19. Kapitel

Justiz und Verwaltung

[162] Eines schönen Morgens suchte ich Charlestown auf. Es ist unmöglich, all die Veränderungen im einzelnen aufzuzählen, die davon zeugten, daß ein Jahrhundert über den Stadtteil dahingegangen war. Sie waren zu zahlreich, doch fiel mir eine davon besonders auf: das alte Staatsgefängnis war verschwunden.

»Das wurde schon vor meiner Zeit abgetragen, aber ich erinnere mich, daß ich noch davon gehört habe«, sagte Doktor Leete, als ich beim Frühstück darauf zu sprechen kam. »Heutzutage haben wir keine Gefängnisse mehr. Alle Fälle von Atavismus werden in den Pflegehäusern behandelt.«

»Von Atavismus!« rief ich höchlichst verwundert aus.

»Jawohl«, erwiderte Doktor Leete. »Schon vor fünfzig Jahren, ja, wenn ich mich recht erinnere, noch früher hat man es aufgegeben, gegen Unglückliche dieser Art mit Strafen einzuschreiten.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz«, sagte ich. »Wir wendeten zu meiner Zeit das Wort Atavismus an, wenn bei jemand ein Wesenszug, eine Eigentümlichkeit besonders auffällig hervortrat, die einen der Vorfahren charakterisiert hatte. Soll ich Ihre Bemerkung dahin verstehen, daß man heutzutage die Verbrechen als Rückfälle in ererbte Eigentümlichkeiten erklärt?«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Doktor Leete mit einem halb belustigten, halb entschuldigenden Lächeln, »aber da Sie mich so ausdrücklich fragen, muß ich gestehen, daß dem in der Tat so ist.«[162]

Nach allem, was ich bereits über den Gegensatz zwischen den Moralbegriffen des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts gehört hatte, war es jedenfalls töricht von mir, mich von des Doktors Erklärung peinlich berührt zu fühlen. Hätte Doktor Leete nicht in einem so entschuldigenden Tone gesprochen, und wären Frau Leete und Edith nicht etwas verlegen geworden, so würde ich auch nicht errötet sein. So aber fühlte ich, daß ich rot wurde.

»Ich lief schon früher kaum Gefahr, auf meine Generation stolz zu sein«, sagte ich, »aber tatsächlich ...«

»Die jetzige Generation ist die Ihrige, Herr West«, unterbrach mich Edith. »Es ist die Generation, in der Sie leben. Wir bezeichnen sie nur als die unsrige, weil auch wir in ihr leben.«

»Ich danke Ihnen. Ich werde versuchen, ebenso in der Frage zu denken«, sagte ich, und als meine Augen denen Ediths begegneten, sah ich darin einen Ausdruck, der meine törichte Empfindlichkeit verscheuchte. »Übrigens bin ich als Calvinist erzogen worden«, fügte ich lachend hinzu, »und ich sollte deshalb gar nicht erstaunt sein, daß man Verbrechen als einen Ausfluß erblicher Belastung betrachtet.«

»Tatsächlich«, sagte Doktor Leete, »enthielt meine Redewendung vom Atavismus durchaus keine Anspielung auf Ihre Generation, wenn wir überhaupt mit Ediths Erlaubnis von den Leuten des neunzehnten Jahrhunderts als von Ihrer Generation sprechen dürfen. Wir dünken uns auch keineswegs Ihnen überlegen – außer in unseren besseren Lebensbedingungen. Wenn wir das Wort Verbrechen im weitesten Sinne nehmen, so daß es auch alle Arten Vergehen und Gesetzesübertretungen in sich begreift, so wurden in Ihrer Zeit volle neunzehn Zwanzigstel davon durch den ungleichen Besitz der einzelnen hervorgerufen. Der Mangel führte den Armen in Versuchung, den Wohlhabenden verführte die Gier nach größerem Gewinn oder der Wunsch, den alten Reichtum festzuhalten.[163] Der Anreiz zu jeglichem Verbrechen war unmittelbar oder mittelbar der Durst nach Geld, das damals gleichbedeutend mit der Macht war, sich alle Güter und Annehmlichkeiten des Lebens zu verschaffen. Der Durst nach Geld war die Wurzel eines giftigen Riesenbaums, in dessen unheilvollem Schatten trotz des ganzen großen Apparates von Gesetzen, Gerichten und Polizei Ihre Zivilisation fast erstickte. Indem die Nation zur alleinigen Hüterin allen Reichtums geworden ist und allen ihren Gliedern ein reichliches Auskommen verbürgt, ist auf der einen Seite allem Mangel, auf der anderen aller Anhäufung von Reichtümern vorgebeugt. Damit war die Axt an die Wurzel des Giftbaums gelegt, der Ihre Gesellschaft überschattete, und er verwelkte in einem Tage, der Kürbisranke des Jonas gleich. Schon zu Ihrer Zeit waren es nur ungebildete und rohe Menschen, die sich gewalttätiger Verbrechen gegen Personen schuldig machten, Verbrechen, bei denen die Gewinnsucht keine Rolle spielte und deren Zahl verhältnismäßig klein war. In unseren Tagen, wo Erziehung und gute Sitten nicht mehr das Vorrecht einiger weniger sind, sondern Gemeingut aller, hört man kaum noch von solchen Greueltaten. Sie verstehen wohl jetzt, weshalb wir das Wort »Atavismus« statt Verbrechen anwenden. Es fehlen jetzt die Beweggründe für fast alle Arten von Verbrechen, die man zu Ihrer Zeit kannte. Wenn sie trotzdem vorkommen, so erklärt man sie durch Wiederauftreten von Charakterzügen, die von den Vorfahren her vererbt worden sind. Personen, die zu Ihrer Zeit ohne jeden verständlichen Grund stahlen, pflegte man als Kleptomanen zu bezeichnen; lag der Fall klar, so hätte man es für töricht erachtet, sie als Diebe zu bestrafen. Jetzt verfahren wir mit den Opfern des Atavismus genau so, wie Sie mit notorischen Kleptomanen verfuhren: wir lassen ihnen eine Behandlung angedeihen, bei der sich Mitgefühl mit strenger, doch milder Zucht paart.«

»Ihre Gerichte müssen also gute Tage haben«, bemerkte ich. »Von Privateigentum ist nicht die Rede mehr, Streit über geschäftliche Angelegenheiten kommt zwischen den Bürgern nicht vor, es gibt keinen Grundbesitz zu teilen, keine Schulden einzuklagen. Zivilprozesse sind[164] mithin ein Ding der Unmöglichkeit geworden, und da keine Verbrechen gegen das Eigentum und nur verschwindend wenig Kriminalfälle zu verhandeln sind, so können Sie meines Dafürhaltens fast ganz ohne Richter und Advokaten auskommen.«

»Wir brauchen auch keine Advokaten mehr, gewiß nicht«, gab Doktor Leete zur Antwort. »In Fällen, wo es sich für die Nation gerade darum handelt, die Wahrheit an den Tag zu bringen, würde es uns nicht vernünftig erscheinen, Personen sich einmischen zu lassen, die ein ausgesprochenes Interesse daran haben, die Wahrheit zu verdunkeln.«

»Aber wer verteidigt dann den Angeklagten?«

»Wenn dieser schuldig ist, so bedarf es keiner Verteidigung, weil er selbst sich dann meist als schuldig bekennt«, erwiderte Doktor Leete. »Die Erklärung, die der Angeklagte abgibt, ist bei uns nicht wie bei Ihnen eine bloße Formalität, gewöhnlich entscheidet sie einen vorliegenden Fall.«

»Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, daß ein Angeklagter schon freigesprochen wird, wenn er behauptet, unschuldig zu sein?«

»Das nicht«, versetzte Doktor Leete. »Niemand wird bei uns in Anklagezustand versetzt, wenn nur leichte Verdachtsmomente vorliegen. Wenn ein Angeklagter das ihm zur Last gelegte Verbrechen bestreitet, so muß folglich die Sache weiter untersucht werden. Jedoch kommt es nur selten dazu, weil der Schuldige meist ein Geständnis ablegt. Hat er fälschlich die Anklage bestritten und wird seiner Schuld überführt, so erhält er die doppelte Strafe. Die Unwahrheit ist jedoch bei uns so verachtet, daß ein Missetäter nur selten leugnen wird, um sich zu retten.«

»Das klingt am wunderbarsten von allem, was Sie mir bisher gesagt haben!« rief ich aus. »Wenn das Lügen aus der Mode gekommen ist, so haben wir ja tatsächlich jetzt einen neuen Himmel und eine neue Erde, wo Gerechtigkeit wohnt, wie der Prophet vorausgesagt hat.«

»Das glauben manche Leute heutzutage wirklich«, gab der Doktor zur Antwort. »Sie sind überzeugt, daß wir jetzt im Tausendjährigen Reich leben, und von ihrem Standpunkt aus hat der Glaube manches für sich. Dagegen sehe ich wirklich keinen Grund für Ihr Erstaunen, daß das Lügen aus der Welt verschwunden ist. Unwahrheiten waren doch schon zu Ihrer[165] Zeit unter gesellschaftlich gleichstehenden Männern und Frauen nicht häufig. Die Lüge aus Furcht war die Zuflucht des Feiglings, die Lüge zum Zwecke des Betrugs das Mittel des Schwindlers. Die sozialen Ungleichheiten zwischen den Menschen, ihre Gier nach Besitz setzten immer wieder auf die Lüge einen Preis. Dennoch wurde Lug und Trug schon damals von denen verabscheut, die einander weder fürchteten noch betrügen wollten. Jetzt dagegen, wo soziales Gleichgewicht herrscht, niemand den anderen zu fürchten braucht, keiner von ihm durch Betrug etwas gewinnen kann, ist der Abscheu vor der Unwahrheit allgemein. Sogar jemand, der zum Verbrecher geworden ist, würde, wie schon gesagt, nur selten zu einer Lüge seine Zuflucht nehmen. Sollte ein Angeklagter seine Schuld leugnen, so ernennt der beauftragte Richter zwei Kollegen, von denen der eine alle dem Beschuldigten günstigen Umstände klarzulegen hat, der andere dagegen alle ihm ungünstigen Tatsachen. Diese Männer gleichen herzlich wenig den gemieteten Advokaten und Anklägern Ihrer Zeit, die von vornherein darauf ausgingen, für den Angeklagten Freispruch oder Verurteilung zu erzielen. Sie können dies schon daraus erkennen, daß ein Fall von neuem untersucht und verhandelt werden muß, wenn beide Richter nicht zu einem übereinstimmenden Urteil gelangen. Es würde für einen unerhörten Skandal angesehen werden, wenn ein Richter irgendwelche Voreingenommenheit auch nur im Tone verraten wollte.«

»Habe ich Sie recht verstanden«, sagte ich, »daß es Richter sind, die sowohl das Für und das Wider eines Falles zu plädieren haben, wie es ein Richter ist, der den Urteilsspruch fällt?«

»Gewiß«, erwiderte Doktor Leete. »Die Richter wechseln für diese Funktionen in einer bestimmten Reihenfolge miteinander ab; bald sitzen sie auf der Gerichtsbank, bald plädieren sie für, bald wider die Anklage. Man erwartet von ihnen stets die gleiche richterliche Unbefangenheit und Unparteilichkeit, ganz gleich, ob sie die eine oder die andere dieser Berufspflichten erfüllen. Unser Gerichtsverfahren läuft darauf hinaus, daß jeder Fall von drei Richtern untersucht wird, von denen jeder ihn von einem anderen Gesichtspunkt aus auffaßt und prüft. Gelangen nun alle drei übereinstimmend zu ein und demselben Urteilsspruch, so dürfen[166] wir wohl annehmen, daß er der vollkommenen Wahrheit so nahekommt, als uns das überhaupt nur möglich ist.«

»Sie haben also die Geschworenengerichte abgeschafft?«

»Die Geschworenengerichte mögen ein recht gutes Aushilfsmittel gewesen sein, solange es noch gemietete Advokaten und Richter gab, die zuweilen käuflich waren und noch öfter sich in einer abhängigen Stellung befanden. Jetzt dagegen sind sie überflüssig. Bei uns ist es undenkbar, daß ein anderer Beweggrund als die Liebe zur Gerechtigkeit unsere Richter leitet.«

»Wie werden diese Richter gewählt?«

»Sie bilden eine ehrenvolle Ausnahme von der Regel, daß alle mit fünfundvierzig Jahren aus dem Dienste der Nation entlassen werden. Der Präsident der Nation ernennt jedes Jahr die nötigen Richter aus der Reihe der Bürger, die die Altersgrenze für die Dienstpflicht erreicht haben. Die Zahl der Ernannten ist sehr klein, und die Ehre, Richter zu sein, gilt für eine so hohe, daß sie die Verlängerung der Dienstpflicht reichlich aufwiegt. Deshalb kommt es auch nur in den allerseltensten Fällen vor, daß jemand von seinem Recht Gebrauch macht, seine Ernennung abzulehnen. Der Richter wird auf die Dauer von fünf Jahren ernannt, nach Ablauf seiner Amtszeit kann er seinen Posten nicht zum zweitenmal bekleiden. Die Mitglieder des ›Höchsten Gerichtshofes‹, der über die Verfassung zu wachen hat, werden aus der Zahl der gewöhnlichen Richter gewählt. Ist ein Sitz im Höchsten Gerichtshof frei geworden, so ist seine Besetzung die letzte Amtshandlung der Richter, deren Tätigkeit im Jahre abläuft. Aus der Mitte ihrer noch weiteramtierenden Kollegen wählen sie für den hohen Posten den Mann, der ihnen als der berufenste hierfür erscheint.«

»Da es bei Ihnen keine Wirkungsgebiete gibt, in denen sich die Richter auf ihr Amt vorbereiten können, so treten sie es sofort an, nachdem sie die juristische Fakultät hinter sich haben?« fragte ich.

»Eine juristische Fakultät gibt es bei uns gar nicht«, erwiderte Doktor Leete lächelnd. »Die Rechtskunde hat aufgehört, eine besondere Wissenschaft zu sein. Die alte, unnatürliche und verschrobene Gesellschaftsordnung machte ein ausgebildetes, kasuistisches Rechtssystem zur Notwendigkeit,[167] das seinerseits wiederum der Auslegung bedurfte. Bei der neuen sozialen Ordnung dagegen haben nur einige wenige Rechtssätze Geltung, die ganz klar und einfach sind. Alle Beziehungen der Menschen untereinander sind unvergleichlich einfacher geworden, als sie zu Ihrer Zeit waren. Wir wüßten wirklich nicht, was wir mit haarspaltenden Juristen anfangen sollten, wie sie in Ihren Gerichtssälen präsidierten, plädierten und argumentierten. Meinen Sie jedoch nicht, daß wir diese alten, würdigen Herren nicht genug respektieren, weil wir ihrer nicht mehr bedürfen. Im Gegenteil, wir bringen ihnen aufrichtige Hochachtung, ja fast ehrfurchtsvolle Scheu entgegen. Sie waren es ja allein, die Kenntnisse und Scharfsinn genug besaßen, um die unendlich verwickelten Fragen des Privateigentums, des Handels- und Schuldrechts und so weiter zu entwirren, Fragen, die mit Ihrer Gesellschaftsordnung unvermeidlich verknüpft waren. Nichts spricht beweiskräftiger für die unendlich verwickelten Beziehungen und die Unnatur Ihrer sozialen Ordnung als diese Tatsache: zu Ihrer Zeit war es eine Notwendigkeit, daß die Blüte der Intelligenz einer jeden Nation allen sonstigen Beschäftigungen entzogen und zu einer gelehrten Zunft ausgebildet wurde, der es mit Mühe und Not gelang, das geltende Recht für jene einigermaßen verständlich zu machen, über deren Schicksal es entscheiden sollte. Die Abhandlungen Ihrer großen Rechtsgelehrten, die Werke eines Blackstone, Chitty, Story und Parsons stehen in unseren Bibliotheken neben den Bänden von Duns Scotus und anderen Scholastikern. Die einen wie die anderen sind uns wunderliche Denkmäler menschlichen Scharfsinns, der an Gegenstände verschwendet wurde, die gleicherweise den Interessen der neuzeitlichen Geschlechter völlig fern liegen. Unsere Richter sind lediglich wohlunterrichtete, scharfsinnige und gewissenhafte Männer von reiferem Alter.

Ich darf nicht unterlassen, kurz einer wichtigen Aufgabe unserer gewöhnlichen Richter zu erwähnen«, fuhr Doktor Leete fort. »Sie haben in allen Fällen zu entscheiden, in denen ein einfacher Arbeiter sich über ungebührliche Behandlung durch seine Vorgesetzten beschwert. Klagen dieser Art werden einem Einzelrichter zur Untersuchung und Entscheidung überwiesen, gegen dessen Urteil keine Berufung eingelegt werden kann. Nur bei besonders schweren Fällen amtieren drei Richter.«[168]

»Ihre Wirtschaftsordnung macht allerdings eine Rechtsprechung bei solchen Beschwerden notwendig«, bemerkte ich. »Unter ihr kann ja kein Arbeiter wegen schlechter Behandlung seinen Posten verlassen, wie ihm dies zu meiner Zeit möglich war.«

»Sie irren sich. Auch bei uns steht ihm das natürlich frei«, erwiderte Doktor Leete. »Ein Arbeiter ist stets sicher, Gehör, Recht und Gerechtigkeit zu finden, wenn er von seinem Vorgesetzten unterdrückt wird. Bleiben jedoch seine Beziehungen zu seinem Werkführer oder Obermeister unerquicklich, so kann er auf seinen Antrag hin versetzt werden. Solange die alte Gesellschaftsordnung herrschte, konnte ein Arbeiter wohl seine Beschäftigung aufgeben, wenn er mit seinem Arbeitgeber nicht zufrieden war, aber er setzte damit auch seine Existenzmittel aufs Spiel. Empfindet dagegen einer unserer Arbeiter seine Stellung zu einem Vorgesetzten peinlich, so braucht er nicht für seinen Lebensunterhalt zu zittern, wenn er seine Lage verbessern will. Soll unsere nationale Wirtschaft ihrer Aufgabe gewachsen sein, so bedarf es wohl einer strengen Disziplin in unserem Arbeitsheer, allein das Recht eines jeden Arbeiters auf gerechte und rücksichtsvolle Behandlung ist unbestritten und hat einen starken Rückhalt an der Macht der öffentlichen Meinung. Der Offizier befiehlt, und der Arbeiter gehorcht, jedoch kein Offizier steht so hoch, daß er es wagen dürfte, einen Arbeiter der untersten Klasse hochfahrend zu behandeln. Grobheit oder Roheit eines Beamten gegen das Publikum zählt zu den geringeren Vergehen, die am schnellsten und sichersten ihre Strafe finden. Unsere Richter wachen nicht nur über die Gerechtigkeit, nein, auch über die Höflichkeit in allen Beziehungen unseres öffentlichen Verkehrs. Sogar die wertvollsten Berufsleistungen vermögen ein rohes oder verletzendes Betragen nicht aufzuwiegen.«

Es fiel mir auf, daß Doktor Leete bei allen seinen Erklärungen nur von der »Nation« sprach und nicht von den Regierungen der einzelnen Bundesstaaten. Ich fragte deshalb, ob durch die Organisation der Nation als eines wirtschaftlich Ganzen die Einzelstaaten in Wegfall gekommen seien.

»Notwendigerweise«, erwiderte mein Gefährte. »Die Einzelregierungen wären der Kontrolle und Disziplin des Arbeitsheeres nur hinderlich gewesen,[169] es bedarf einer zentralisierten, einheitlichen Organisation. Sogar wenn die Einzelregierungen nicht aus anderen Gründen verschwinden mußten, wären sie doch durch die wunderbar vereinfachten Aufgaben der Staatsleitung überflüssig geworden. Die Leitung der nationalen Wirtschaft ist heutzutage fast die einzige große Pflicht, die der Regierung obliegt. Die meisten Dinge haben zu existieren aufgehört, die früher Sache der Regierungen waren. Wir haben keine Armee, keine Marine, ja keinerlei militärische Organisation überhaupt. Bei uns gibt es weder ein Ministerium des Äußern noch ein Finanzministerium, wir kennen weder städtische Abgaben noch direkte oder indirekte Steuern; Zoll- und Steuerbehörden sind mithin überflüssig geworden. Unserer Regierung ist eine einzige von all den Aufgaben geblieben, die einer Regierung zu Ihrer Zeit zufielen: die Verwaltung der Justiz und der Polizei. Ich habe Ihnen bereits geschildert, wie einfach unsere Justiz im Vergleich mit dem riesigen, schwerfälligen und verwickelten gerichtlichen Apparat Ihrer Zeit ist. Wie die Aufgaben der Richter ganz erheblich vereinfacht und erleichtert worden sind, weil mit dem Wegfall der Versuchungen zu Verbrechen die meisten Verbrechen selbst verschwanden, so ist auch die Tätigkeit der Polizei eine recht geringfügige.«

»Aber wie kommen bei Ihnen überhaupt Gesetze zustande, wenn in den Einzelstaaten keine gesetzgebenden Körperschaften vorhanden sind, und wenn es keinen Kongreß gibt, der wenigstens alle fünf Jahre zusammentritt?«

»Wir haben keine Gesetzgebung, das heißt so gut wie keine«, erwiderte Doktor Leete. »Nur selten, daß ein Kongreß während seiner Tagung in Erwägung zieht, ob einige neue, wichtig scheinende Gesetze geschaffen werden sollen. Es steht ihm dann jedoch nur das Recht zu, sie dem nächstfolgenden Kongreß zur Annahme zu empfehlen; nichts darf übereilt werden. Wenn Sie einen Augenblick nachdenken, Herr West, so werden Sie finden, daß es uns an Ursachen fehlt, Gesetze zu machen. Die Grundprinzipien unserer Gesellschaft haben für immer mit den Streitfragen und Mißverständnissen aufgeräumt, die zu Ihrer Zeit eine Gesetzgebung zur Notwendigkeit machten.[170]

Volle neunundneunzig Prozent aller Gesetze jener Tage hatten lediglich den Zweck, das Privateigentum rechtlich abzugrenzen und zu schützen, die Beziehungen zwischen Verkäufern und Käufern zu regeln. Abgesehen von Gegenständen, die dem persönlichen Gebrauch dienen, gibt es jetzt kein Privateigentum mehr, und von Kaufen und Verkaufen kann nicht die Rede sein. So sind fast alle Gründe für eine Gesetzgebung verschwunden, die vordem so unentbehrlich war. Zu Ihrer Zeit glich die Gesellschaft einer auf die Spitze gestellten Pyramide. Jede Auflehnung der menschlichen Natur dagegen drohte sie umzustürzen, und nur ein wohldurchdachtes, kunstvolles, stets ergänzungsbedürftiges System von Stützen, Pfeilern und Stricken in Gestalt von Gesetzen vermochte es, die Pyramide aufrecht oder vielmehr – entschuldigen Sie das schlechte Wortspiel – unaufrecht zu erhalten. Ein Nationalkongreß und vierzig gesetzgebende Körperschaften von Bundesstaaten konnten wohl im Jahre zwanzigtausend Gesetze fabrizieren. Allein sie waren außerstande, genug starke Stützen zum Ersatz für diejenigen zu schaffen, die morsch geworden oder zusammengebrochen waren, weil die Last sich verschoben hatte. Jetzt dagegen ruht die Gesellschaft auf ihrer natürlichen Grundlage und bedarf der künstlichen Stützen so wenig, wie die ewigen Berge ihrer bedürfen.«

»Außer der nationalen Zentralgewalt gibt es bei Ihnen doch gewiß kommunale Verwaltungsbehörden?«

»Gewiß, und sie haben sehr wichtige und ausgedehnte Aufgaben. Sie sorgen für die Bequemlichkeit und Erholung des Publikums, für Verbesserungen, Wohlfahrtseinrichtungen und Verschönerungen der Städte und Dörfer.«

»Ich verstehe nicht, wie sie etwas leisten können. Sie dürfen doch weder die Arbeit der Bürger in Anspruch nehmen, noch besitzen sie die Mittel, Arbeitskräfte gegen Entgelt zu beschäftigen.«

»Jeder Gemeinde steht das Recht zu, für ihre eigenen öffentlichen Zwecke einen Bruchteil der Arbeit zu beanspruchen, die ihre Angehörigen der Nation leisten müssen. Diese Arbeit wird der Gemeinde als Kredit gebucht, den sie in jeder beliebigen Weise verwenden kann.[171]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 162-172.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon