbesserung ihrer Lage im einzelnen bedeutete, sondern das Emporsteigen der Menschheit zu einer höheren Stufe der Zivilisation, die die Aussicht auf einen unbegrenzten Fortschritt eröffnete. Alle Fähigkeiten ihres Geistes wurden angeregt, so daß auf allen Gebieten menschlichen Schaffens eine Blüte eintrat, die den Glanz der Renaissance in den Schatten stellt. Es brach eine Periode an, ausgezeichnet durch einen einzig dastehenden Reichtum technischer Erfindungen, wissenschaftlicher Entdeckungen, großartiger und zahlreicher Schöpfungen[133] der bildenden Künste, der Musik und Literatur. Keine zweite Epoche der Geschichte läßt sich mit ihr vergleichen.«

»Da wir gerade über Literatur sprechen«, sagte ich, »so möchte ich gern wissen, wie jetzt Bücher veröffentlicht werden. Gibt die Nation sie heraus?«

»Gewiß.«

»Aber wie verfährt sie dabei? Veröffentlicht die Regierung auf Kosten der Allgemeinheit alles, was geschrieben wird, oder übt sie eine Zensur aus und läßt nur das im Druck erscheinen, was sie billigt?«

»Weder das eine noch das andere«, erwiderte Doktor Leete. »Dem Amt für die Herausgabe von Schriftwerken steht kein Recht der Zensur zu. Es ist verpflichtet, alles drucken zu lassen, was ihm vorgelegt wird. Doch geschieht dies nur unter der Bedingung, daß der Verfasser mit seinem Kredit für die ersten Herstellungskosten aufkommt. Er muß für das Vorrecht bezahlen, zur ganzen Nation zu sprechen. Wir meinen, daß er gern zu der Ausgabe bereit sein wird, wenn er etwas zu sagen hat, was des Anhörens wert ist. Wären die Einkommen noch ungleich wie in früheren Zeiten, so würde diese Regelung nur den Reichen erlauben, Schriftsteller zu sein. Jetzt dagegen, wo alle Bürger gleichgestellt sind, läßt sie den Verfasser nur zeigen, wie stark der Drang, wie ernst der Beweggrund ist, der ihn zum Schreiben treibt. Wenn man sparsam ist und vor einigen Opfern nicht zurückschreckt, so kann man aus seinem Jahreskredit recht wohl die Herstellungskosten für die Auflage eines Buches von mittlerem Umfang decken. Ist ein Buch veröffentlicht, so übernimmt die Nation seinen Vertrieb.«

»Ich vermute, daß der Verfasser wie zu meinen Zeiten im Hinblick auf die zu erwartende Einnahme ein Honorar erhält«, bemerkte ich.

»Die Angelegenheit wird zwar anders geregelt als zu Ihrer Zeit, doch so, daß der Verfasser eines Werkes am Ertrag Anteil hat. Der Preis eines Buches wird durch die Kosten seiner Veröffentlichung und das Autorenhonorar bestimmt, über dessen Höhe der Verfasser selbst entscheidet. Setzt er es zu hoch an, so ist es natürlich sein eigener Schaden, denn das Buch findet dann keine Abnehmer. Der Betrag des Honorars wird dem Autor gutgeschrieben, und dieser selbst wird aller anderen Arbeiten für[134] die Nation so lange enthoben, wie der Betrag seinen Unterhalt deckt. Wenn ein Buch nur einigermaßen gefällt, so kann sein Verfasser Urlaub für mehrere Monate, ja günstigenfalls auch für ein, zwei und drei Jahre erhalten. Schafft er in dieser Zeit weitere Werke von Erfolg, so wird seine Dienstfreiheit der Verbreitung seiner Bücher entsprechend weiter und weiter ausgedehnt. Ein vielgelesener Autor kann sich während der ganzen Dauer seiner nationalen Arbeitspflicht mit seiner Feder erhalten. Die Möglichkeit, der literarischen Tätigkeit mehr oder weniger Zeit widmen zu können, hängt also von der Anerkennung und Wertschätzung seines schriftstellerischen Talents durch die öffentliche Meinung ab. In dieser Hinsicht zeitigt unsere Regelung der Dinge kaum ein anderes Ergebnis als die zu Ihrer Zeit übliche, dennoch aber sind zwei wesentliche Unterschiede vorhanden. Erstens verleiht heute die allgemeine Höhe unserer Bildung dem Volksurteil über den wirklichen Wert einer literarischen Leistung eine ausschlaggebende Bedeutung, wie sie ihm zu Ihrer Zeit auch nicht im entferntesten zukam. Zweitens hat unsere Zeit gründlich mit dem Protektionsunwesen aufgeräumt, das die Anerkennung des wahren Verdienstes verhindern könnte. Unter Ihrer Gesellschaftsordnung war die Gönnerwirtschaft zum herrschenden und korrumpierenden System erhoben worden. Bei uns dagegen hat ein Schriftsteller genau dieselbe Gelegenheit wie der andere, sein Werk vor das Publikum zu bringen. Diese absolute Gleichheit würde sicherlich in Ihren Tagen ungemein geschätzt worden sein; wenigstens lassen die Klagen Ihrer zeitgenössischen Schriftsteller darauf schließen.«

»Das nämliche Prinzip ist wohl auch für die Wertung des Verdienstes auf anderen Gebieten maßgebend, für die außerordentliche geistige Begabung Voraussetzung ist, wie zum Beispiel in der Musik, den bildenden Künsten, der Technik?« sagte ich.

»Jawohl«, erwiderte Doktor Leete, »doch erfährt es im einzelnen manche Abweichungen. In Malerei und Bildhauerkunst zum Beispiel ist das Volk wie in der Literatur der alleinige Richter. Es entscheidet durch Abstimmung darüber, ob Gemälde und Skulpturen in unsere öffentlichen Gebäude aufgenommen werden. Beurteilt es das Werk eines Künstlers günstig, so wird dieser von allen anderen Arbeiten befreit und kann[135] ganz seiner Kunst leben. Kopien seiner Schöpfung, die von der Nation verkauft werden, verschaffen ihm die gleichen Vorteile, die ein Autor durch den Verkauf seiner Werke gewinnt. Für alle Gebiete geistigen Schaffens, die angeborene Begabung heischen, verfolgt man ein und dasselbe Ziel: allen Strebenden ein freies Feld für ihre Betätigung zu eröffnen und dem außergewöhnlichen Talent alle Fesseln abzunehmen, ihm vollste Entwicklungsmöglichkeit zu sichern. Die Befreiung von der allgemeinen Arbeitspflicht ist in diesen Fällen nicht als Geschenk oder Belohnung aufzufassen, sondern als Mittel, mehr und vollendetere Leistungen zu ermöglichen. Natürlich haben wir verschiedene hohe Körperschaften – Akademien für Wissenschaft, bildende Kunst und Literatur –, deren Mitgliedschaft nur berühmten Männern verliehen wird, und die deshalb in hohem Ansehen steht. Nur hervorragenden Gelehrten, Künstlern, Technikern wird die höchste Ehre zuteil, die die Nation zu vergeben hat, und die sogar mehr als die Präsidentenwürde geschätzt wird, denn diese kann man durch offenen Verstand und treue Pflichterfüllung erwerben. Es ist die Zuerkennung des ›roten Bandes‹, das den großen Schriftstellern, Gelehrten, Künstlern, Ingenieuren, Ärzten, Erfindern usw. durch Volksabstimmung verliehen wird. Nicht über hundert tragen es zu gleicher Zeit, obgleich jeder fähige und strebsame junge Mann im Lande ungezählte schlaflose Nächte von dieser Ehre träumt. Mir selbst ist es nicht anders ergangen.«

»Als ob Mama und ich mehr von dir halten würden, wenn du das ›rote Band‹ bekommen hättest«, rief Edith aus. »Womit ich natürlich nicht sagen will, daß es nicht sehr schön sei, das Band zu besitzen.«

»Mein liebes Kind, du hattest keine Wahl«, erwiderte Doktor Leete heiter. »Du mußtest deinen Vater nehmen, wie er war, und dir das Beste aus ihm zu machen suchen. Aber deine Mutter wäre nie die Meine geworden, hätte ich nicht versichert, daß ich das ›rote Band‹ erringen würde.«

Frau Leetes einzige Antwort auf diese gewagte Behauptung war ein Lächeln.

»Unter welchen Bedingungen erscheinen bei Ihnen Zeitschriften und Zeitungen?« fragte ich weiter. »Ich will nicht leugnen, daß Ihre Regelung[136] des Buchverlags vor der in meiner Zeit bedeutende Vorzüge aufweist. Sie wirkt darauf hin, die wahren Talente zu ermutigen und – was ebenso wichtig ist – Leute zu entmutigen, die es doch nicht weiter als zum elenden Skribenten bringen würden. Allein ich verstehe nicht, wie die nämlichen Bedingungen auch für das Erscheinen von Zeitschriften und Zeitungen gelten können. Man kann wohl durchsetzen, daß ein Verfasser die Druckkosten seines Buches trägt, weil das eine einmalige Ausgabe ist, die sich nicht zu oft wiederholt. Wem aber wäre es möglich, die Kosten für das Erscheinen einer täglichen Zeitung aufzubringen? Um sie zu tragen, bedurfte es der tiefen Taschen unserer Privatkapitalisten, und auch sie wurden oft gründlich geleert, ehe sich ein Zeitungsunternehmen bezahlt machte. Wenn Sie heute überhaupt Zeitungen haben, so müssen sie, meine ich, von der Regierung auf allgemeine Kosten herausgegeben werden. Die Regierung wird es auch sein, die die Redakteure ernennt, und diese müssen natürlich die Ansichten der Regierung vertreten. Eine solche Regelung mag sich bewähren, wenn eine soziale Ordnung so vollkommen ist, daß es nie das geringste an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten zu tadeln gibt. Ist dies jedoch nicht der Fall, so muß es nach meiner Ansicht die verhängnisvollsten Folgen zeitigen, wenn es an einem unabhängigen, nicht amtlichen Organ mangelt, in dem die öffentliche Meinung zum Ausdruck gelangen kann. Gestehen Sie nur, Herr Leete, daß die freie Presse mit allen ihren Folgen ein wertvolles Gut unserer kapitalistischen Ordnung war, und daß ihr Eingehen ein Verlust ist, den Sie von den Vorteilen abziehen müssen, die Sie in anderer Hinsicht sich gutschreiben dürfen.«

»Es tut mir leid«, versetzte Doktor Leete lachend, »daß ich Ihnen auch diesen Trost rauben muß. Erstens ist die Tagespresse nicht das einzige und unserer Ansicht nach auch nicht das beste Mittel, öffentliche Angelegenheiten gründlich und ernst zu erörtern. Uns scheint, daß die Zeitungen Ihres Jahrhunderts derartige Angelegenheiten in höchst unreifer und oberflächlicher Weise behandelten, daß ihre Darlegungen und Folgerungen durch Vorurteil und Verärgerung getrübt waren. Hält man die Tagespresse Ihrer Zeit für den Ausdruck der öffentlichen Meinung, so fällt ein ungünstiges Licht auf die Intelligenz des Volkes; hält man[137] sie aber für die Schöpferin der öffentlichen Meinung selbst, so muß man sagen, daß die Nation nicht zu beneiden war. Wenn heutzutage ein Bürger die öffentliche Meinung in einer nationalen Angelegenheit ernstlich beeinflussen will, so verfaßt er ein Buch oder eine Broschüre, die wie alle anderen Schriften herausgegeben werden. Das will jedoch keineswegs besagen, daß uns Zeitschriften und Zeitungen mangeln, oder daß diese irgendeine Freiheit entbehren müßten. Umgekehrt, unsere Tagespresse ist derart organisiert, daß sie die öffentliche Meinung in weit vollkommenerer Weise zum Ausdruck bringt, als es zu Ihrer Zeit möglich war. Denn damals stand sie unter der Herrschaft des Kapitals und ward in erster Linie als Geldgeschäft und erst in zweiter als Mundstück des Volkes betrachtet.«

»Aber«, sagte ich, »wenn die Regierung eine Zeitung auf öffentliche Kosten drucken läßt, so wird sie gewiß die Haltung des Blattes kontrollieren. Wer anders als die Regierung ernennt die Redakteure?«

»Die Regierung zahlt weder die Kosten einer Zeitung, noch ernennt sie die Redakteure, noch beeinflußt sie im geringsten die Haltung eines Blattes«, versetzte Doktor Leete. »Die Leute, die eine gewisse Zeitung lesen, kommen für die Kosten auf, wählen den Redakteur und entlassen ihn, falls seine Leistungen sie nicht zufriedenstellen. Angesichts dieser Tatsachen werden Sie schwerlich behaupten, daß unsere Presse kein freies Organ der öffentlichen Meinung sei.«

»Entschieden nicht«, erwiderte ich, »aber wie ist das möglich?«

»Nichts einfacher als das«, antwortete mein Wirt. »Nehmen wir an, einige meiner Nachbarn und ich selbst wünschen eine Zeitung, die unsere Ansichten zum Ausdruck bringt und die Interessen unseres Ortes, unseres Gewerbes oder Berufes vertritt. Wir beginnen dann damit, die Unterschriften von Lesern zu sammeln, bis ihre Zahl groß genug ist, daß die Jahresbeiträge die Herstellungskosten der Zeitung decken. Die Aufwendungen für das Blatt richten sich nach der Zahl der Leser. Der Subskriptionsbeitrag jedes Bürgers wird auf seiner Kreditkarte notiert, die Nation ist also bei der Herausgabe einer Zeitung gegen jeden Verlust geschützt. Das ist ganz in der Ordnung, weil die Nation lediglich die Rolle eines Verlegers übernimmt, dem es nicht freisteht, die Herausgabe[138] einer Zeitung oder Zeitschrift abzulehnen. Die Subskribenten wählen dann einen Redakteur, der während seiner Amtsdauer von jeder anderen Arbeit beurlaubt ist. Anstatt dem Redakteur ein Gehalt zu zahlen wie zu Ihrer Zeit, leisten die Subskribenten der Nation eine Entschädigung dafür, daß er der allgemeinen Arbeitspflicht entzogen wird, während er doch seinen Unterhalt weiter von der Allgemeinheit empfängt. Diese Entschädigung deckt sich mit der Höhe der Existenzkosten. Der Redakteur leitet die Zeitung gerade, wie es zu Ihrer Zeit geschah, nur daß er keine finanziellen Rücksichten zu nehmen hat und nicht für die Interessen des Privatkapitals auf Kosten des Gemeinwohls einzutreten braucht. Nach Ablauf eines Jahres betrauen die Subskribenten entweder den bisherigen Redakteur von neuem mit der Leitung des Blattes oder sie wählen einen anderen. Ein fähiger Redakteur verbleibt selbstverständlich lange in seinem Amte. Wachsen mit der Zahl der Subskribenten auch die Einnahmen des Blattes, so wird es verbessert; wie zu Ihrer Zeit werden dann mehr und tüchtigere Mitarbeiter gewonnen.«

»Wie honoriert man die Mitarbeiter, da sie doch nicht mit Geld bezahlt werden können?« fragte ich.

»Der Redakteur verständigt sich mit ihnen über den Preis ihrer Arbeiten. Der Betrag ihres Honorars wird von dem garantierten Kredit der Zeitung auf ihren persönlichen Kredit übertragen. So gut wie die anderen Schriftsteller werden die Mitarbeiter der Tagesblätter für so lange von der allgemeinen Arbeitspflicht befreit, wie der ihnen gutgeschriebene Kredit ihren Unterhalt deckt. Das Erscheinen von Zeitschriften erfolgt unter den nämlichen Umständen. Bürger, deren Interesse durch den Prospekt einer Zeitschrift erregt worden ist, zeichnen einen Beitrag, der das Erscheinen für ein Jahr sichert. Sie wählen einen Redakteur, der seine Mitarbeiter genau in der von mir erklärten Weise honoriert, während selbstverständlich die Nationaldruckerei für die materielle Herstellung der Revue sorgt. Sie werden wissen wollen, wie das Leben sich für den Bürger gestaltet, dessen Amtstätigkeit als Redakteur ein Ende hat, und der nicht durch andere literarische Arbeiten das Recht einer freien Verwendung seiner Zeit erringen konnte. Nun, er tritt einfach wieder in die Arbeitsarmee zurück. Ich muß noch hinzufügen, daß ein Redakteur gewöhnlich[139] für ein ganzes Jahr gewählt wird und in der Regel jahrelang auf seinem Posten verbleibt. Natürlich steht aber den Subskribenten das Recht zu, ihn sofort zu entlassen, falls er die Haltung des Blattes plötzlich ändern und es nicht mehr im Sinne seiner Auftraggeber leiten sollte.«

Als sich die Damen abends zurückgezogen hatten, brachte mir Edith ein Buch und sagte: »Sollten Sie auch heute noch nicht schnell einschlafen können, Herr West, so würde es Sie vielleicht interessieren, diese Erzählung von Berrian durchzublättern. Sie gilt für ein Meisterwerk und wird Ihnen wenigstens eine Vorstellung davon geben, wie man heutzutage Erzählungen schreibt.«

In die Lektüre von »Penthesilea« versenkt, saß ich die ganze Nacht auf, bis der Morgen dämmerte; ich konnte das Buch nicht eher aus der Hand legen, bis ich es ausgelesen hatte. Möge kein Bewunderer des großen Romanschriftstellers des zwanzigsten Jahrhunderts mir verargen, was ich bekenne: Was beim erstmaligen Lesen den tiefsten Eindruck auf mich machte, war nicht das, was in dem Buche stand, sondern das, was ich nicht darin fand. Die Schriftsteller meiner Zeit würden das Ansinnen, Ziegelsteine ohne Stroh herzustellen, leicht gefunden haben im Vergleich zu der Aufgabe, einen Roman zu schreiben, aus dem alle Wirkungen verbannt sein sollten, die aus den Gegensätzen entspringen zwischen Reichtum und Armut, Bildung und Unwissenheit, Roheit und feiner Sitte, zwischen dem sozialen Oben und Unten; einen Roman, der seine Motive nicht mehr suchen darf in Stolz und Ehrgeiz, in dem Wunsch, reicher, der Furcht, ärmer zu werden, in der gemeinen Sorge für die eigene oder eine fremde Existenz; einen Roman, in dessen Mittelpunkt nach wie vor die Liebe steht, aber eine Liebe, die nicht mehr durch künstliche Schranken gehemmt wird, wie sie von den Unterschieden des Standes und Besitzes geschaffen wurden, sondern eine große, reine Liebe, die kein Gesetz kennt, als die Stimme des Herzens. Die Lektüre von »Penthesilea« gab mir einen besseren allgemeinen Einblick in die gesellschaftlichen Zustände des zwanzigsten Jahrhunderts, als es die langatmigsten Erklärungen vermocht hätten. Doktor Leetes Erläuterungen hatten mich allerdings in eingehender Weise über viele Tatsachen aufgeklärt.[140] Allein mein Geist hatte davon bloß Einzeleindrücke zurückbehalten, die ich nur sehr unvollkommen miteinander in Zusammenhang zu bringen vermochte. Berrian fügte sie mir zu einem einheitlichen Bilde zusammen.

4

Ich kann nicht genug die herrliche Freiheit rühmen, die in den Bibliotheken des zwanzigsten Jahrhunderts herrscht. Sie steht im schroffsten Gegensatz zu der unerträglichen Art, wie diese Institute zu meiner Zeit verwaltet wurden. Damals vorenthielt man dem Volke eifersüchtig die Bücher, so daß sie nur mit Zeitverlust und Umständlichkeiten erlangt werden konnten, die darauf berechnet waren, jede nicht ganz ungewöhnlich starke Neigung für Studium und Lektüre zu ertöten.(Julian West.)

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 132-141.
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