24. Kapitel

Die Nationalistenpartei

[202] In der Hoffnung, Edith allein anzutreffen, ging ich am nächsten Morgen frühzeitig hinab. Meine Erwartungen wurden jedoch enttäuscht. Da ich sie nicht im Hause fand, so suchte ich sie im Garten, aber ohne besseren Erfolg. Meine Streifereien führten mich in die Nähe des unterirdischen Gemachs, ich trat ein und ließ mich nieder, um ein wenig auszuruhen. Auf dem Schreibtisch lagen Zeitschriften und Zeitungen, und da ich dachte, daß es Doktor Leete interessieren würde, ein Bostoner Tageblatt aus dem Jahre 1887 zu sehen, so nahm ich eine solche Zeitung mit ins Haus.

Beim Frühstück traf ich mit Edith zusammen. Sie errötete, als sie mich begrüßte, war aber völlig Herrin ihrer selbst. Als wir bei Tische saßen, amüsierte sich Doktor Leete mit der Durchsicht der von mir gebrachten Zeitung. Wie bei allen Blättern jener Epoche, bezog sich ein großer Teil ihres Inhaltes auf die Arbeiterbewegung und handelte von Streiks, Aussperrungen, Boykotts, Programmen der Arbeiterparteien und von den wilden Drohungen der Anarchisten.

»Bei der Gelegenheit möchte ich fragen«, sagte ich, als der Doktor uns einige Stellen vorlas, »welchen Anteil die Anarchisten an der Neuordnung der Dinge genommen haben. Zu meiner Zeit machten sie ziemlich viel Lärm, das ist das letzte, was mir von ihnen bekannt ist.«

»Sie haben natürlich keinen anderen Anteil an ihr gehabt, als daß sie ihr hinderlich waren«, erwiderte Doktor Leete. »Solange es Anarchisten gab, haben sie das mit großem Erfolg getan. Ihr Geschwätz widerte die Leute so an, daß nicht einmal die besterwogenen Vorschläge zu sozialen Reformen Gehör fanden. Einer der schlauesten Kniffe der Gegner jeder Reform bestand darin, diese Burschen zu unterstützen.«[202]

»Sie zu unterstützen!« rief ich erstaunt aus.

»Gewiß«, versetzte Doktor Leete. »Kein Geschichtsforscher von Ruf zweifelt heute daran, daß die Anarchisten von den kapitalistischen Monopolisten dafür bezahlt wurden, daß sie die rote Fahne schwenkten und von Brand, Plünderung und Mord redeten. Durch Einschüchterung der furchtsamen Gemüter sollte jede wirkliche Reform hintertrieben werden. Am meisten wundert mich nur, daß Ihre Zeitgenossen so arglos in die Falle gegangen sind.«

»Welche Gründe veranlassen Ihre Meinung, daß die Anarchisten von den Reformgegnern unterstützt wurden?« fragte ich.

»Meine Ansicht gründet sich einfach auf dieses: die Leute müssen doch eingesehen haben, daß sie durch ihr Auftreten ihrer Sache für einen Freund tausend Feinde schufen. Wenn man nicht annimmt, daß sie zu dem Geschäft gedungen waren, so traut man ihnen eine ganz unbegreifliche Dosis Torheit zu.6 In den Vereinigten Staaten zumal konnte keine Partei darauf rechnen, ihr Ziel zu erreichen, wenn sie nicht zuvor die Mehrheit des Volkes für ihre Ideen gewonnen hatte, wie dies späterhin der Nationalistenpartei gelungen ist.«

»Der Nationalistenpartei«, rief ich aus. »Die muß sich erst nach meiner Zeit gebildet haben. Sie war gewiß eine der verschiedenen Arbeiterparteien?«

»O nein«, versetzte der Doktor; »die Arbeiterparteien als solche hätten nie etwas Großes und Dauerndes schaffen können.7 Als bloße Klassenparteien fußten sie auf zu schmaler Basis, als daß ihre Ziele allgemeine nationale Bedeutung erlangt hätten. Es mußte sich die Erkenntnis ausbreiten, daß eine Neuordnung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, die von höheren ethischen Gesichtspunkten getragen wurde, die größeren[203] Wohlstand für alle schuf, nicht nur im Interesse einer Klasse lag, sondern im Interesse aller notwendig war: der Reichen und der Armen, der Gebildeten und der Ungebildeten, der Alten und der Jungen, der Schwachen und der Starken, der Männer und der Frauen. Erst als diese Erkenntnis immer größere Kreise der ganzen Nation ergriff, eröffnete sich der Ausblick auf die Verwirklichung der sozialen Umgestaltung. Damals bildete sich die Nationalistenpartei, die die Neuordnung der Dinge auf politischem Wege durchführte. Wahrscheinlich nahm sie ihren Namen deshalb an, weil ihr Ziel war, die gesamte Produktion und Verteilung der Güter zu nationalisieren. In der Tat hätte sie kaum einen passenderen Namen finden können. Erstrebte sie doch, die Idee der Nation in einer Großartigkeit und Vollendung zur Wirklichkeit zu machen, wie sie nie zuvor erfaßt worden war. Die Nation weiter gefaßt als eine bloße Vereinigung von Menschen zu gewissen rein politischen Zwecken, die ihr Glück nur entfernt und oberflächlich berühren; die Nation als eine große Familie, ein lebensreiche innere Einheit, ein mächtiger, gen Himmel ragender Baum, dessen Blätter, das Volk, von den Wurzeln ernährt werden und sie wieder ernähren. Die patriotischste aller Parteien, schuf sie dem Patriotismus eine berechtigte, feste Grundlage, entwickelte sie ihn aus einem bloßen Instinkt zu einer vernunftgemäßen Hingabe an das Land unserer Geburt, indem sie dieses zu einem Vaterland im besten Sinne des Wortes erhob. Sie gab in ihm allen einen Vater, der das Leben des Volkes erhält, und der nicht bloß ein Götzenbild ist, für das zu sterben das Volk stets bereit sein soll.«

6

Ich gebe zu, daß es schwer ist, die Haltung der Anarchisten anders zu erklären als durch die Theorie, daß sie von den Kapitalisten bezahlt wurden. Dennoch unterliegt es keinem Zweifel, daß diese Theorie ganz falsch ist. Wenn wir jetzt auf meine Zeit zurückblicken, so erscheint sie zwar recht plausibel, doch wurde sie damals von niemand vertreten. (Julian West.)

7

Wir erinnern an unsere frühere Bemerkung, daß Bellamy kein wissenschaftlich durchgebildeter Sozialist ist. (Clara Zetkin.)

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 202-204.
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