17. Kapitel

Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung

[147] Ich fand den Betrieb im Zentralwarenlager ganz so interessant, wie Edith ihn mir beschrieben hatte. Ich geriet geradezu in helle Begeisterung über das durchschlagende Beispiel vor meinen Augen, daß eine planmäßige Organisation den Erfolg der Arbeit wunderbar steigert. Das Lager erschien mir wie eine ungeheure Mühle, in die auf der einen Seite fortwährend ganze Wagen- und Schiffsladungen von Waren hineingeschüttet wurden, um an der anderen wieder hervorzukommen, verteilt und verpackt nach Pfunden oder Grammen, Metern oder Zentimetern, Litern oder Hektolitern, je nachdem es die Bedürfnisse einer halben Million Menschen erheischten. Ich schilderte Doktor Leete, wie zu meiner Zeit der Verkauf der Waren vor sich ging, und er rechnete mir daraufhin vor, welche staunenswerten Ersparnisse die neue Organisation der Güterverteilung mit sich brachte.

»Wenn ich das heute Gesehene zu dem füge, was Sie mir erzählten, und was ich unter Fräulein Leetes Führung im Musterlager kennengelernt habe«, sagte ich auf dem Heimweg, »so kann ich mir eine ziemlich klare Vorstellung davon machen, wie die Verteilung der Waren heutzutage organisiert ist. Ich begreife nun ganz gut, daß die jetzigen Einrichtungen den Zwischenhandel und das Geld entbehrlich gemacht haben. Allein ich möchte gern mehr darüber erfahren, wie die Erzeugung Ihrer Waren geregelt ist. Sie haben mir im allgemeinen erklärt, wie Ihr Arbeitsheer ausgehoben und organisiert wird, aber wer leitet seine Tätigkeit? Welche höchste Behörde entscheidet, was in den einzelnen Wirtschaftsgebieten geschafft werden soll, damit von allen Gütern genügend erzeugt und doch keine Arbeit verschwendet wird? Meines Erachtens liegt ihr eine ungemein verwickelte und schwierige Aufgabe ob, für deren Lösung ganz ungewöhnliche Fähigkeiten erforderlich sind.«

»Meinen Sie das wirklich?« anwortete Doktor Leete. »Ich versichere Sie, daß dies keineswegs so ist. Die Organisation unserer Wirtschaft ist im Gegenteil sehr einfach und fußt auf ganz klaren und leicht durchzuführenden[147] Grundsätzen. Die mit der Leitung betrauten Beamten in Washington brauchen daher nur Durchschnittsbegabung, um ihre Pflicht zur vollendeten Zufriedenheit der Nation zu erfüllen. Die Maschine, die sie leiten, ist allerdings riesengroß, allein ihr Bau beruht auf so logischen Grundsätzen, ihre Funktionen sind so einfach und klar, daß sie fast von selbst geht und daß nur ein Narr sie in Unordnung bringen könnte. Sie werden mir beistimmen, nachdem ich Ihnen die Sache in wenigen Worten auseinandergesetzt habe. Da Sie schon einen recht guten Einblick in den Gang der Güterverteilung bei uns erlangt haben, so soll diese der Ausganspunkt meiner Erklärungen sein. Schon zu Ihrer Zeit konnten die Statistiker Ihnen sagen, wieviel Meter Baumwollstoffe, Samt und Wollzeuge, wieviel Tonnen Mehl, Kartoffeln und Butter, wieviel Schuhe, Hüte und Regenschirme die Nation jährlich konsumierte. Weil die Gütererzeugung damals in Privathänden lag, so konnte man allerdings unmöglich eine Statistik des tatsächlichen Verbrauchs erhalten. Aber immerhin waren die Ziffern, wenn auch nicht ganz genau, doch annähernd richtig. Jetzt dagegen, wo jede verabfolgte Stecknadel gebucht wird, werden natürlich ganz genaue Zahlen über den Konsum in einer Woche, in einem Monat, einem Jahr erhoben und dem Verteilungsamt nach Ablauf jedes solchen Zeitraums zugestellt. Diese Zahlen liegen den Voranschlägen für die Produktion des kommenden Jahres zugrunde. Selbstverständlich werden dabei Anzeichen auf steigende oder abnehmende Nachfrage nach gewissen Gütern berücksichtigt, ferner auch besondere Umstände, die möglicherweise den Verbrauch beeinflussen können. Der Sicherheit halber lassen diese Voranschläge einen großen Spielraum; sind sie von der Generalverwaltung angenommen worden, so haben die Verteilungsämter nichts mit der Sache zu tun, bis die Waren bei ihnen eingeliefert werden. Ich sprach davon, daß die Voranschläge für ein ganzes Jahr im voraus berechnet werden. In Wirklichkeit findet jedoch die Vorberechnung für eine so lange Frist nur bei den großen Massenartikeln statt, bei denen auf stetige Nachfrage zu rechnen ist. Was die meisten Erzeugnisse der kleineren Industriezweige anbetrifft, so pflegt der Geschmack zu wechseln, und die Nachfrage nach ihnen hängt von der neuesten Mode ab. Derartige Artikel werden deshalb nach der Höhe des[148] jeweiligen Verbrauchs erzeugt, und das Verteilungsamt liefert in kurzen Zwischenräumen die Voranschläge, denen die Nachfrage im Verlauf je einer Woche zugrunde liegt.

Alle produktiven Tätigkeitszweige sind in zehn große Berufsgenossenschaften eingeteilt, von denen jede eine Anzahl verwandter Gruppen umfaßt. Innerhalb dieser Genossenschaften wird jeder einzelne Gewerbezweig durch ein besonderes Betriebsamt vertreten. Dieses besitzt die vollständigste Übersicht über die Zahl und das Leistungsvermögen der einzelnen Betriebe, über die Anzahl der Beschäftigten, den jeweiligen Stand der Produktion und die Mittel, diese nötigenfalls zu steigern. Die von der Generalverwaltung gebilligten Voranschläge der einzelnen Verteilungsämter gehen als Aufträge den zehn großen Berufsgenossenschaften zu. Diese übermitteln sie den einzelnen Betriebsämtern, die die verschiedenen Wirtschaftsgruppen vertreten. Hierauf lassen die Ämter die nötigen Arbeiten von ihren Leuten ausführen. Jedes Betriebsamt ist für die ihm zugewiesene Aufgabe verantwortlich; seine Tätigkeit unterliegt strenger Kontrolle durch die Berufsgenossenschaft und die Generalverwaltung, auch nimmt kein Verteilungsamt eine Warenlieferung an, ohne sich vorher selbst von ihrer Güte überzeugt zu haben. Die Regelung unserer Produktion ermöglicht es, daß ein Fehler an einem Erzeugnis bis zu dem Arbeiter zurückverfolgt werden kann, der ihn verschuldet hat, und das auch dann noch, wenn das Erzeugnis sich bereits in der Hand des Verbrauchers befindet. Natürlich sind keineswegs die gesamten nationalen Arbeitskräfte erforderlich, um alles zu erzeugen, was dem tatsächlichen Verbrauch der Nation dient. Nachdem den einzelnen Wirtschaftsgruppen die erforderlichen Mannschaften zugewiesen worden sind, bleiben noch viele Arbeitskräfte frei. Sie werden dazu verwendet, stehendes Kapital zu schaffen: Gebäude, Maschinen, Brücken und Wege, Betriebs- und Verkehrsanlagen und so weiter.«

»Ein Umstand fällt mir ein«, sagte ich, »der vielleicht Unzufriedenheit verursachen könnte. Da Privatunternehmungen ein Ding der Unmöglichkeit sind, wie kann man da mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß die Wünsche kleiner Minderheiten erfüllt und daß auch solche Artikel hergestellt werden, die keinen starken Absatz versprechen? Kann nicht eine[149] amtliche Verfügung sie jederzeit der Möglichkeit berauben, ihre individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, bloß weil die Mehrheit ihren Geschmack nicht teilt?«

»Wenn dies der Fall wäre, so würde das in der Tat Tyrannei sein«, versetzte Doktor Leete. »Aber Sie können versichert sein, daß ähnliches bei uns nicht vorkommt, denn uns ist die Freiheit genau so teuer wie die Gleichheit und Brüderlichkeit. Wenn Sie mit unserer Wirtschaftsordnung erst besser vertraut sind, so werden Sie sich überzeugen, daß unsere Beamten nicht nur dem Namen nach, sondern in der Tat die Geschäftsführer und Diener des Volkes sind. Die Verwaltung besitzt nicht die Macht, die Herstellung von Artikeln einstellen zu lassen, für die überhaupt Nachfrage vorhanden ist. Gesetzt, die Nachfrage nach einem Gegenstand sinkt so beträchtlich, daß seine Erzeugung sehr kostspielig wird. Es muß dann natürlich der Preis entsprechend erhöht werden, allein solange ihn die Verbraucher zahlen, nimmt auch die Produktion ihren Fortgang. Es ist möglich, daß ein bisher noch nicht erzeugter Artikel verlangt wird, und daß die Verwaltung im Zweifel ist, ob tatsächlich Nachfrage danach besteht. In diesem Falle kann sie zur Herstellung des gewünschten Gegenstandes von den Bürgern mittels eines Antrags gezwungen werden, der einen bestimmten Absatz verbürgt. Wir würden es als einen höchst wunderlichen Anachronismus betrachten, wenn eine Regierung oder auch eine Majorität sich einfallen ließe, dem Volke oder einer Minorität Vorschriften machen zu wollen, was man essen und trinken, wie man sich kleiden soll. Zu Ihrer Zeit soll das in Amerika vorgekommen sein. Sie hatten vielleicht Ihre Gründe, warum Sie diese Beschränkungen der persönlichen Freiheit duldeten, uns dagegen würden sie unerträglich dünken. Es ist mir lieb, daß Sie diesen Punkt berührt haben. Dadurch ist mir Gelegenheit geboten worden, Ihnen zu zeigen, daß heutzutage jeder einzelne Bürger die Produktion weit unmittelbarer und erfolgreicher beeinflussen kann, als dies zu Ihrer Zeit möglich war. Zwar erklärte man damals die sogenannte Privatinitiative für ausschlaggebend, in Wirklichkeit hätte man aber von der Initiative der Kapitalisten reden müssen. Dem gewöhnlichen Bürger war es so gut wie unmöglich, bestimmend auf die Produktion einzuwirken.«[150]

»Sie erwähnten vorhin eine Preissteigerung kostspieliger Artikel«, sagte ich. »Wie kann aber von einer Festsetzung der Preise in einem Lande die Rede sein, wo sich weder die Käufer noch die Verkäufer untereinander Konkurrenz machen?«

»Die Preise werden nach dem nämlichen Grundsatz geregelt wie zu Ihrer Zeit«, versetzte Doktor Leete. »Sie meinen, meine Worte bedürfen der Erklärung«, setzte er hinzu, als ich ihn ungläubig anblickte. »Meine Erklärung braucht nicht lang zu sein. Zu Ihrer Zeit hatte der Preis eine natürliche Grundlage: die Kosten der Arbeit, die zur Erzeugung eines Artikels aufgewendet werden mußte. Genau das gleiche ist auch heute noch der Fall. Damals waren es die Unterschiede in den Löhnen, die die Unterschiede in den Preisen bewirkten. Jetzt, wo die Unterhaltskosten aller Arbeiter gleich hoch sind, wird der Preis der einzelnen Güter durch die Unterschiede in der Zahl der Stunden bestimmt, die in den verschiedenen Produktionszweigen je einen Arbeitstag ausmachen. Die Ausübung eines Berufes kann so schwierig sein, daß nur Freiwillige gewonnen werden, wenn die Zahl der Arbeitsstunden auf vier im Tag festgesetzt wird. Die Arbeit eines Mannes kommt dann doppelt so hoch zu stehen als in einem Gewerbe, in dem die Arbeiter täglich acht Stunden schaffen. Die Kosten laufen also auf das gleiche hinaus, wie wenn unter Ihrer Wirtschaftsordnung dem Manne der doppelte Lohn gezahlt worden wäre, den andere Arbeiter erhielten. Berechnet man sämtliche Arbeitsleistungen, die zur Erzeugung eines Guts erforderlich sind, nach dem nämlichen Grundsatz, so erhält man den relativen Preis, das heißt den Preis eines Produktes im Verhältnis zu anderen Produkten. Bei etlichen Gütern ist für die Preisbildung außer den Produktions- und Transportkosten auch die Seltenheit der verarbeiteten Stoffe ausschlaggebend. Diese kann natürlich bei der Herstellung der großen Massengüter keine Rolle spielen, die für den Unterhalt der Gesamtheit nötig sind. Ihre Produktion in überreichlicher Menge ist jederzeit gesichert. Man speichert große Vorräte davon auf, aus denen die Schwankungen ausgeglichen werden, die durch steigenden Bedarf, sinkende Produktivität, ja sogar durch Mißernten entstehen könnten. Die Preise der Massenartikel sinken jedes Jahr; nur selten, wenn überhaupt je, steigen sie. Dagegen gibt es[151] auch Güter, bei denen der Bedarf dauernd, und solche, bei denen er zeitweilig nicht völlig gedeckt werden kann. Zu der letzteren Art gehören zum Beispiel frische Fische und die Erzeugnisse der Milchwirtschaft, zu der anderen Gegenstände, deren Erzeugung eine hohe Kunstfertigkeit oder besonders seltene Rohmaterialien erfordert. Man tut in dieser Beziehung, was man kann: man sucht Unzulänglichkeiten möglichst auszugleichen, die aus der Knappheit der Dinge entstehen. Zu diesem Zwecke erhöht man ihre Preise, und zwar nur zeitweise, wenn es sich um Produkte handelt, die nur zeitweise knapp sind, dagegen für die Dauer bei Gegenständen, die ihrer Seltenheit wegen überhaupt jederzeit nur in kleinen Mengen beschafft werden können. Zu Ihrer Zeit bedeuteten hohe Preise, daß nur der Reiche sich den Genuß kostspieliger Dinge erlauben konnte; heutzutage jedoch, wo alle Bürger der Nation über die gleichen Mittel verfügen, bewirken sie nur eines: daß die teuren Gegenstände ausschließlich von Leuten gekauft werden, die tatsächlich den dringenden Wunsch nach ihnen haben. Wie jeder Geschäftsmann, so findet sich natürlich auch die Nation dann und wann mit Vorratsresten belastet, die sie nicht absetzen kann, weil sie durch den Wechsel der Mode, den Einfluß der Witterung oder sonstige Ursachen verloren haben. Wie dies zu Ihrer Zeit Geschäftsbrauch war, so müssen dann solche Vorräte mit Verlust verkauft werden, und der Ausfall wird zu den Geschäftsunkosten gerechnet. In der Regel fällt es jedoch nicht schwer, derartige Waren mit geringer Einbuße abzusetzen, weil sie vielen Abnehmern gleichzeitig angeboten werden können. – Ich habe Ihnen nun einen allgemeinen Überblick über unsere Organisation der Produktion und der Verteilung aller Güter gegeben. Finden Sie diese Regelung noch so kompliziert, wie Sie sich vorgestellt hatten?«

Ich gab zu, daß nichts einfacher sein könne.

»Ich behaupte gewiß nicht mehr, als was wahr ist«, bemerkte Doktor Leete, »wenn ich dieses sage: Der Leiter irgendeiner der Myriaden Privatunternehmungen Ihrer Zeit hatte eine bei weitem schwierigere Aufgabe als die Männer in Washington, die gegenwärtig der Produktion der gesamten Nation vorstehen. Die Schwankungen des Marktes, die Kniffe seiner Konkurrenten, die Zahlungsfähigkeit seiner Schuldner: alles das[152] und vieles mehr mußte er mit einer Aufmerksamkeit verfolgen, die ihm die Nachtruhe raubte. Alles dies, mein verehrter Freund, beweist nur, daß Dinge weit leichter durchgeführt werden können, wenn man sie am rechten und nicht am verkehrten Ende anfaßt. Es ist leichter für einen General, von einem Luftballon aus bei vollständiger Übersicht über das Schlachtfeld eine Million Kämpfer zum Siege zu führen, als für einen Unteroffizier, mit seiner Kompanie in einem Dickicht zu manövrieren.«

»Der General Ihres Arbeitsheeres, das die Blüte der Nation umschließt, muß der erste Mann im Lande sein«, sagte ich. »Er muß in Wirklichkeit einflußreicher sein als der Präsident der Vereinigten Staaten.«

»Er selbst ist der Präsident der Vereinigten Staaten«, erwiderte Doktor Leete, »oder richtiger gesagt, die wichtigste Aufgabe des Präsidenten besteht gerade darin, daß er die nationale Arbeitsarmee leitet.«

»Wie wird der Präsident gewählt?« fragte ich.

»Als ich Ihnen beschrieb, welch einflußreiche Rolle der Wetteifer in allen Abteilungen des Arbeitsheeres spiele«, antwortete Doktor Leete, »setzte ich Ihnen bereits auseinander, wie Leute für besonders verdienstliche Leistungen nach drei erreichten Rangstufen zum Offizier emporsteigen. Einmal Offizier geworden, werden sie vom Leutnant zum Hauptmann oder Werkführer und von diesem zum Obermeister oder Oberst befördert. Über dem Oberst – jedoch bei einigen größeren Arbeitsgebieten erst nach einer weiteren Zwischenstufe – steht der General eines Gewerbes, unter dessen unmittelbarer Leitung alle einschlägigen Arbeiten ausgeführt werden. Der General steht an der Spitze des nationalen Betriebsamts eines Gewerbes, und er ist der Hauptverwaltung für dessen Arbeiten verantwortlich. Solch ein General hat eine glänzende Stellung, die dem Ehrgeiz der meisten genügt. Sein Rang – um mich eines Ihnen geläufigen militärischen Vergleichs zu bedienen – entspricht etwa dem eines Brigade- oder Divisionsgenerals Ihrer Zeit. Über ihm stehen die Leiter der zehn großen Berufsgenossenschaften, von denen jede einzelne alle miteinander verwandten Gewerbe umfaßt. Die Führer dieser zehn großen Abteilungen des Arbeitsheeres können ungefähr mit Ihren kommandierenden Generälen von ganzen Armeekorps verglichen werden. Jeder von ihnen hat nämlich etwa ein Dutzend Generäle unter[153] sich, die die einzelnen Gewerbe leiten. Als Höchstkommandierender steht der Präsident der Vereinigten Staaten über den zehn hohen Beamten, die das Ministerium bilden.

Der Höchstkommandierende des Arbeitsheeres muß vom einfachen Arbeiter an alle Rangstufen nach aufwärts durchlaufen haben. Lassen Sie uns seine Laufbahn verfolgen. Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, kann sich um den Offiziersrang nur jemand bewerben, wenn er nach vorzüglichen Leistungen als Arbeiter alle einfachen Grade des Arbeitsheeres durchlaufen hat. Eine Ernennung von oben herab befördert ihn vom Leutnant an bis zum Oberst oder Obermeister hinauf; als Bewerber für dieses Amt kann nur in Betracht kommen, wer die besten Zeugnisse über seine Tätigkeit besitzt. Der General eines Gewerbes ernennt die ihm unterstellten Offiziere, er selbst wird jedoch nicht ernannt, sondern durch Abstimmung gewählt.«

»Gewählt!« rief ich aus. »Wird dadurch nicht die Disziplin Ihrer Wirtschaftsorganisation gelockert? Die Bewerber um den Posten eines Generals erliegen wahrscheinlich der Versuchung, zu intrigieren, um die ihnen unterstellten Arbeiter für sich zu gewinnen.«

»Das würde ohne Zweifel geschehen, wenn die Arbeiter stimmen oder irgend etwas in die Wahl dreinreden dürften«, erwiderte Doktor Leete. »Aber dies ist nicht der Fall, und zwar infolge einer besonderen Bestimmung unserer sozialen Ordnung. Der mit der Leitung eines Gewerbes betraute General wird aus der Zahl der Obermeister durch die Ehrenmitglieder dieser nämlichen Wirtschaftsgruppe gewählt. Ehrenmitglied eines Gewerbes sind aber alle Bürger, die in ihm ihrer Dienstpflicht genügt und ihre Entlassung erhalten haben. Wie Ihnen bekannt ist, scheiden wir mit fünfundvierzig Jahren aus dem Arbeitsheere aus und widmen den Rest unseres Lebens der Vervollkommnung unseres Wesens und unserer Erholung. Aber natürlich verknüpfen uns auch weiterhin starke Bande mit den Körperschaften, denen wir während unserer Dienstzeit angehört haben. Die Freundschaften, die wir damals schlossen, dauern bis ans Ende unserer Tage. Wir werden Ehrenmitglieder unseres früheren Gewerbes, und als solche wachen wir mit regem und eifersüchtigem Interesse darüber, daß es auch in den Händen des jüngeren Geschlechts gedeiht[154] und seinen guten Ruf bewahrt. In den Klubs, in denen sich die Ehrenmitglieder gesellig zusammenfinden, drehen sich die Unterhaltungen meist um gewerbliche und berufliche Angelegenheiten, und die jungen Bewerber um die Leitung eines ganzen Gewerbes müssen recht Tüchtiges leisten, wenn sie vor der Kritik der ›alten Herren‹ bestehen wollen. Die Nation würdigt diese Umstände, und sie betraut daher die Ehrenmitglieder jedes Gewerbes mit der Wahl des Generals, der ihm vorstehen soll. Ich darf wohl behaupten, daß keine frühere gesellschaftliche Ordnung je einen Wahlkörper bilden konnte, der gleich diesen Wahlberechtigten miteinander vereinigt hätte: eine vollkommene Unparteilichkeit, die genaueste Kenntnis der persönlichen Fähigkeiten und Leistungen der einzelnen Bewerber und zugleich das höchste Interesse an dem besten Ergebnis der Wahl. Dazu kommt noch, daß die Ehrenmitglieder ihre Aufgabe in idealster Weise lösen können, da alle selbstsüchtigen Motive wegfallen.

Jeder der zehn kommandierenden Generäle oder Leiter der großen Berufsgenossenschaften wird aus der Zahl der Generäle gewählt, die den einzelnen Gewerben vorstehen, aus der sich die betreffende Hauptabteilung zusammensetzt. Wähler sind die Ehrenmitglieder sämtlicher Gewerbe, die die Berufsgenossenschaft umfaßt. Natürlich möchten die Wähler jedes einzelnen Gewerbes am liebsten für dessen General die Mehrheit gewinnen. Jedoch besitzt in keiner einzigen der zehn großen Berufsgenossenschaften ein Gewerbe für sich allein so viel Stimmen, daß es einen Bewerber durchbringen könnte, für den nicht die Mehrheit der Ehrenmitglieder aus den übrigen wirtschaftlichen Gruppen einträte. Ich kann Sie versichern, daß es bei diesen Wahlen äußerst lebhaft zugeht.«

»Wie ich vermute«, bemerkte ich, »wird wohl der Präsident aus der Zahl der zehn Leiter der großen Berufsgenossenschaften gewählt?«

»Ganz recht«, erwiderte Doktor Leete, »aber diese Leiter werden erst wählbar, nachdem sie mehrere Jahre außer Amt und Würden gewesen sind. Selten ist jemand vor seinem vierzigsten Lebensjahr durch alle Rangstufen hindurch bis zur Leitung einer Berufsgenossenschaft emporgestiegen; ein kommandierender General zählt also am Ende seiner fünfjährigen Amtstätigkeit gewöhnlich fünfundvierzig Jahre. Ist er älter, so behauptet er seine Stellung über die Altersgrenze hinaus bis zum Ablauf[155] seiner Amtsperiode; ist er jünger bei ihrem Abschluß, so wird er trotzdem der weiteren Dienstpflicht im Arbeitsheer enthoben. Es würde sich nicht empfehlen, ihn wieder in Reih und Glied treten zu lassen. Die Zeit, die zwischen dem Ablauf seiner Amtsführung als kommandierender General und seiner Bewerbung um die Präsidentschaft verstreicht, soll ihn ganz mit dem Gedanken beseelen, daß er nun wieder zur großen Masse der Nation gehört, und daß er sein Augenmerk mehr auf die Interessen des gesamten Volkes richten soll als auf die des Arbeitsheeres allein. Ferner erwartet man von ihm, daß er seine freie Zeit zum Studium der allgemeinen Wirtschaftsbedingungen des Landes benutzt, statt sich ausschließlich mit Fragen zu beschäftigen, die nur die Berufsgenossenschaft angehen, deren Leiter er gewesen ist. Alle Mitglieder der Nation, die nicht dem Arbeitsheer angehören, erwählen durch Abstimmung den Präsidenten aus der Reihe der Generäle, die ganzen Berufsgenossenschaften vorgestanden haben und zur Zeit wählbar sind.«

»Wer dem Arbeitsheer angehört, darf also bei der Präsidentenwahl nicht mitstimmen?« fragte ich.

»Gewiß nicht«, erwiderte der Doktor. »Das würde die Disziplin bedrohen, die ja der Präsident als Vertreter der gesamten Nation aufrechterhalten soll. Dem Präsidenten steht bei seinen Amtsgeschäften ein Aufsichtsrat zur Seite, der ein wichtiges Glied unserer sozialen Ordnung ist. Ihm werden nämlich alle Beschwerden oder Berichte über Mangelhaftigkeit der Güter, Unhöflichkeit oder Untüchtigkeit der Offiziere und Übelstände aller Art vorgelegt, die im nationalen Wirtschaftsleben zutage treten. Der Aufsichtsrat kommt jedoch gewöhnlich den Beschwerden zuvor. Er nimmt nicht nur alle Mitteilungen über die im Dienst begangenen Fehler zur Kenntnis und untersucht sie gewissenhaft. Ihm liegt vielmehr auch ob, durch eine systematische und beständige Überwachung aller Wirtschaftsgruppen Mängel zu entdecken, die noch niemand sonst bemerkt hat. Der Präsident ist zur Zeit seiner Wahl gewöhnlich fast fünfzig Jahre alt, und seine Amtsführung dauert fünf Jahre; er macht folglich eine ehrenvolle Ausnahme von der Regel, nach der jeder Bürger mit dem fünfundvierzigsten Lebensjahre aus dem Dienste der Nation entlassen wird. Wenn die Zeit der Amtstätigkeit eines Präsidenten abgelaufen[156] ist, so legt er seinen Rechenschaftsbericht einem zusammentretenden Nationalkongreß vor. Dieser billigt den Rechenschaftsbericht oder weist ihn zurück. Ist das erstere der Fall, so pflegt der Kongreß den abtretenden Präsidenten für fünf Jahre zum Vertreter der Nation im internationalen Bundesrat zu wählen. Nebenbei will ich hier gleich bemerken, daß der Nationalkongreß auch die Rechenschaftsberichte der Leiter der zehn großen Berufsgenossenschaften prüft, die aus ihrem Amte ausscheiden. Eine Mißbilligung ihrer Amtsführung zieht den Verlust des Rechts nach sich, für die Präsidentschaft zu kandidieren. Die Nation hat jedoch nur in äußerst seltenen Fällen Veranlassung, der Leistungen ihrer höheren Beamten mit anderen Gefühlen als denen der Dankbarkeit zu gedenken. Was ihre Befähigung anbetrifft, so wird wohl ihre ungewöhnliche Begabung genügend durch die Tatsache bewiesen, daß sie sich durch die Lösung verschiedenartiger und schwieriger Aufgaben von der untersten Stufe zu ihrem hohen Amt emporgearbeitet haben. Was ihre Ehrenhaftigkeit anbelangt, so sorgt schon unsere soziale Ordnung dafür, daß sie nur von einem Beweggrund geleitet werden können: von dem Wunsche, die Achtung ihrer Mitbürger zu gewinnen. Korruption ist ein Ding der Unmöglichkeit in einer Gesellschaft, die weder Armut kennt, die bestochen werden kann, noch Reichtum, der zu bestechen vermag; in einer Gesellschaft, in der von Demagogentum und Stellenjägerei nicht die Rede sein kann, weil diese Übel durch die Art und Weise ausgeschlossen sind, wie die höheren Ämter besetzt werden.«

»Über einen Punkt bin ich mir nicht ganz klar geworden«, sagte ich. »Können Künstler, Gelehrte, überhaupt Personen, die einen liberalen Beruf ausüben, zum Präsidenten gewählt werden? Und wenn dies der Fall ist, in welchem Rangverhältnis stehen sie zu den Bürgern, die im eigentlichen Wirtschaftsleben tätig sind?«

»Sie unterstehen im allgemeinen überhaupt nicht der Rangordnung, die für die Mitglieder des Arbeitsheeres gilt«, erwiderte Doktor Leete. »Nur Angehörige eines technischen Berufs, wie Ingenieure und Architekten, werden zu der Mannschaft der sogenannten produktiven Gewerbe gerechnet und sind der für sie geltenden Rangordnung unterworfen. Vertreter anderer Berufe, wie Ärzte, Lehrer, ferner Gelehrte, Künstler, Schriftsteller,[157] die ihrer Arbeitspflicht enthoben sind, stehen dagegen gänzlich außerhalb des Arbeitsheeres. Aus diesem Grunde sind sie bei der Präsidentenwahl wohl stimmberechtigt, können aber selbst nicht als Präsident gewählt werden. Da eine der wichtigsten Amtspflichten des Präsidenten darin besteht, das Arbeitsheer zu überwachen und seine Disziplin aufrechtzuerhalten, so kann er sich seiner Aufgabe nur gewachsen zeigen, wenn er alle Grade der Organisation durchlaufen hat und Einblick in alle einschlägigen Verhältnisse besitzt.«

»Das ist sehr vernünftig«, sagte ich. »Allein wenn Ärzte und Lehrer nicht genug von der nationalen Wirtschaft verstehen, um Präsident zu werden, so ist auch andererseits, scheint mir, der Präsident nicht genug mit der Medizin und den Erziehungswissenschaften vertraut, um diese Gebiete kontrollieren und leiten zu können.«

»Das tut er auch gar nicht«, lautete die Antwort. »Zwar muß der Präsident im allgemeinen darüber wachen, daß die bestehenden Gesetze allen Klassen von Bürgern zugute kommen und von ihnen beachtet werden. Aber davon abgesehen, hat er mit den Medizinal- und Erziehungsämtern und den betreffenden Berufsgenossenschaften nichts zu tun. Diese Berufsgenossenschaften stehen unter der Leitung eines erwählten Ausschusses. Der Präsident führt dort den ständigen Vorsitz und hat die entscheidende Stimme. Dieser leitende Ausschuß ist natürlich vor dem Kongreß verantwortlich und wird durch die Ehrenmitglieder der Berufsgenossenschaften von Ärzten und Lehrern gewählt, das heißt von den in Ruhestand getretenen Ärzten und Lehrern des Landes.«

»Wissen Sie«, sagte ich, »daß die Wahl des leitenden Ausschusses durch die ehemaligen Mitglieder der Berufsgenossenschaften nur die Durchführung eines Grundsatzes im großen ist, der im kleinen in vielen unserer höheren Lehr- und Erziehungsanstalten durchgeführt wurde? Nämlich bei der Auswahl junger Leute, die eine gewisse Aufsicht über ihre Kameraden im Institut zu führen hatten?«

»Ist das möglich?« rief Doktor Leete lebhaft aus. »Die Tatsache ist mir ganz neu und, wie ich glaube, auch den meisten meiner Zeitgenossen. Sie ist hochinteressant. Man hat viel darüber gestritten, woher die erste Idee des Verfahrens stamme, und wir bildeten uns ein, daß sie einmal[158] etwas Neues unter der Sonne bedeute. So so ..., also in manchen Ihrer höheren Lehranstalten! Das ist in der Tat interessant. Sie müssen mir mehr darüber erzählen.«

»Es ist wahrhaftig äußerst wenig mehr davon zu erzählen, als ich bereits gesagt habe«, erwiderte ich. »Zu meiner Zeit war wohl der Keim dieser Ihrer Einrichtung vorhanden, aber es war eben doch nicht mehr als ein Keim.«

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 147-159.
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