21. Kapitel

Schule und Erziehung

[176] Doktor Leete hatte den Vorschlag gemacht, den folgenden Morgen zur Besichtigung der Schulen und höheren Lehranstalten in der Stadt zu verwenden. Er wollte dabei versuchen, mir einen Einblick in das Erziehungswesen des zwanzigsten Jahrhunderts zu geben.

»Sie werden finden«, sagte er, als wir uns nach dem Frühstück auf den Weg machten, »daß sich unsere Erziehungsmethoden in vielen wichtigen Punkten von denen Ihrer Zeit unterscheiden. Der Hauptunterschied besteht aber darin, daß heutzutage allen die gleiche Gelegenheit zu höherer Bildung und Entwicklung geboten wird, während sich in Ihren Tagen nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung dieser Gelegenheit erfreute. Wir würden ja nichts besonders Erwähnenswertes geleistet haben, hätten wir nur Gleichheit für die materiellen Bedürfnisse der Menschen geschaffen, ohne ihnen auch gleiches Recht auf Erziehung, auf Entwicklungsmöglichkeit zu sichern.«

»Ihr Erziehungswesen muß Unsummen kosten«, sagte ich.

»Und wenn es das halbe, ja das ganze Einkommen der Nation verschlänge, so daß uns nur elende Hungerkost übrigbliebe, würde niemand darüber murren«, versetzte Doktor Leete. »In Wirklichkeit stellen sich jedoch die Erziehungskosten von zehntausend jungen Leuten nicht zehnmal, ja nicht einmal fünfmal so hoch wie die von tausend. Auch für die Erziehung gilt der Grundsatz, daß alle gutorganisierten großen Unternehmungen verhältnismäßig billiger sind als kleine Einrichtungen.«

»Der Besuch höherer Lehr- und Bildungsanstalten war zu meiner Zeit ganz furchtbar teuer«, sagte ich.

»Wenn mich unsere Geschichtsschreiber recht belehrt haben«, antwortete Doktor Leete, »so war es weniger der Besuch der Hochschulen, der so teuer zu stehen kam, als vielmehr der flotte Lebenswandel und die vielerlei Vergnügungen der Studierenden. In Wirklichkeit kostete das Studium selbst sehr wenig und hätte noch weniger gekostet, wenn die Wissenschaft im allgemeinen mehr gepflegt worden wäre. Heutzutage[176] erfordern die höheren Schulanstalten keine größeren Aufwendungen als die niederen, da die Lehrenden jeder Art so gut wie alle übrigen Berufstätigen Anrecht auf die gleichen Existenzmittel haben. Den Elementarunterricht, wie er vor hundert Jahren in Massachusetts üblich war, und der auf dem allgemeinen Schulzwang beruhte, haben wir durch ein halbes Dutzend höherer Klassen erweitert und vervollständigt. In den Anstalten wird unsere Jugend bis zum Alter von einundzwanzig Jahren erzogen. Sie erhält hier, was man zu Ihrer Zeit die ›Erziehung gebildeter Menschen‹ zu nennen pflegte. Früher wurde sie mit vierzehn oder fünfzehn Jahren in den Kampf mit dem feindlichen Leben gestoßen, und ihre ganze geistige Ausrüstung dafür bestand in der Kenntnis des Lesens und Schreibens und der vier Spezies.«

»Abgesehen von den Mehrkosten solch einer verlängerten Erziehungszeit«, erwiderte ich, »hätten wir geglaubt, durch diese unser Wirtschaftsleben schwer zu schädigen. Die Knaben der ärmeren Klassen begannen gewöhnlich mit dem vierzehnten Lebensjahr zu arbeiten, wenn nicht noch früher, und mit dem zwanzigsten verstanden sie bereits ihren Beruf.«

»Wir würden entschieden bestreiten, daß Sie dadurch auch nur einen materiellen Gewinn erzielt hätten«, erwiderte Doktor Leete. »Die Zeit, die für eine gute Erziehung erforderlich ist, wird schon binnen kurzem aufgewogen durch die größere Tüchtigkeit, die eben diese Erziehung bei jeder Arbeit verleiht, höchstens die allergröbsten Verrichtungen davon ausgenommen.«

»Wir hätten auch noch etwas befürchtet«, wendete ich ein. »Nämlich, daß eine höhere Bildung, die in trefflicher Weise auf gelehrte Berufe vorbereitet, Abneigung gegen jede harte körperliche Arbeit hervorrufen müßte.«

»Nach allem, was ich gelesen habe, war das tatsächlich die Wirkung höherer Bildung zu Ihrer Zeit«, entgegnete der Doktor. »Und das war wahrhaftig kein Wunder! Mit Handarbeit den Lebensunterhalt erwerben, bedeutete ein Hinabsinken zu einer rohen, ungebildeten Klasse. Jetzt gibt es keine solche Klasse mehr. Die geäußerte Befürchtung war also für Ihre Zeit begreiflich, und dies um so mehr, als es für selbstverständlich galt, daß alle höher Gebildeten entweder einen gelehrten oder künstlerischen[177] Beruf ergriffen oder aber in müßigem Wohlleben dahinvegetierten. Gewiß kam es vor, daß sich jemand eine höhere Bildung aneignete, der weder reich war, noch zu den bevorrechteten Schichten der Gesellschaft gehörte. Jedoch wurde das meist als Beweis dafür betrachtet, daß der Mann seinen Beruf verfehlt oder Schiffbruch im Leben erlitten habe; seine Bildung war eher ein Gegenstand des Tadels als des Lobes. Heutzutage dagegen wird die beste Erziehung als unerläßliche Bedingung für die Lebenstüchtigkeit eines jeden angesehen, ganz gleich, welchen Beruf er ausübt. Damit ist auch Ihre Schlußfolgerung hinfällig geworden.«

»Trotz alledem«, bemerkte ich, »vermag auch die vorzüglichste Erziehung nicht, angeborenen Stumpfsinn zu überwinden oder dem Mangel an geistiger Begabung abzuhelfen. Wenn sich nicht seit meiner Zeit bis heute die durchschnittliche geistige Befähigung bedeutend gehoben hat, so wird die höhere Erziehung an einem großen Teil der Bevölkerung ziemlich unnütz verschwendet bleiben. Wir waren der Ansicht, daß die Erziehung sich nur lohnen könne, wenn der Geist eine gewisse Empfänglichkeit für ihre Einwirkungen besitze, genau so, wie der Boden eine natürliche Fruchtbarkeit haben muß, wenn er die Kosten seiner Bebauung einbringen soll!«

»Ah«, sagte Doktor Leete, »es freut mich, daß Sie gerade dieses Beispiel gewählt haben. Auch ich möchte es nämlich gebrauchen, um Ihnen die neuere Auffassung über Erziehung recht klar zu veranschaulichen. Sie behaupten, daß ein Stück Land nicht bestellt wird, wenn es so unfruchtbar ist, daß sein Ertrag die Kosten seiner Bearbeitung nicht deckt. Nichtsdestoweniger hat man sowohl in Ihrer wie in unserer Zeit gar manches Eckchen Grund und Boden bearbeitet, dessen Erzeugnisse die aufgewendete Mühe nicht aufwogen. Ich denke an Gartenanlagen, Parks, Rasenplätze und überhaupt Ländereien, die unser Auge beleidigen und der Umgebung lästig sein würden, ließe man sie von Dornen und Unkraut überwuchern. Man pflegt sie daher lieber, und wenn ihr Ertrag auch nur ein geringer ist, so gibt es doch keinen Grund und Boden, dessen Bebauung – das Wort im weiteren Sinne genommen – sich besser lohnte. Das nämliche gilt von den Männern und Frauen, mit denen uns unsere sozialen Beziehungen zusammenführen, deren Sprache tagtäglich an unser[178] Ohr tönt, deren Verhalten in mannigfaltigster Weise unser Wohlbefinden beeinflußt, die tatsächlich ebenso zu unseren Lebensbedingungen gehören wie die Luft, die wir atmen, oder die Elemente, von denen unser Sein abhängt. Wären wir wirklich außerstande, jedem eine vortreffliche Erziehung zuteil werden zu lassen, so sollten wir sie doch wenigstens gerade den gröbsten und stumpfsinnigsten und nicht den empfänglichsten Naturen sichern. Wer von Natur begabt und entwicklungsfähig ist, der kann weit eher ohne Erziehung tüchtig werden als der minder glücklich Veranlagte.

Wir würden – um einen in Ihren Tagen oft gehörten Ausdruck zu gebrauchen – das Leben nicht für lebenswert halten, wenn wir gleich den wenigen Gebildeten Ihrer Zeit inmitten einer Bevölkerung leben müßten, die unwissend, roh und grob wäre, mit einem Wort: inmitten einer unerzogenen Bevölkerung. Kann sich jemand unter einer übelriechenden Menge nur darum wohl fühlen, weil er sich selbst parfümiert hat? Könnte es jemandem mehr als eine sehr kleine Befriedigung gewähren, einen Palast zu bewohnen, dessen sämtliche Fenster auf stinkende Höfe hinausgehen? Das aber war zu Ihrer Zeit die Lage jener, denen das Schicksal gute Erziehung und feine Bildung vergönnt hatte. Ich weiß, daß damals die Armen und Unwissenden die Reichen und Gebildeten beneideten. Allein uns scheint es, daß die letzteren wenig besser daran waren als die ersteren, mußten sie doch inmitten von Unbildung und Roheit leben. Der Gebildete Ihrer Zeit glich jemand, der bis an den Hals in einem ekelhaften Morast steckte und sich damit tröstete, daß er sich ein Riechfläschchen unter die Nase hielt. Vielleicht verstehen Sie jetzt, wie wir die Frage einer allgemeinen höheren Bildung auffassen. Nichts ist für jeden so wichtig, als kluge, verständige und wohlerzogene Nachbarn zu haben. Nichts von allem, was die Nation für uns zu tun vermag, kann daher mehr zur Erhöhung unseres eigenen Glücks beitragen, als wenn sie unsere Mitmenschen zu gebildeten Leuten erzieht. Unterläßt sie das, so verliert unsere eigene Bildung die Hälfte ihres Werts, und viele durch sie erworbene feinere Regungen und Bestrebungen werden zu einer Quelle der peinlichsten Gefühle.

Was denn mußte die Folge davon sein, daß man zu Ihrer Zeit zwar[179] einigen die höchste Bildung gab, die Massen aber völlig unerzogen ließ? Es bildete sich eine so tiefe Kluft zwischen den Menschen, daß fast zwei verschiedene Rassen heranzuwachsen schienen, zwischen denen eine Verständigung immer unmöglicher wurde. Gibt es eine unmenschlichere Folge davon, daß die Bildung nur das Vorrecht einiger weniger war! Auch wenn alle die gleiche Erziehung genießen, bleiben doch die Unterschiede in der Begabung ebenso scharf ausgeprägt bestehen wie im Naturzustand; allein die Bildung erhöht beträchtlich das geistige Niveau der minder Begabten und beseitigt die Roheit.

Alle haben bei uns eine Ahnung von der Bedeutung der Wissenschaften, einiges Verständnis für geistige Interessen und Bewunderung für die höhere Bildung, die sie selbst nicht zu erringen vermochten. Alle – der eine mehr, der andere weniger – sind fähig geworden, die Freuden und Anregungen eines verfeinerten sozialen Lebens zu genießen und selbst ihr Teil dazu beizutragen. Die gebildete Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts glich wenigen, mikroskopisch kleinen Oasen inmitten einer ungeheuren Wüste. Die Zahl derer, die geistiger Interessen und veredelten Lebensgenusses fähig waren, stellte nur einen unendlich winzigen Bruchteil der Gesamtheit Ihrer Zeitgenossen dar. Bei einer allgemeinen Einschätzung des Kulturzustandes der damaligen Gesellschaft war es gar nicht der Mühe wert, ihn in Betracht zu ziehen. Eine einzige Generation der heutigen Welt bedeutet mehr geistiges Leben als fünf Jahrhunderte in der Vergangenheit.

Es gibt noch einen anderen Umstand«, fuhr Doktor Leete fort, »den ich erwähnen sollte, wenn ich die Gründe aufzähle, weshalb alle das gleiche Anrecht auf die beste Erziehung haben müssen: der Anspruch, des kommenden Geschlechts auf gebildete Eltern. Um mich kurz zu fassen, so sind drei Hauptgründe für unsere Erziehung maßgebend: erstens das Recht jedes Menschen auf die vollkommenste Erziehung, die ihm die Nation gewähren kann, und zwar um seiner selbst willen, als einer Vorbedingung für sein Glück. Zweitens das Recht seiner Mitbürger auf seine Erziehung, als einer Vorbedingung dafür, daß sie sich des Zusammenlebens mit ihm freuen können. Drittens das Recht der Ungeborenen, daß ihnen gebildete und verständnisvolle Eltern verbürgt werden.«[180]

Ich will keine Einzelheiten über die Schulanstalten berichten, die ich an jenem Tage besuchte. Da ich mich, in meinem früheren Leben nicht viel für das Erziehungswesen interessiert hatte, so könnte ich nur wenig beachtenswerte Vergleiche zwischen dem Sonst und Jetzt anstellen. Davon abgesehen, daß sowohl die höheren wie die niederen Bildungsanstalten allen offen standen, fiel mir am meisten die große Bedeutung auf, die man der körperlichen Ausbildung beilegte. Fertigkeit in allen Leibesübungen war ebenso maßgebend für die Beurteilung der jungen Leute wie ihre Fortschritte im Wissen.

»Die Erziehung«, erklärte Doktor Leete, »ist für den Körper der Jugend ebenso verantwortlich wie für den Geist. Unsere Erziehung, die vom sechsten bis zum einundzwanzigsten Jahre dauert, verfolgt dies doppelte Ziel: jedem die höchstmögliche leibliche und geistige Entwicklung zu sichern.«

Die prächtige Gesundheit der Jugend in den Erziehungsanstalten machte einen tiefen Eindruck auf mich. Schon früher war mir das ungemein vorteilhafte Äußere der Familie meines Wirts und der Leute aufgefallen, die ich auf meinen Spaziergängen gesehen hatte. Fast unwillkürlich hatte sich mir der Gedanke aufgedrängt, daß sich seit meiner Zeit der Durchschnitt der körperlichen Entwicklung und Schönheit des Menschengeschlechts ganz bedeutend gehoben haben müsse. Als ich jetzt die stattlichen jungen Burschen und die kräftigen, frischen Mädchen mit der Jugend meiner Zeit verglich, ward ich in meiner Vermutung bestärkt, und konnte nicht umhin, sie Doktor Leete mitzuteilen. Mit großem Interesse hörte er mir zu.

»Dieses Ihr Zeugnis ist geradezu unschätzbar«, erklärte er. »Wohl sind auch wir der Überzeugung, daß sich die Menschheit, wie Sie sagen, körperlich gehoben und veredelt hat, allein wir konnten dies nur auf Grund bloßer theoretischer Schlußfolgerungen behaupten. Ihre eigenartige Lage bringt es mit sich, daß Sie der einzige in der Welt sind, der sich darüber mit Autorität äußern kann. Ich bin sicher, daß Ihr Urteil das größte Aufsehen erregen wird, wenn Sie es öffentlich aussprechen. Übrigens wäre es recht sonderbar, wenn das Menschengeschlecht sich nicht bedeutend veredelt haben würde. Zu Ihrer Zeit ließ der Reichtum die eine Klasse der Gesellschaft durch körperlichen und geistigen Müßiggang entarten,[181] während die Armut durch übermäßige Arbeit, elende Nahrung und ungesunde Wohnungen die Lebenskraft der großen Massen untergrub. Die von den Kindern erzwungene Arbeit und die den Frauen auferlegten Lasten zehrten an den Quellen des Lebens. An die Stelle so unheilvoller Verhältnisse sind heute für alle die denkbar günstigsten Lebensbedingungen getreten. Die Jugend wird sorgfältig ernährt, gehegt und gepflegt. Die Arbeit, die von allen verlangt wird, fällt in die Jahre der größten körperlichen Rüstigkeit und überschreitet nie ein gewisses Maß. Man kennt heute nicht mehr alle jene Einflüsse, die zu Ihrer Zeit so viel dazu beitrugen, daß Körper und Geist der Männer und Frauen zugrunde gerichtet wurden. Die Sorge um das eigene ungewisse Geschick und um das der Familie, das Ringen um das tägliche Brot, kurz, die aufreibende Hatz des nie rastenden Kampfes ums Dasein, all das ist heute unbekannt. Solche Veränderungen mußten natürlich eine Veredelung der Art bewirken. Wir wissen auch genau, daß besonders in gewisser Beziehung ein großer Fortschritt stattgefunden hat. Der Irrsinn zum Beispiel, der im neunzehnten Jahrhundert eine erschreckend häufige Folge Ihrer wahnwitzigen Lebensbedingungen war, ist fast gänzlich verschwunden und mit ihm sein Seitenstück, der Selbstmord.«

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 176-182.
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