23. Kapitel

Ein Geheimnis

[198] Am Abend saß ich mit Edith im Musikzimmer und hörte einige Stücke an, die im Tagesprogramm meine Aufmerksamkeit erregt hatten. Ich benutzte eine Pause, um zu sagen: »Wenn ich nicht befürchten müßte, indiskret zu erscheinen, so möchte ich gern eine Frage an Sie richten, Fräulein Leete.«

»Das haben Sie gewiß nicht zu befürchten, bitte, fragen Sie nur«, erwiderte sie in ermutigendem Tone.

»Ich befinde mich in der Lage eines Horchers«, fuhr ich fort, »der etwas von einem Gespräch belauscht hat, das zwar offenbar nicht für ihn bestimmt war, sich aber auf ihn zu beziehen schien, und der nun unbescheiden genug ist, sich an die behorchte Person um Aufschluß zu wenden.«

»Eines Horchers!« erwiderte Edith sichtlich erstaunt.

»Gewiß«, sagte ich, »aber eines Horchers, der mildernde Umstände geltend machen kann, wie Sie mir gewiß zugeben werden.«

»Das klingt ja recht geheimnisvoll«, versetzte Edith.

»Ganz recht, so geheimnisvoll, daß ich oft im Zweifel bin, ob ich das Gespräch wirklich gehört oder ob ich es bloß geträumt habe«, sagte ich. »Bitte, Fräulein Leete, klären Sie mich darüber auf. Die Sache verhält sich wie folgt: Als ich aus dem hundertjährigen Schlafe erwachte, war die erste bewußte Wahrnehmung, daß verschiedene Stimmen in meiner Nähe sprachen, Stimmen, die ich nachträglich als die Ihrer Eltern und als Ihre eigene erkannt habe. Zuerst, erinnere ich mich, sagte die Stimme Ihres[198] Herrn Vaters: ›Er wird sogleich die Augen öffnen. Es ist besser, wenn er zuerst nur einen von uns sieht.‹ Darauf sagten Sie, falls ich. nicht alles bloß geträumt habe: ›Versprich mir also, daß du ihm nichts sagen wirst.‹ Ihr Herr Vater schien zu zögern, das verlangte Versprechen zu geben, aber Sie bestanden darauf, und da Ihre Frau Mutter sich ins Mittel legte, so versprach er, Ihrer Bitte zu willfahren. Als ich die Augen aufschlug, sah ich nur ihn.«

Ich hatte im vollen Ernste gesagt, ich glaubte, die gehörte Unterredung nur geträumt zu haben. Es erschien mir ja ganz unbegreiflich, daß diese Leute von mir, dem Zeitgenossen ihrer Urgroßeltern, etwas wissen sollten, was mir selbst unbekannt war. Aber als ich sah, welche Wirkung meine Worte auf Edith ausübten, wußte ich, daß ich nicht geträumt hatte. Ein neues Geheimnis mußte vorliegen, und zwar ein rätselhafteres als alle bisherigen. Denn sobald Edith merkte, worauf meine Frage hinauslief, geriet sie augenscheinlich in die peinlichste Verlegenheit. Ihre Augen, die immer einen so freien und offenen Ausdruck hatten, senkten sich erschreckt vor meinem Blicke, und ein dunkles Rot ergoß sich über ihre Züge.

»Verzeihen Sie«, sagte ich, nachdem ich mich von meinem Staunen über die sonderbare Wirkung meiner Worte erholt hatte. »Es scheint also, daß ich nicht geträumt habe. Es ist ein Geheimnis vorhanden, das mich betrifft, und das Sie mir vorenthalten. Ist es nicht wirklich etwas hart, daß man jemandem in meiner Lage nicht aufs genaueste alles mitteilt, was sich auf ihn selbst bezieht?«

»Das Geheimnis betrifft nicht Sie – das heißt nicht direkt. Wirklich, es geht Sie nichts an«, erwiderte Edith kaum hörbar.

»Aber es steht doch in irgendwelchem Zusammenhang mit mir«, beharrte ich auf meiner Ansicht. »Es muß etwas sein, was mich interessieren würde.«

»Dessen bin ich nicht einmal ganz sicher«, erwiderte Edith, indem sie einen flüchtigen Blick auf mich zu werfen wagte. Tiefe Glut übergoß ihre Wangen, und ein sonderbares Lächeln verriet gleichzeitig, daß sie trotz ihrer Verlegenheit die Situation etwas komisch fand. »Ich bin nicht einmal sicher, daß es Sie auch nur interessieren wird.«[199]

»Aber Ihr Herr Vater hätte es mir gesagt«, versetzte ich mit vorwurfsvollem Tone. »Sie waren es, die ihn daran hinderten. Er meinte, ich dürfte es wissen.«

Edith antwortete nicht. Sie war so reizend in ihrer Verwirrung, daß mich der Wunsch, die Situation zu verlängern, ebensosehr wie meine ursprüngliche Neugierde bestimmte, noch weiter in sie zu dringen.

»Soll ich es niemals erfahren? Wollen Sie es mir nie sagen?« fragte ich.

»Das kommt darauf an«, antwortete sie nach einer langen Pause.

»Auf was kommt es an?« drang ich weiter in sie.

»Ach, Sie fragen zu viel«, erwiderte sie. Und indem sie mir ihr Antlitz zuwendete, das mit seinen unergründlich tiefen Augen, glühenden Wangen und lächelnden Lippen geradezu bezaubernd war, fügte sie hinzu: »Was würden Sie dazu meinen, wenn ich Ihnen sagte, daß es – auf Sie ankommt?«

»Auf mich?« wiederholte ich, »wie ist das möglich?«

»Herr West, wir verlieren jetzt ein reizendes Musikstück«, war ihre einzige Antwort auf meine Frage. Edith ging zu dem Telephon, berührte es mit dem Finger, und die Klänge eines herrlichen Adagios erfüllten das Zimmer. Auch weiterhin sorgte Edith dafür, daß die Musik jedes Gespräch unmöglich machte. Sie hielt ihr Gesicht von mir abgewendet und gab sich den Anschein, als ob sie ganz und gar in die Klänge vertieft sei. Daß dem aber in Wirklichkeit nicht so war, verriet zur Genüge die tiefe Röte, die noch immer ihre Wangen bedeckte.

Als Edith schließlich bemerkte, daß ich für diesmal wohl genug Musik gehört hätte, und wir uns erhoben, um das Zimmer zu verlassen, trat sie gerade auf mich zu. Ohne die Augen aufzuschlagen, sagte sie zu mir: »Herr West, Sie behaupten, ich sei gut gegen Sie gewesen. Ich kann das zwar nicht finden, allein wenn es Ihre Meinung ist, so, bitte, versprechen Sie mir, nicht wieder wegen der Angelegenheit in mich zu dringen, nach der Sie mich vorhin gefragt haben. Und, bitte, versuchen Sie es auch nicht, sie von jemand anders erfahren zu wollen, zum Beispiel von meinem Vater oder von meiner Mutter.«

Auf eine solche Bitte war nur eine Antwort möglich. »Verzeihen Sie mir, daß ich Sie gequält habe«, sagte ich. »Selbstverständlich verspreche[200] ich es Ihnen. Ich würde Sie überhaupt nie gefragt haben, hätte ich geahnt, daß es Ihnen peinlich sein könnte. Aber tadeln Sie mich darum, daß ich neugierig war?«

»Ich tadle Sie ganz und gar nicht«, lautete die Antwort.

»Und wenn ich Sie nicht quäle, darf ich dann nicht hoffen, daß Sie mir später einmal aus freien Stücken Aufschluß geben werden?« fügte ich hinzu.

»Vielleicht?« flüsterte Edith.

»Nur vielleicht?«

Zu mir emporschauend, las sie mit einem raschen, tiefen Blick in meinen Zügen. »Ja«, sagte sie, »ich denke, daß ich es Ihnen sagen werde – später!« Damit endete unsere Unterhaltung, denn das junge Mädchen gab mir keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen.

Nicht einmal Doktor Pillsbury hätte mich in dieser Nacht in Schlaf versenken können, wenigstens nicht vor Anbruch des Morgens. Rätsel waren nun schon seit Tagen meine gewohnte Speise. Allein keines von allen war mir so geheimnisvoll und gleichzeitig so fesselnd erschienen als jenes, dessen Lösung auch nur zu suchen Edith Leete mir verboten hatte. Es war ein zwiefaches Rätsel. Wie war es zunächst denkbar, daß sie ein Geheimnis wissen konnte, das mich anging, den Fremdling aus fremder Zeit? Und weiter, selbst wenn ihr ein solches Geheimnis bekannt war, wie ließ sich die hochgradige Aufregung erklären, in die mein Fragen nach ihrem Wissen sie zu versetzen schien? Es gibt Rätsel, die so dunkel sind, daß sich ihre Lösung nicht einmal ahnen läßt. Einem solchen Rätsel schien ich gegenüberzustehen. Ich bin sonst zu praktischen Sinnes, um mit Rätselkram viel Zeit zu verlieren. Jedoch der Anreiz, dieses Rätsel zu lösen, wurde wahrhaftig dadurch nicht geringer, daß sich die Schwierigkeit der Deutung in einem schönen jungen Mädchen verkörperte. Im allgemeinen kann man zwar ruhig annehmen, daß das Erröten junger Mädchen zu allen Zeiten und bei allen Völkern den jungen Männern die nämliche Geschichte erzählt. Aber Ediths glühende Wangen derart zu deuten, das wäre die größte Albernheit gewesen. Man bedenke meine Lage, die Kürze unserer Bekanntschaft und vor allem den Umstand, daß das Rätsel aus einer Zeit stammte, wo ich Edith überhaupt noch gar[201] nicht gekannt hatte. Und doch war sie ein Engel, und ich hätte kein junger Mann sein müssen, wenn alle Vernunft der Welt imstande gewesen wäre, aus meinen Träumen in jener Nacht jeden Rosenschimmer zu verbannen.

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 198-202.
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