16. Kapitel

Julian West wird Geschichtsprofessor

[141] Den folgenden Morgen stand ich etwas vor der gewöhnlichen Frühstückszeit auf. Als ich die Treppe hinabging, trat Edith in den Flur; sie kam aus dem Zimmer, das der Schauplatz meines früheren Morgengesprächs mit ihr gewesen war.

»Aha!« rief sie mit einem bezaubernd schelmischen Ausdruck aus. »Sie dachten wohl, sich wieder heimlich aus dem Staube zu machen, um eine jener einsamen Morgenwanderungen zu unternehmen, die Ihnen so ausgezeichnet bekommen? Aber Sie sehen, daß ich diesmal zu zeitig für Ihren Plan aufgestanden bin. Sie sind ertappt und gefangen.«

»Sie setzen den Erfolg Ihrer eigenen Kur herab«, sagte ich, »wenn Sie meinen, daß solche Morgenwanderungen jetzt noch üble Folgen für mich haben könnten.«

»Es freut mich, das zu hören«, versetzte Edith. »Ich war im Nebenzimmer damit beschäftigt, einen Blumenstrauß für den Frühstückstisch zu ordnen, als ich Sie herabkommen hörte. Aus der Behutsamkeit Ihres Schrittes schloß ich auf ein heimliches Vorhaben.«

»Sie taten mir unrecht«, erwiderte ich. »Ich dachte gar nicht daran, auszugehen.«

Trotz Ediths Bemühen, mich glauben zu machen, daß sie mich ganz zufällig abgefaßt habe, stieg mir doch ein leiser Verdacht auf. Ich vermutete, daß das holde Mädchen die letzten zwei oder drei Morgen zu ungewöhnlich früher Stunde aufgestanden war, um in treuester Erfüllung des übernommenen Hüteramts jeder Möglichkeit vorzubeugen, daß ich noch einmal einsam die Stadt durchwanderte und von qualvollen Gemütsstimmungen dem Wahnsinn nahegebracht würde. Später wurde mir[141] die Richtigkeit meiner Vermutung bestätigt. Nachdem Edith mir erlaubt hatte, ihr beim Ordnen des Straußes behilflich zu sein, folgte ich ihr in das Zimmer, aus dem sie gekommen war.

»Sind Sie ganz sicher«, so fragte sie mich, »ob nun für immer die schrecklichen Empfindungen vorbei sind, die Sie an dem bewußten Morgen gepeinigt haben?«

»Ich kann nicht verhehlen«, erwiderte ich, »daß mich hie und da höchst seltsame Gefühle befallen. Es gibt Augenblicke, wo mir die Identität meiner Person als eine offene Frage erscheint. Nach allem, was ich erlebt habe, hieße es zuviel verlangen, wollte ich erklären, daß ähnliche Empfindungen gelegentlich nicht wiederkehren. Aber dennoch denke ich, daß mir nie mehr wie an jenem Morgen die Gefahr droht, ganz zusammenzubrechen.«

»Ich werde nie vergessen«, sagte Edith, »wie Sie damals aussahen.«

»Wenn Sie nur mein Leben gerettet hätten«, fuhr ich fort, »so vermöchte ich vielleicht meine Dankbarkeit in Worte zu kleiden. Aber Sie haben mir mehr gerettet: meine Vernunft, und da sind Worte viel zu schwach, um auszudrücken, was ich Ihnen schulde.«

Eine tiefe Bewegung hatte sich meiner bemächtigt, und ich bemerkte, wie Ediths Augen plötzlich feucht wurden.

»Es fällt mir schwer, dies zu glauben«, sagte sie, »aber es ist dennoch angenehm, es von Ihnen zu hören. Was ich tat, war herzlich wenig. Ich weiß nur, daß ich Ihretwegen schmerzlich gelitten habe. Mein Vater meint, daß uns nichts in Erstaunen versetzen dürfe, was sich wissenschaftlich erklären läßt. Das gilt wohl auch für Ihren langen Schlaf. Trotzdem macht mich der bloße Gedanke an Ihre Lage schaudern. Ich weiß, daß ich ein ähnliches Schicksal nie ertragen könnte.«

»Das hinge davon ab«, erwiderte ich, »ob Ihnen ein Engel nahte, der Sie im Augenblick der höchsten Seelennot mit seinem Mitgefühl unterstützte, ein Glück, das mir zuteil geworden ist.«

Gewiß spiegelten meine Züge das Gefühl wider, das ich mit Recht für das liebenswürdige, holde junge Mädchen hegen durfte, das mir als solch ein Engel entgegengetreten war. Sie mußten dann in jenem Augenblick den Ausdruck der tiefsten Verehrung tragen. Dieser Ausdruck oder[142] meine Worte oder auch beides zusammen ließen Edith mit einem reizenden Erröten die Augen niederschlagen.

»Um bei meinem Fall zu bleiben«, sagte ich, »so haben Sie sicherlich nicht das gleich Aufregende und Außerordentliche empfunden wie ich. Aber immerhin muß es ein überwältigendes Gefühl gewesen sein, in dieses Leben einen Menschen aus einem anderen Jahrhundert zurückgerufen zu sehen, der allem Anschein nach seit hundert Jahren tot war.«

»Uns war in der Tat anfangs unbeschreiblich seltsam zumute«, versetzte Edith. »Als wir uns jedoch in Ihre Lage zu versetzen begannen und uns vergegenwärtigten, wie viel wunderbarer Ihnen alles erscheinen mußte, da vergaßen wir, glaube ich, zum guten Teil unsere eigenen Gefühle. Ich weiß wenigstens, daß es mir so ergangen ist. Ihr Schicksal erschien uns eigentlich weniger wunderbar als interessant und namentlich ergreifender als alles, was man je gehört hatte.«

»Aber scheint es Ihnen nicht wunderlich, mit mir an einem Tisch zu sitzen, nun, wo Sie wissen, wer ich bin?«

»Sie dürfen nicht vergessen«, antwortete Edith, »daß Sie uns nicht so fremd erscheinen wie wir Ihnen. Wir gehören für Sie einer Zukunft an, von der Sie sich keine Vorstellung machen konnten, einer Generation, von der Sie nichts wußten, bis Sie uns sahen. Sie dagegen gehören zu einem Geschlecht, das uns die Voreltern gab. Wie kennen es wohl, die Namen vieler seiner Glieder sind uns vertraut. Wir studieren die Lebensund Denkweise Ihrer Zeitgenossen. Nichts, was Sie sagen oder tun, überrascht uns, wir selbst dagegen sagen und tun nichts, was Ihnen nicht fremdartig erscheinen muß. Wenn Sie trotz alledem fühlen, daß Sie sich mit der Zeit an uns gewöhnen können, so darf es Sie nicht überraschen, daß Sie uns von Anfang an kaum fremd vorgekommen sind.«

»Ich habe die Dinge noch nicht von diesem Gesichtspunkt aus überdacht«, versetzte ich. »Es liegt tatsächlich viel Wahres in dem, was Sie sagen. Man kann leichter tausend Jahre zurückblicken als fünfzig Jahre vorwärts in die Zukunft. Für einen Rückblick bedeuten hundert Jahre gar keine so lange Zeit. Ich hätte ganz gut Ihre Urgroßeltern kennen können. Möglicherweise habe ich sie wirklich gekannt. Lebten sie in Boston?«[143]

»Ich glaube, ja.«

»Sie sind wohl dessen nicht ganz sicher?«

»O doch«, versetzte Edith, »ich glaube es genau zu wissen.«

»Ich hatte einen großen Bekanntenkreis in der Stadt«, fuhr ich fort; »es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich Ihre Vorfahren gekannt oder wenigstens von ihnen gehört habe. Vielleicht habe ich sie sogar sehr gut gekannt. Würde es Sie nicht interessieren, wenn ich Ihnen zufälligerweise recht viel über Ihren Urgroßvater erzählen könnte?«

»Das würde mich sogar sehr interessieren.«

»Sind Sie in der Geschichte Ihrer Familie so bewandert, daß Sie mir sagen können, welche von Ihren Vorfahren zu meiner Zeit in Boston lebten?«

»O ja.«

»Vielleicht nennen Sie mir einmal die Namen des einen oder anderen davon.«

Edith war gerade damit beschäftigt, einen widerspenstigen grünen Zweig zurechtzurücken, und antwortete nicht sogleich. Schritte auf der Treppe kündeten, daß nun auch die übrigen Familienmitglieder herunterkamen.

»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte das junge Mädchen.

Nach dem Frühstück machte mir Doktor Leete den Vorschlag, unter seiner Führung das Zentralwarenlager zu besichtigen und die mir von Edith beschriebenen Einrichtungen für die Verteilung der Güter in voller Tätigkeit anzusehen. Als wir von Hause fortgingen, sagte ich: »Ich nehme nun schon einige Tage lang in Ihrer Familie eine höchst eigentümliche Stellung ein, oder richtiger, ich nehme überhaupt gar keine Stellung ein. Bisher habe ich noch nicht mit Ihnen darüber gesprochen, weil so viele, weit merkwürdigere und stärkere Eindrücke auf mich einstürmten. Jetzt aber fange ich an, etwas Boden unter den Füßen zu fühlen und mir eines klarzumachen: wie auch immer ich hierhergekommen sein mag, nun bin ich hier und muß mich in meine Lage schicken. Jetzt kann ich nicht mehr anders, ich muß über diesen Punkt mit Ihnen reden.«

»Ich bitte Sie, machen Sie sich noch keine Gedanken darüber, daß Sie als Gast in meinem Hause leben«, versetzte Doktor Leete. »Ich hoffe[144] nämlich, daß wir Sie noch recht lange bei uns behalten werden. Ihre Bescheidenheit in allen Ehren – aber Sie müssen doch einsehen, daß ein Gast wie Sie eine Errungenschaft ist, die man nicht gern aufgibt.«

»Besten Dank, Herr Doktor«, sagte ich. »Es würde eine alberne Ziererei sein, wollte ich mich weigern, vorläufig Ihre Gastfreundschaft anzunehmen. Verdanke ich es doch Ihnen, daß ich nicht jetzt noch lebendig begraben den jüngsten Tag erwarte. Wenn ich aber berufen bin, für die Dauer ein Bürger dieses Jahrhunderts zu werden, so muß ich doch auch in ihm irgendeine Stellung ausfüllen. Die Existenz eines Menschen mehr oder weniger wäre zu meiner Zeit in dem großen unorganisierten Haufen nicht aufgefallen, der damals die Gesellschaft bedeutete. Niemand hätte sich darum gekümmert, woher er gekommen wäre, und er hätte sich irgendwo eine Stellung erobern können, vorausgesetzt, daß er nur die nötige Kraft dazu besessen. Heutzutage dagegen ist jedermann ein Teil eines organisierten, planmäßigen Ganzen, in dem ihm ein bestimmter Platz und eine bestimmte Tätigkeit zugewiesen sind. Ich stehe außerhalb dieses Ganzen und weiß nicht, wie ich ihm eingefügt werden könnte. Es scheint mir unmöglich, dieser gesellschaftlichen Ordnung eingegliedert zu werden, wenn man nicht in ihr geboren ist oder aus einem anderen, gleich organisierten Gemeinwesen einwandert.«

Doktor Leete lachte herzlich. »Ich gebe gern zu«, sagte er, »daß unsere soziale Organisation insofern mangelhaft ist, als sie einen Fall wie den Ihrigen nicht vorgesehen hat. Es hat wirklich niemand daran gedacht, daß die Gesellschaft eines schönen Tages auf einem anderen als dem uralten gewöhnlichen Weg einen Zuwachs erhalten könne. Trotzdem brauchen Sie nicht zu befürchten, daß wir nicht eine geeignete Stellung und Betätigung für Sie finden werden. Kommt Zeit, kommt Rat! Bis jetzt sind Sie ja nur mit meiner Familie in Berührung gekommen, aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich aus Ihrer Existenz ein Geheimnis gemacht habe. Im Gegenteil! Noch ehe Sie ins Leben zurückgerufen worden waren und seitdem noch weit mehr, hat Ihr Geschick das allgemeine Interesse erregt. Mit Rücksicht auf Ihren schonungsbedürftigen Zustand hielt man es für das beste, daß ich Sie zunächst unter meine Pflege nähme. Erst wenn Sie durch mich und meine Familie eine allgemeine[145] Vorstellung von der Welt erhalten hätten, in die Sie zurückgekehrt sind, sollten Sie weitere Bekanntschaften machen. Man war auch nicht einen einzigen Augenblick im Zweifel, welcher Beruf für Sie der geeignetste sein könne. Nur wenigen von uns ist es vergönnt, der Nation einen so großen Dienst zu erweisen, wie Sie das zu tun vermögen, wenn Sie mein Haus verlassen werden, woran Sie übrigens noch lange nicht denken dürfen.«

»Was könnte ich denn tun?« fragte ich. »Vielleicht meinen Sie, daß ich ein Handwerk, eine Kunst verstehe oder sonstige besondere Fertigkeiten besitze. Ich versichere Sie, daß dies alles nicht stimmt. Mein Leben lang habe ich nie einen Dollar verdient oder eine Stunde gearbeitet. Ich bin stark und könnte vielleicht einen gewöhnlichen Arbeiter abgeben, mehr aber nicht.«

»Wenn Sie als solcher der Nation am meisten nützen könnten, so würden Sie an sich selbst erfahren, daß die Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters für ebenso ehrenvoll gilt wie jeder andere Beruf«, versetzte Doktor Leete. »Allein Sie können anderes, besseres leisten. In der Kenntnis der sozialen Verhältnisse am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts müssen Sie all unseren Geschichtsforschern weit überlegen sein. Wir interessieren uns heutzutage aber ganz besonders für diese Periode der Geschichte. Wenn Sie erst genügend mit unseren Einrichtungen vertraut geworden und geneigt sind, uns über die gesellschaftlichen Verhältnisse Ihrer Zeit vorzutragen, so steht Ihnen eine Stelle als Lehrer der Geschichte an einer unserer Universitäten offen.«

»Sehr gut! Wirklich sehr gut!« rief ich aus und atmete erleichtert auf, denn dieser praktische Vorschlag löste eine Frage, die mich bereits ernstlich beunruhigt hatte. »Wenn sich Ihre Zeitgenossen tatsächlich so sehr für das neunzehnte Jahrhundert interessieren, so scheint eine derartige Stellung wirklich wie für mich geschaffen. Ich glaube kaum, daß sich für mich irgendein anderer Beruf ausfindig machen ließe, in dem ich mein Brot verdienen könnte. Aber ich kann wohl ohne Selbstüberschätzung behaupten, daß ich für die von Ihnen in Aussicht genommene Stellung ganz besonders geeignet sein dürfte.«[146]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 141-147.
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