28. Kapitel

Ein schlimmer Traum

[244] »Es ist etwas später geworden, als ich Sie wecken sollte, Herr West. Sie sind heute nicht so schnell wie gewöhnlich erwacht.«

Es war meines Dieners Sawyers Stimme, die so sprach. Ich fuhr im Bette empor und starrte um mich. Ich befand mich in meinem unterirdischen Gemach. Auf die mir vertrauten Wände und Möbel fiel das milde Licht der Lampe, die brannte, wenn ich das Zimmer benutzte. Sawyer stand an meinem Bette und hielt mir das Glas Sherry entgegen, das ich nach Doktor Pillburys Verordnung jedesmal unmittelbar nach meinem Erwachen aus dem magnetischen Schlafe trinken mußte, um die erstarrten Lebensgeister wieder anzufeuern.

»Nehmen Sie den Sherry nur schnell«, sagte mein Diener, als ich ihn verständnislos anstarrte. »Sie können ihn gebrauchen, Sie sehen sehr verstört aus, Herr West.«

Ich schlürfte den Trank hinunter und begann mir klarzumachen, was denn eigentlich mit mir geschehen sei. Ich fand eine höchst einfache Erklärung dafür. Alles vom zwanzigsten Jahrhundert war bloß ein Traum gewesen. Nur geträumt hatte ich von jenem erleuchteten, sorgenfreien Menschengeschlecht und seinen vernünftig einfachen Gesellschaftsverhältnissen; nur geträumt hatte ich von dem herrlichen neuen Boston mit seinen Kuppeln und Zinnen, seinen Gärten und Springbrunnen und seinem allgemeinen Wohlstand. Die liebenswürdige Familie, der ich so nahegetreten war, mein Wirt und mein Mentor, Doktor Leete, seine Gattin und ihre Tochter, die zweite und schönere Edith, meine Braut, auch sie alle waren nur Gebilde der Phantasie gewesen.

Geraume Zeit verharrte ich in der Stellung, in der diese Erkenntnis mich überkommen hatte. Ich saß aufrecht im Bette und starrte vor mich hin ins Leere, ganz versunken in die Erinnerung der Szenen und Begebenheiten meines Traumgesichts. Mein Aussehen mußte offenbar Sawyer Besorgnis eingeflößt haben, denn er fragte ängstlich, was mir fehle. Seine unablässigen Fragen riefen mich endlich zum vollen Bewußtsein meiner[244] wirklichen Lage zurück. Ich machte eine gewaltsame Anstrengung, mich zu sammeln, und versicherte dem treuen Burschen, daß ich mich ganz wohl wie gewöhnlich fühle. »Ich habe nur einen außergewöhnlichen Traum gehabt, das ist alles«, sagte ich. »Einen ganz außergewöhnlichen Traum.«

Mechanisch kleidete ich mich an. Es war mir merkwürdig traumhaft zumute, ich war nicht ganz sicher, ob ich denn wirklich ich selbst wäre. Ich setzte mich zum Morgenkaffee, den Sawyer als Erfrischung zu bringen pflegte, ehe ich das Haus verließ. Neben meinem Gedeck lag die Morgenzeitung. Ich ergriff sie, und mein erster Blick fiel auf das Datum: den 31. Mai 1887. Von dem Augenblick an, wo ich die Augen aufschlug, hatte ich selbstverständlich auch gewußt, daß meine Erlebnisse in einem anderen Jahrhundert nur ein Traum gewesen waren. Dennoch stutzte ich, als ich in Gestalt der Zeitung den bündigen Beweis vor mir sah, daß die Welt nur um einige Stunden älter geworden war, seitdem ich mich schlafen gelegt hatte.

Ich warf einen Blick auf die Übersicht der Tagesneuigkeiten an der Spitze der Zeitung und las folgendes:

»Ausland. – Der bevorstehende Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. Die beiden französischen Kammern fordern einen neuen Kredit für das Heer, damit es mit den Rüstungen der deutschen Armee gleichen Schritt halten kann. Wahrscheinlichkeit, daß ganz Europa in den bevorstehenden Krieg verwickelt wird. – Der Notstand der Arbeitslosen in London. Sie fordern Beschäftigung. Ihre beabsichtigte Massendemonstration. Die Befürchtungen der Behörden. – Große Streiks in Belgien. Die Regierung schickt sich an, etwaige Störungen der Ordnung und Gewalttätigkeiten zu unterdrücken. Empörende Tatsachen über die Beschäftigung von Mädchen in den belgischen Kohlenbergwerken. – Massenaustreibungen der Pächter in Irland.

Inland. – Die Betrugsepidemie dauert fort. Unterschlagung einer halben Million in New York. Geldunterschlagung eines Testamentsvollstreckers. Waisen des letzten Pfennigs beraubt. Geschickte Diebereien eines Bankkassierers. 50000 Dollar verschwunden. – Die Kohlenbarone beschließen Erhöhung der Kohlenpreise und Einschränkung der Förderung.[245] Bildung eines Spekulantenrings in Chicago, um die Weizenpreise in die Höhe zu treiben. Steigerung der Kaffeepreise durch einen Ring. Aktiengesellschaften reißen enorme Ländereien im Westen an sich. – Enthüllungen über die entsetzliche Korruption der Chicagoer Beamten. Systematische Bestechung. – Fortsetzung der Untersuchungen über den Amtsmißbrauch gewisser Stadtverordneten zu New Jersey. – Große Bankrotte bekannter Firmen. Befürchtung einer allgemeinen Krise. – Eine lange Liste von Diebstählen und Einbrüchen. Eine Frau mit großer Kaltblütigkeit ihres Geldes wegen in New Haven ermordet. Ein hiesiger Hausbesitzer in vergangener Nacht von einem Einbrecher erschossen. – In Worcester erschießt sich ein Mann, weil er keine Arbeit finden konnte. Er hinterläßt eine zahlreiche Familie in großem Elend. Ein altes Ehepaar in New York begeht Selbstmord, um nicht ins Armenhaus zu kommen. Schrecklicher Notstand der Lohnarbeiterinnen der großen Städte. Entsetzliche Zunahme der Unwissenheit in Massachusetts. – Mehr Irrenhäuser notwendig. – Reden am Dekorationstag. Professor Browns Rede über die Höhe der Moral und Kultur im neunzehnten Jahrhundert.«

Es mußte in der Tat das neunzehnte Jahrhundert sein, in dem ich erwacht war, darüber konnte ich jetzt nicht mehr den leisesten Zweifel hegen. Die Übersicht der Tagesneuigkeiten gab ein getreues Abbild von dem ganzen Leben und Weben meiner Zeit, es fehlte darin nicht einmal der Zug aberwitziger Selbstgefälligkeit, wie die letzte Ankündigung zeigte. Ein zynischer Hohn, würdig eines Mephistopheles, war diese Selbstbeweihräucherung, die unmittelbar auf solch ein Verdammungsurteil über das neunzehnte Jahrhundert folgte, wie es die Chronik eines einzigen Tages aussprach, indem sie aus allen Kulturländern nur von Blutvergießen, Habsucht und Tyrannei berichtete. Und doch war ich von allen Lesern der heutigen Zeitung vielleicht der einzige, dem der Hohn dieser Zusammenstellung auffiel, und noch gestern würde er mir ebensogut wie den anderen entgangen sein. Nur der sonderbare Traum war es, der mir die Augen geöffnet hatte. Und abermals vergaß ich meine Umgebung, ich weiß nicht für wie lange, und bewegte mich im Geiste wieder in jener lebendigen Traumwelt, in der herrlichen Stadt mit ihren einfachen, aber behaglichen Wohnhäusern und ihren prächtigen öffentlichen[246] Palästen. Ich sah mich wieder von Gesichtern umringt, die nicht entstellt waren durch Hochmut oder Unterwürfigkeit, durch Neid oder Habsucht, durch ängstliche Sorge oder fieberhafte Streberei. Vor meinem geistigen Auge schritten die stattlichen Gestalten von Männern und Frauen vorüber, die nie erfahren hatten, was die Furcht vor einem Nebenmenschen oder die Abhängigkeit von seiner Gunst bedeuten, sondern die, um die Worte der Predigt zu gebrauchen, die mir noch in den Ohren klangen, »stets aufrecht gestanden hatten vor Gott«.

Endlich entriß ich mich meinen Träumereien, nicht ohne einen tiefen Seufzer und das Gefühl, daß ich unwiederbringlich ein Gut verloren hatte, dessen Verlust mich nicht weniger schmerzte, weil ich es in Wirklichkeit nie besessen. Bald darauf verließ ich das Haus. Auf dem Wege von meiner Tür bis zur Washingtonstraße mußte ich wohl ein dutzendmal stehenbleiben, um mit Aufbietung meines ganzen Willens meiner Herr zu bleiben. Die Vision vom Boston des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sich meiner mit solch unwiderstehlicher Gewalt bemächtigt, daß sie mir das Boston der Gegenwart fremd erscheinen ließ. Von dem Augenblick an, wo ich auf die Straße trat, fielen mir die Unsauberkeit und der üble Geruch in den Straßen wie Dinge auf, die ich noch nie zuvor bemerkt hatte. Noch gestern war es mir als durchaus selbstverständlich erschienen, daß einige meiner Mitbürger in Seide, andere dagegen in Lumpen einhergingen, daß etliche von ihnen wohlgenährt, manche dagegen hungrig aussahen. Jetzt aber fiel mir bei Schritt und Tritt auf, welch schreiende Ungleichheit in Kleidung und Aussehen der Männer und Frauen herrschte, die auf den Fußsteigen aneinander vorüberhasteten. Noch weit peinlicher berührte mich die vollständige Gleichgültigkeit, mit der die Bessergestellten augenscheinlich das Los der Unglücklichen betrachteten. War denn das noch ein Mensch, der das Elend seines Nächsten mit ansehen konnte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen? Und während ich die Verhältnisse und Menschen so ganz anders beurteilte als gestern noch, war ich mir wohl bewußt, daß ich es war, der sich verändert hatte, und nicht meine Zeitgenossen. Ich hatte von einer Stadt geträumt, deren Bewohner alle, alle wie Kinder einer Familie in den gleichen Verhältnissen lebten; wo jedem einzelnen das Wohl und Wehe[247] des Nächsten wie das eigene Wohl und Wehe am Herzen lag. Und dieser Traum hatte den Umschwung in meinem Empfinden und Denken bewirkt.

Die zahllosen Geschäftsanzeigen und Reklamen waren ein weiterer Zug des wirklichen Bostons, der mich höchst fremdartig berührte, wie dies wohlbekannte Dinge tun, wenn plötzlich ein neues Licht auf sie fällt. Im Boston des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es keine Anzeigen von Privatgeschäften gegeben, weil man ihrer nicht bedurfte. Im Boston des neunzehnten Jahrhunderts dagegen waren die Mauern und Gebäude, die Fenster, die Zeitungen in der Hand der Leute, ja sogar die Pflastersteine in den Straßen, kurz alles und jedes, so weit das Auge reichte, mit einziger Ausnahme des Himmels, bedeckt mit den Aufrufen von Leuten, die unter unzähligen Vorwänden anderen Beiträge zu ihrem Lebensunterhalt abzulocken suchten. Wie verschieden auch immer die Worte zusammengestellt sein mochten, der Inhalt dieser Aufrufe war doch stets der nämliche und lautete ungefähr wie folgt:

»Helft dem John Jones! Kümmert euch nicht um die anderen! Sie sind Betrüger! Ich, John Jones, bin der rechte Mann! Kauft von mir! Gebt mir zu tun! Kommt zu mir! Hört auf mich, den John Jones! Seht auf mich! Verwechselt mich ja nicht. Nur John Jones ist der rechte Mann und niemand sonst! Laßt die anderen verhungern, aber denkt um Gottes willen an John Jones.«

Ob der Jammer oder die Widerlichkeit des Schauspiels vor mir einen stärkeren Eindruck auf mich machte, der ich so plötzlich ein Fremdling in meiner eigenen Stadt geworden bin, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich aufs tiefste erschüttert war. Unglückliche, hätte ich ausrufen mögen, die ihr nicht lernen wollt, einander zu helfen, und die ihr deshalb vom Höchsten bis zum Niedrigsten dazu verurteilt seid, einander anzubetteln! Dies entsetzliche Babel schamlosen Eigenlobes und gegenseitiger Herabsetzung, dieser betäubende Lärm von einander widersprechenden und entgegenarbeitenden Anpreisungen, Bitten, Beschwörungen, dieses erstaunliche System frecher Bettelei: was war dies alles anders als die unerbittliche[248] Folge einer Gesellschaftsordnung, in der jeder um die Möglichkeit kämpfen muß, der Welt mit seinen Gaben zu dienen, während es die erste und vornehmste Aufgabe der sozialen Ordnung wäre, diese Möglichkeit einem jeden zu verbürgen!

Ich erreichte die Washingtonstraße an der Stelle, wo der Verkehr am stärksten war. Dort blieb ich stehen und lachte zum Verdruß der Vorübergehenden laut auf. Und wenn es mein Leben gekostet hätte, es wäre mir unmöglich gewesen, mich zu bezwingen – ein so grimmiger Humor überkam mich beim Anblick der unendlichen Ladenreihen, die sich auf beiden Seiten, Straße auf und Straße ab, vor mir ausdehnten, so weit ich schauen konnte. Das Schauspiel wurde noch toller dadurch, daß innerhalb eines Steinwurfes Dutzende von Läden den nämlichen Artikel verkauften! Läden! Läden! Läden! nichts als Läden! Zehntausend Läden, um die Waren zu verteilen, deren diese eine Stadt bedurfte! Und in meinem Traume war sie von einem einzigen Warenlager aus mit allen Gebrauchsartikeln versorgt worden. Sie brauchten nur in einem der großen Musterlager bestellt zu werden, deren jeder Stadtbezirk ein einziges besaß. Dort konnte der Käufer ohne Verlust von Zeit oder Arbeit unter einem Dache die Muster aller Güter der Welt finden, die er nur wünschen mochte. Die Verteilung der Waren ging mit einem so geringen Aufwand von Arbeit vor sich, daß der Preis für den Käufer nur um einen kaum merklichen Bruchteil erhöht ward. Es war so gut, als ob er nur die Herstellungskosten bezahlte. Hier aber erhöhte das bloße Verteilen der Waren, ihr Hin und Her aus einer Hand in die andere ihren Preis um ein Viertel, ein Drittel, die Hälfte, ja sogar um mehr als die Hälfte der Herstellungskosten! Was die zehntausende Geschäfte da vor mir für Kosten verursachten, mußte bezahlt werden. Bezahlt werden mußten ihre Mieten, ihre Inspektoren und Direktoren, ihre Heere von Verkäufern, ihre Zehntausende von Buchhaltern, Hausdienern und anderen Angestellten, ihre Ausgaben für Annoncen, Reklamen und den ganzen Apparat, den der Konkurrenzkampf erforderte, und es waren die Konsumenten, die für alle Ausgaben aufkommen mußten. Welch unübertreffliches Mittel, eine Nation bettelarm zu machen!

Waren es Männer, die ich um mich her erblickte, oder Kinder, daß sie[249] so wirtschafteten? Konnten es denkende, vernünftige Wesen sein, die nicht einsahen, welche Torheit darin lag, so viel Arbeit und Kraft auf den Weg zu verschwenden, auf dem das Produkt nach seiner Fertigstellung für den Gebrauch zum Konsumenten gelangt? Ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß Leute hungrig vom Tische aufstehen, die mit einem Löffel essen, der die Hälfte seines Inhalts zwischen Teller und Lippe fallen läßt?

Obgleich ich früher schon tausendmal durch die Washingtonstraße gegangen war und das Tun und Treiben der Verkäufer beobachtet hatte, so interessierte es mich heute doch so stark, als ob ich es bisher noch nie gesehen hätte. Verwundert betrachtete ich die Schaufenster der Läden, deren Warenauslagen mit großer Mühe, Sorgfalt und künstlerischem Geschmack so hergerichtet waren, daß sie die Augen auf sich ziehen mußten. Ich sah die Damen, die sich vor den Schaufenstern drängten, um einen Blick auf ihre Pracht zu werfen, und ich beobachtete die Ladenbesitzer, die mit gespannter Aufmerksamkeit die Wirkung des ausgeworfenen Köders verfolgten. Ich trat in einen Laden und beobachtete den ersten Angestellten, der mit dem Scharfblick eines Falken das Geschäft überwachte, die Verkäufer beaufsichtigte und sie zu ihrer Pflicht anhielt, die Leute zu veranlassen, zu kaufen, zu kaufen und nochmals zu kaufen. Zu kaufen für Geld, wenn sie solches hatten, auf Kredit, wenn sie keins hatten; zu kaufen, was sie nicht brauchten, mehr als sie brauchten und über ihre Mittel hinaus. Dann und wann verlor ich den Faden des Getriebs um mich und wurde durch den Anblick ganz verwirrt.

Wozu all das Bemühen, die Leute zum Kaufen zu bewegen? Es hatte doch sicher gar nichts mit der notwendigen Verrichtung zu tun, die Waren denen zu vermitteln, die ihrer bedurften. Es war offenbar die reinste Verschwendung, Leuten aufzudrängen, was sie nicht brauchten, was aber vielleicht anderen von Nutzen gewesen wäre. Die Nation wurde durch jeden Erfolg ärmer, den Leuten überflüssige Dinge aufzuschwätzen. Was dachten alle diese Kaufleute eigentlich von ihrem Berufe? Und während ich mir im Geiste diese Frage stellte, fiel mir erst ein, daß sie bei ihrer Tätigkeit von ganz anderen Gesichtspunkten geleitet wurden als die Beamten der Nation in dem Warenlager, das ich in dem Boston meines Traumes besucht hatte. Sie vermittelten die Waren nicht, um dem[250] öffentlichen Wohle zu dienen, sondern um ihren eigenen persönlichen Vorteil zu finden; es war ihnen ganz gleichgültig, ob ihr Tun und Treiben dem Gesamtwohlstand schadete oder nützte, wenn sie dadurch nur ihr eigenes Vermögen vergrößerten. Warum das alles? Weil die Waren das Eigentum der Kaufleute waren, und weil der Gewinn der Kaufleute um so größer wurde, je mehr sie verkauften und je höhere Preise sie erzielten. Je verschwenderischer das Publikum war, je mehr es sich aufnötigen ließ, was es gar nicht brauchte, um so besser war es für die Händler und Kaufleute. Es war der ausdrückliche Zweck der zehntausend Läden Bostons, der Verschwendung Vorschub zu leisten, sie künstlich zu züchten.

Übrigens waren Kaufleute und Handlungsgehilfen nicht um ein Haar schlechter als die anderen Bewohner Bostons. Sie mußten ihren Lebensunterhalt erwerben und ihre Familie ernähren, und wie wäre es ihnen möglich gewesen, einen Beruf ausfindig zu machen, der sie nicht unvermeidlich gezwungen hätte, ihre eigenen Interessen dem Interesse anderer und dem der Allgemeinheit voranzustellen? Man konnte ihnen doch nicht zumuten, gottergeben zu verhungern, während sie auf eine Ordnung der Dinge harrten, wie ich sie in meinem Traume geschaut hatte, eine Ordnung der Dinge, bei der das Interesse des einzelnen mit dem Interesse aller eins war. Aber beim Himmel, war es bei der herrschenden Wirtschaftsordnung verwunderlich, daß die Stadt so armselig aussah, daß die Leute so schlecht gekleidet, daß viele von ihnen zerlumpt und hungrig umhergingen?

Ich setzte meinen Streifzug fort und gelangte bald darauf in den südlichen Teil von Boston; rings um mich ragten Fabriken empor. Wie in der Washingtonstraße, so war ich auch in diesem Stadtteil wohl schon hundertmal gewesen, aber hier wie dort gingen mir erst jetzt die Augen über die wahre Bedeutung dessen auf, was ich um mich sah. Früher hatte es mich mit Stolz erfüllt, daß nach einer kürzlichen Berechnung Boston gegen viertausend voneinander unabhängige Fabrikbetriebe besaß. Jetzt dagegen fand ich gerade in dieser ihrer großen Zahl und ihrer Unabhängigkeit voneinander den Schlüssel zu dem Geheimnis, warum der Gesamtertrag ihrer Produktion so unbedeutend blieb.[251]

Hatte die Washingtonstraße mit ihrem Leben und Treiben in meinen Augen einem Weg durch eine Irrenanstalt geglichen, so machte das Schauspiel in Süd-Boston einen noch niederdrückenderen Eindruck auf mich. Da die Warenproduktion eine bei weitem wichtigere Funktion des sozialen Organismus ist als die Warenverteilung, so erschienen mir die bei ihr beobachteten Verkehrtheiten auch um so verhängnisvoller und beklagenswerter. Natürlich produzierten die viertausend Fabriken nicht zusammen auf Grund einer getroffenen Verständigung, eines einheitlichen Planes, ein Umstand, der allein schon ganz ungeheuren Schaden nach sich ziehen mußte. Und als wenn die daraus folgende Vergeudung an Kraft nicht schlimm genug gewesen wäre, boten die Besitzer der einzelnen Industriebetriebe alles auf, was in ihrer Macht stand, um einander den Erfolg ihrer Anstrengungen zu vereiteln. Sie beteten des Nachts darum und arbeiteten am Tage darauf hin, daß sie ihre Unternehmungen gegenseitig zugrunde zu richten vermöchten.

Das Sausen der Räder und das Pochen der Hämmer, das von allen Seiten ertönte, war nicht ein Lied friedlichen Gewerbefleißes, es war das Geklirr von Schwertern, die im Kampfe geschwungen wurden. Die Fabriken und Werkstätten waren ebenso viele Festungen, jede unter einer anderen Flagge. Jede hatte ihre Geschütze auf die ringsum liegenden Fabriken und Werkstätten gerichtet, und ihre Sappeurs waren unter dem Boden geschäftig, die anderen zu unterwühlen.

Innerhalb einer jeder dieser Festungen herrschte die straffste Organisation der Arbeit. Einheitlicher Leitung unterstanden die zusammengehörenden einzelnen Betriebe mit ihren verschiedenen Arten von Arbeitern. Jede Störung, jede unnütze Arbeit war ausgeschlossen. Jedem einzelnen war seine Aufgabe zugeteilt, und keiner blieb müßig. Welche Lücke des Denkvermögens, welches aus der Kette der Schlußfolgerungen verlorene Glied erklärte es nur, daß man nicht die Notwendigkeit einsah, auf die Organisation der gesamten nationalen Wirtschaft das nämliche Prinzip anzuwenden, das für die Organisierung jedes einzelnen Industriebetriebes galt? Was verhüllte die Erkenntnis, daß der Mangel an einheitlicher Organisation, der jedes einzelne Unternehmen gefährdet hätte,[252] auch das gesamte nationale Wirtschaftsleben schwer schädigen mußte, und daß hier um so unheilvollere Folgen unvermeidlich waren, als es sich um weit riesigere und verwickeltere Verhältnisse handelte als in einem Privatbetrieb?

Wie schnell würde man bei der Hand sein, ein Heer zu verspotten, das nicht in Kompanien, Bataillone, Regimenter, Brigaden, Divisionen und Armeekorps gegliedert wäre! Ein Heer, das keine größeren Gruppen als die Korporalschaften aufwiese, keine höheren Offiziere als Korporale, und in dem alle Führer gleiche Machtbefugnisse besäßen. Und doch stellten die Industriebetriebe in dem Boston des neunzehnten Jahrhunderts gerade solch ein Heer dar: ein Heer, das aus viertausend selbständigen Korporalschaften bestand, die von viertausend selbständigen Korporalen geführt wurden, von denen jeder einzelne seinen besonderen Feldzugsplan verfolgte.

Überall traf man auf Gruppen von Leuten, die ohne Beschäftigung waren. Manche von ihnen gingen müßig, weil es ihnen überhaupt unmöglich war, Arbeit zu finden, andere wiederum, weil sie nicht den Lohn erhalten konnten, den sie für gerecht und billig hielten. Ich sprach mehrere dieser Feiernden an, und sie klagten mir ihr Leid. Ich konnte ihnen nur schlechten Trost geben. »Sie tun mir leid«, sagte ich. »Gewiß, Sie erhalten äußerst wenig, und doch wundere ich mich nicht, daß so schlecht geleitete Betriebe wie diese hier Ihnen keinen auskömmlichen Lohn zahlen, sondern nur, daß sie Ihnen überhaupt noch Lohn zahlen können.«

Ich kehrte nun wieder nach dem Stadtteil auf der Halbinsel zurück. Gegen drei Uhr befand ich mich in der Statestraße und starrte nun – als hätte ich dergleichen nie zuvor gesehen – die Banken und Wechselstuben und andere Finanzinstitute an, von denen in der Statestraße meines Traumes keine Spur gewesen war. Geschäftsleute, Prokuristen und Laufburschen drängten sich hinein und heraus, denn es fehlten nur noch wenige Minuten bis zum Geschäftsschluß. Mir gegenüber lag das Bankhaus, wo ich meine Geldgeschäfte abzuwickeln pflegte. Ich ging über die Straße, mischte mich unter die eintretende Menge und blieb in einer Mauernische stehen, um das Heer der mit Geld hantierenden Angestellten[253] zu beobachten und die langen Reihen von Leuten, die an den Schaltern Geld deponierten. Ein ältlicher, mir bekannter Herr ging an mir vorüber, ein Direktor der Bank. Er blieb einen Augenblick stehen, als er mich auf meinem Beobachtungsposten bemerkte.

»Ein interessanter Anblick, Herr West, nicht wahr?« sagte er. »Ein wundervoller Mechanismus, muß ich gestehen. Oft macht es mir Vergnügen, mich hierherzustellen und dem Getriebe zuzuschauen, wie Sie es tun. Es ist ein Gedicht, Herr West, jawohl, ein Gedicht! Ich kann es nicht anders nennen. Ist Ihnen schon je eingefallen, daß die Bank das Herz des wirtschaftlichen Organismus ist? Von ihm aus und zu ihm zurück fließt in endlosem Kreislauf das Lebensblut. Jetzt strömt es ein, am nächsten Morgen wird es wieder ausströmen.« Und über seine Idee wohlgefällig lächelnd, ging der alte Herr weiter.

Noch gestern würde mir der Vergleich als sehr treffend erschienen sein. Allein seitdem war ich in einer neuen Welt gewesen, die unendlich reicher als die alte war, und die doch weder Geld besaß, noch brauchen konnte. Was hatte ich seitdem nicht alles gelernt! Ich wußte nun, warum man sich des Geldes in der Gesellschaft bedienen mußte, in der ich geboren war. Die Erzeugung alles dessen, was die Nation bedurfte, betrachtete man hier noch immer nicht als eine Sache, die von der höchsten öffentlichen und allgemeinen Wichtigkeit war, so daß der Staat sie übernehmen und leiten mußte. Man hielt sie für eine bloße Privatangelegenheit und ließ sie folglich aufs Geratewohl in den Händen von Privatpersonen. Dieser Grundfehler machte einen endlosen Tauschverkehr nötig, damit die Waren nur einigermaßen an die Verbraucher gelangten. Diese Tauschgeschäfte wurden durch das Geld vermittelt. In wie gerechter und billiger Weise, konnte man sehen, wenn man von den ärmeren Stadtteilen der Mietkasernen zu den reichen Villenvierteln hinüberspazierte! Der Gebrauch des Geldes entzog aber das ganze Heer des Personals in Bank- und Finanzinstituten aller Art der produktiven Arbeit, er förderte die verderblichsten Krisen des Wirtschaftslebens, er übte einen so entsittlichenden Einfluß auf die ganze Menschheit, daß sich das alte Wort als wahres Wort erwies: »Geld ist die Wurzel alles Übels.«[254]

Armer alter Bankdirektor mit deinem Gedicht! Er hielt das Zucken eines Geschwüres für das Pochen des Herzens! Was er einen »wundervollen Mechanismus« nannte, war nur der unvollkommene Versuch, einen vermeidbaren Fehler zu verbessern; war die plumpe Krücke eines Krüppels, der sich selbst verstümmelt hatte.

Nachdem die Banken geschlossen waren, wanderte ich mehrere Stunden lang ziellos durch das Geschäftsviertel umher und ließ mich später auf einer Bank der städtischen Anlagen nieder. Mit dem nämlichen Interesse, mit dem man die Bevölkerung einer fremden Stadt studiert, beobachtete ich die an mir vorbeidrängende Menge: so fremd waren mir seit gestern meine Mitbürger und ihre Sitten geworden. Dreißig Jahre lang hatte ich unter ihnen gelebt, und doch schien ich heute zum erstenmal zu bemerken, wie verzerrt und sorgenvoll die Gesichter waren; die der Reichen wie die der Armen, die feinen, scharfgeschnittenen Züge der Gebildeten wie die stumpfsinnigen Larven der Ungebildeten. Konnte es wohl anders sein? Deutlicher als je zuvor sah ich ja, daß sich ein jeder beim Gehen beständig umdrehte, um zu hören, was ein Gespenst flüsterte, das ihm auf dem Fuße folgte, das Gespenst der Unsicherheit. »Arbeite noch so tüchtig«, so flüsterte es, »stehe bei Tagesanbruch auf und mühe dich bis in die Nacht; raube listig oder diene treu: du wirst doch nie das Gefühl der Sicherheit kennen. Du magst heute reich sein, morgen schon kann die Armut zu dir treten. Du kannst deinen Kindern die größten Schätze hinterlassen, und doch vermagst du nicht, dir die Sicherheit zu erkaufen, daß dein Sohn nicht einst der Diener deines Dieners wird, und daß deine Tochter sich nicht um Brot verkaufen muß.«

Ein Vorübergehender drückte mir eine Karte in die Hand, die die Vorteile einer neuen Art von Lebensversicherung anpries. Dadurch ward ich an das einzige Mittel erinnert, das den müden und abgehetzten Männern und Frauen meiner Zeit geboten ward, um sich wenigstens zum Teil gegen die sie umlauernde Unsicherheit zu schützen. Waren die Lebensversicherungen nicht ein ergreifendes Eingeständnis der allgemeinen Not, der sie in ganz armseliger Weise abhalfen? Durch sie konnten sich die bereits Wohlhabenden einen gewissen Grad von Sicherheit erkaufen, daß nach ihrem Tode ihre Lieben wenigstens eine Zeitlang nicht von anderen[255] zu Boden getreten würden. Das war alles, das war nicht viel, und das wenige stand obendrein nur denen zur Verfügung, die dafür zahlen konnten. Wie wäre es auch möglich gewesen, daß die unseligen Bewohner des Landes Ismael, wo die Hand eines jeden sich gegen jeden erhob, an die einzig wahre Lebensversicherung gedacht hätten, die ich in meinem Traumlande geschaut hatte? Dort allein war jeder Bewohner durch seine bloße Zugehörigkeit zur großen Familie der Nation gegen jegliche Not geschützt, kraft einer Police, die die Unterschrift von hundert Millionen Mitbürgern trug.

Ich entsinne mich weiter, daß ich bald darauf auf den Stufen eines Gebäudes in der Fremontstraße stand und einem militärischen Schauspiel zuschaute. Ein Regiment marschierte vorüber. Das war der erste Anblick an jenem traurigen Tage, der andere Gefühle als verwundertes Mitleid und grenzenloses Staunen in mir erweckte. Hier endlich trat mir Ordnung und Vernunft entgegen, eine Veranschaulichung dessen, was verständiges, einheitliches Zusammenwirken zu leisten vermag. War es denn möglich, daß die entzückten Zuschauer in dem Anblick tatsächlich nichts weiter sahen als nur ein Schauspiel? Lehrte er sie nicht, daß diese Männer hier nur dank ihrer Organisation unter einheitlicher Leitung, dank vollkommen einmütigen Zusammenwirkens zu einer furchtbaren Maschine wurden, die einen zehnmal so zahlreichen Volkshaufen zu bezwingen imstande war? Und wenn ihnen dies klarwurde, mußten sie nicht Vergleiche darüber anstellen, daß die Nation wohl nach wissenschaftlichen Regeln in den Krieg zog, daß sie jedoch in wenig wissenschaftlicher Weise an die Arbeit ging? Mußten sie nicht fragen, seit wann es für weit wichtiger gelte, Menschen zu töten als Menschen zu ernähren und zu bekleiden, so daß man zur ersten Aufgabe ein geschultes Heer für nötig erachtete, während man die letztere einem wirren Menschenhaufen überließ?

Der Abend brach herein, und die Straßen füllten sich mit Arbeitern, die aus Magazinen, Werkstätten und Fabriken kamen. Ich ließ mich von[256] dem Menschenstrom forttragen und befand mich beim Anbruch der Dunkelheit inmitten einer Stätte von Schmutz und Verkommenheit, wie sie nur im Arbeiterviertel von Süd-Boston angetroffen werden konnte. Hatte ich vorher die wahnwitzigste Vergeudung menschlicher Arbeit gesehen, so trat jetzt als Folge jener Vergeudung das Elend in seiner gräßlichsten Gestalt an mich heran.

Übelriechende, verpestete Luft quoll aus den schwarzen Tür- und Fensterhöhlen der verwahrlosten Häuser, die sich zu beiden Seiten der Straße hinzogen. Über den Straßen und Gäßchen lagerten Ausdünstungen, wie sie dem Zwischendeck von Sklavenschiffen eigentümlich zu sein pflegten. Im Vorübergehen streifte mein Blick bleiche Kinder, die da drinnen inmitten einer schmutzigen, vergifteten Atmosphäre dahinsiechten; er ruhte auf Frauen, auf deren Antlitz kein Strahl von Hoffnung leuchtete, die durch Mühsal und Entbehrungen entstellt waren und von der Weiblichkeit nichts zurückbehalten hatten als die Schwäche. Aus den Fenstern schielten Dirnen mit dreisten Mienen. Den Rudeln hungriger, verwilderter Hunde gleich, die die türkischen Städte unsicher machten, balgten und wälzten sich Scharen halbnackter, verrohter Kinder zwischen den Haufen von Unrat, die die Höfe bedeckten; sie erfüllten die Luft mit ihrem Schreien und Fluchen.

Nichts von alledem war mir neu. Oft schon war ich durch diesen Stadtteil gewandert, oft schon hatte ich die Bilder geschaut, die sich heute vor meinen Blicken entrollten. Sie hatten mir bisher nie mehr als ein Gefühl von Ekel eingeflößt, das sich mit einem gewissen philosophischen Staunen über die Zähigkeit mischte, mit der sich die Sterblichen an das Leben klammern und lieber das höchste Maß des entsetzlichen Elends ertragen, als daß sie es wegwerfen. Aber seit jener Vision eines anderen Jahrhunderts war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, und ich erkannte nun nicht nur die wirtschaftlichen Torheiten meiner Zeit, sondern auch ihre moralischen Greuel. Ich betrachtete nicht mehr mit hartherziger Neugier die unglücklichen Bewohner dieser Hölle wie Wesen, die kaum zum Menschengeschlecht gehörten. Ich sah in ihnen meine Brüder und Schwestern, meine Eltern und Kinder, Fleisch von meinem Fleisch und Blut von meinem Blut. Der Anblick des mich umringenden menschlichen[257] Jammers verletzte jetzt nicht nur meine Sinne, er schnitt mir wie ein Messer durchs Herz, so daß ich laut aufstöhnte und ächzte. Ich sah nicht nur, ich fühlte tatsächlich alles, was ich sah.

Jetzt erst, als ich die unglückseligen Geschöpfe um mich her näher betrachtete, bemerkte ich, daß sie bereits alle tot waren. Ihre Leiber waren ebenso viele lebendige Gräber. Auf jeder der vertierten Stirnen stand das »Hier ruht« einer gestorbenen Seele.

Als ich von Entsetzen ergriffen von einem Totenkopf zum anderen blickte, hatte ich eine seltsame Halluzination. Ich sah, wie ein durchsichtiges Geisterantlitz herbeischwebte und sich über jede dieser vertierten Masken legte; ich sah das ideale Antlitz, das das wirkliche gewesen wäre, wenn Geist und Seele gelebt hätten. Erst als ich diese geisterhaften Gesichter sah und den Vorwurf in ihren Augen, auf den ich nichts antworten konnte, erst da ward mir die ganze erschütternde Furchtbarkeit des geschehenen Zerstörungswerks bewußt. Zerknirschung und Seelenangst bemächtigten sich meiner, denn auch ich hatte bisher zu denen gehört, die duldeten, daß solche Dinge geschahen. Auch ich war einer von denen gewesen, die recht gut wußten, welch unsägliches Elend existiert, wie unheilvoll es in seiner Wirkung ist, und die trotzdem nichts davon hören, nicht daran denken wollen, sondern nur ihrem eigenen Vergnügen und Vorteil nachgehen. Darum sah ich jetzt auf meinem Gewand das Blut der unzähligen gemordeten Seelen meiner Brüder. Die Stimme ihres Blutes schrie gegen mich von der Erde. Jeder Stein des schmutzigen Pflasters, jeder Ziegel der Pesthöhlen hatte eine Zunge und schrie mir nach, als ich von dannen floh: »Was hast du mit deinem Bruder Abel getan?«

Ich kam erst wieder zu mir, als ich auf der kunstvoll gemeißelten Steintreppe des prachtvollen Hauses meiner Verlobten in der Commonwealth-Avenue stand. In dem Aufruhr meiner Gedanken hatte ich an jenem Tage kaum einmal an Edith Bartlett gedacht; einem unbewußten Triebe gehorchend, hatten jedoch meine Füße den wohlbekannten Weg zu ihrer Tür gefunden. Ich erfuhr, daß die Familie bei Tische sei und mich ersuchen lasse, mit ihr zu speisen. Außer der Familie traf ich mehrere Gäste an, die mir alle bekannt waren. Die Tafel trug funkelndes[258] Silbergeschirr und kostbares Porzellan. Die Damen waren prächtig gekleidet und mit Juwelen wie Königinnen geschmückt. Ein Bild der höchsten Eleganz und des verschwenderischsten Luxus trat mir entgegen. Die Gesellschaft befand sich in trefflichster Laune, man lachte viel und herzlich, und ein ununterbrochenes Feuer von Witzworten flog hin und her.

Mir war zumute, als sei ich von einer Richtstätte gekommen, deren Anblick mein Blut in Tränen verwandelt, mich mit Trauer, Mitleid und Verzweiflung erfüllt hatte, und als sei ich nun plötzlich in einer Lichtung auf einen lustigen Trupp lärmender Gesellen gestoßen. Schweigend saß ich da, bis mich Edith wegen meiner finsteren Miene zu necken begann. Was konnte mir nur fehlen? Die übrige Gesellschaft beteiligte sich sofort an den mutwilligen Angriffen, und ich ward zur Zielscheibe ihrer Sticheleien und Scherze. Wo konnte ich nur gesteckt, was konnte ich nur gesehen haben, daß solch ein Griesgram aus mir geworden war?

»Ich bin auf Golgatha gewesen«, antwortete ich endlich. »Ich habe die Menschheit gekreuzigt gesehen. Weiß niemand von euch, auf welche Szenen die Sonne und die Sterne in dieser Stadt herabblicken, daß ihr an etwas anderes denken, von etwas anderem reden könnt? Wißt ihr nicht, daß dicht an euren Türen ungezählte Massen von Männern und Frauen, Fleisch von eurem Fleisch und Bein von eurem Bein, ein Leben führen, das von der Wiege bis zum Grabe nur ein langer Todeskampf ist? Horcht! Ihre Wohnstätten sind ganz nahe. Wenn euer Lachen schweigt, so vernehmt ihr die furchtbaren anklagenden Stimmen: das Jammergeschrei der Kleinen, die am Hungertuch saugend verschmachten; die heiseren Flüche der Männer, die im Elend halb vertieren und zugrunde gehen; das Feilschen eines Heeres von Weibern, die sich um Brot verkaufen. Womit habt ihr eure Ohren verstopft, daß ihr diese Stimmen nicht hört? In meinem Ohr übertönen sie alles, alles, ich höre nur sie.«

Schweigen folgte meinen Worten. Mein ganzes Wesen war von leidenschaftlichem Mitgefühl durchbebt, während ich sprach. Als ich jedoch auf die Gesellschaft rund um mich blickte, konnte ich mir nicht verhehlen, daß sie nicht im geringsten von meinen Worten ergriffen war. Ich begegnete nur Mienen, die kaltes, herzloses Staunen verrieten, das auf[259] Ediths Antlitz mit dem Ausdruck tiefsten Gekränktseins gepaart war, auf dem ihres Vaters mit allen Anzeichen heftigen Zornes. Die Damen tauschten beleidigte Blicke aus, während einer der Herren sein Glas ins Auge klemmte und mich mit einer Art wissenschaftlicher Neugier musterte. Als ich sah, daß Zustände, die mir unerträglich in die Seele schnitten, die Tafelnden nicht zu rühren vermochten, daß Worte, die sich mir aus dem tiefsten Herzen auf die Lippen drängten, sie nur gegen mich aufbrachten, war ich zuerst bestürzt, dann aber überkam mich ein Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht. Was war für die Unglücklichen, was war für die Menschheit zu hoffen, wenn denkende Männer und empfindsame Frauen von solchen Dingen nicht erschüttert wurden? Ich mußte wohl nicht in der richtigen Weise zu ihnen gesprochen haben. Ohne Zweifel hatte ich die Sache ungeschickt angefaßt. Die Leute waren gewiß erzürnt, weil sie meinten, ich wollte Vorwürfe gegen sie erheben, während ich doch – Gott ist mein Zeuge – nur an das Grauenvolle der Tatsachen selbst gedacht hatte, ohne irgend jemand dafür verantwortlich zu machen.

Ich bemeisterte nun meine leidenschaftliche Erregung und versuchte, ruhig und logisch zu sprechen, um den ersten Eindruck meiner Worte zu berichtigen. Ich versicherte, daß es durchaus nicht meine Absicht gewesen sei, irgendwie die Anwesenden anzuklagen, daß ich nicht daran gedacht habe, sie oder die Reichen überhaupt für das Elend der Welt verantwortlich zu machen. Gewiß: der Überfluß, den sie verschwendeten, könne, anders angewendet, viel bitterem Leid abhelfen. Die köstlichen Speisen, die teuren Weine, die herrlichen Stoffe und blitzenden Juwelen vor uns reichten hin, manches Menschenleben vor Not und Schande zu retten. Sie alle seien also wahrlich nicht frei von der Schuld derer, die in einem Lande Verschwendung treiben, das von Hungersnot heimgesucht ist. Aber auch wenn die Reichen jeder Vergeudung entsagen und sich der größten Sparsamkeit befleißigen wollten, so werde dies nur wenig helfen, die Armut aus der Welt zu schaffen. Der gesellschaftliche Reichtum sei so gering, daß – selbst wenn die Reichen mit den Armen teilten – jeder doch nicht mehr als ein Gericht Brotrinden erhalten würde, das allerdings durch die brüderliche Liebe versüßt werde.

In der Torheit der Menschen, fuhr ich fort, nicht in ihrer Hartherzigkeit[260] liegt die Hauptursache für die Armut der Welt. Nicht freventliches Verbrechen des Menschengeschlechts noch einer bestimmten Bevölkerungsklasse macht die Menschheit so elend, sondern ein furchtbarer, entsetzlicher Irrtum, eine riesenhafte, die ganze Welt verfinsternde Verblendung. Und darauf zeigte ich den Anwesenden, wie vier Fünftel der menschlichen Arbeit vollständig nutzlos vergeudet werden durch den Kampf aller gegen alle, durch den Mangel eines einheitlichen, planvollen Zusammenwirkens aller schaffenden Kräfte. Um die Sache recht klar und deutlich durch ein Beispiel zu veranschaulichen, verwies ich auf ein dürres Land, dessen Boden nur dann den Lebensunterhalt für die Bewohner trägt, wenn man die vorhandenen Wasserläufe sorgfältig zur Berieselung ausnützt. Ich zeigte, daß es in solchen Ländern für eine Hauptaufgabe der Regierung gelte, darüber zu wachen, daß das Wasser nicht durch die Selbstsucht oder die Unwissenheit einzelner verschwendet werde, da sonst eine Hungersnot unausbleiblich wäre. Zu diesem Zwecke sei die Benützung des Wassers streng geordnet und geregelt, und der einzelne dürfe es nicht nach Belieben vergeuden, seine Läufe ablenken oder eindämmen.

Die menschliche Arbeit, erklärte ich weiter, ist der befruchtende Strom, der allein die Erde bewohnbar macht. Auch im besten Falle fließt dieser Strom nur spärlich, und so muß sein Lauf nach einem bestimmten Plan geregelt werden, der erlaubt, jeden Tropfen auf die vorteilhafteste Weise zu verwenden, damit alle Menschen reichlich ihren Unterhalt finden können. Aber wie weit sind wir von jeder planvollen Regelung! Jeder einzelne verbraucht das kostbare Wasser des Stromes, wie es ihm beliebt, denn er ist nur von zwei gleich starken Beweggründen beseelt: seine eigene Ernte zu sichern und die seines Nachbarn zu verderben, damit er die seinige um so teurer verkaufen kann. Habgier, Feindschaft und Neid gegen den Nachbar bewirken, daß das eine Feld überschwemmt wird, während das andere verdorrt und die Hälfte des Wassers verlorengeht. So können in diesem Lande wohl einige wenige durch Gewalt oder List[261] im Überfluß leben, die große Masse dagegen bleibt zur Armut verdammt, und das Los der Schwachen und Unwissenden ist beständiger Hunger und bitterer Mangel am Nötigsten.

Wenn doch die von Hungersnot heimgesuchte Nation die Aufgabe erfüllen wollte, die sie bisher vernachlässigt hat! Wenn sie doch zum Besten des Gemeinwohls den Lauf des lebenspendenden Stromes regelte! Die Erde würde dann blühen wie ein Garten, und keines ihrer Kinder würde entbehren. Ich schilderte das leibliche Wohlergehen, die geistige Erleuchtung, die sittliche Größe, die unter solchen Verhältnissen das Erbteil aller sein würden. Mit flammender Begeisterung sprach ich von der neuen Welt, die mit Überfluß gesegnet, durch Gerechtigkeit gereinigt und durch brüderliche Liebe beglückt sei – von der Welt, die ich zwar nur im Traume geschaut hatte, die aber so leicht verwirklicht werden konnte.

Ich hatte erwartet, daß die Gesichter um mich sich nun sicherlich aufhellen und ähnliche Gefühle widerspiegeln müßten, wie sie mich selbst beseelten. Allein was sah ich? Die Gesichter wurden nur finsterer, zorniger und höhnischer. Statt Begeisterung zeigten die Damen nur Abscheu und Schrecken, und die Herren unterbrachen mich mit lauten Ausrufen der Entrüstung und Verachtung. »Verrückter! Fanatiker! Feind der Gesellschaft!« schrien sie mir zu, und der Mann mit dem Glase im Auge rief unter lautem Gelächter: »Er behauptet, es solle keine Armen mehr geben! Ha, ha, ha!« »Werft den Menschen hinaus«, befahl der Vater meiner Braut, und kaum hatte er das gesagt, so sprangen die Männer von ihren Stühlen empor und drangen auf mich ein.

Mir war es, als ob mein Herz brechen sollte vor Schmerz darüber, daß den anderen als bedeutungslos erschien, was für mich so klar, selbstverständlich und von alles überragender Wichtigkeit war, und daß ich mich ohnmächtig fühlte, es zu ändern. So heiß hatte mein Herz empfunden, daß ich wähnte, mit seiner Glut einen Eisberg schmelzen zu können, und nun fühlte ich rings um mich eine übermächtige, eisige Kälte, die mein eigenes Innere erstarren machte. Dennoch war es nicht Feindseligkeit, was ich gegen diese Leute empfand, die auf mich eindrangen, sondern nur Mitleid; Mitleid mit ihnen selbst und mit der Welt.[262]

Obwohl verzweifelnd, konnte ich mich doch nicht ergeben. Ich rang mit den Männern. Tränen stürzten aus meinen Augen. Meine Aufregung war so groß, daß ich nicht mehr zusammenhängend und vernehmlich sprechen konnte. Ich keuchte, ich schluchzte, ich stöhnte und fand mich plötzlich aufrecht sitzend in meinem Bett in dem Zimmer, das ich in Doktor Leetes Hause bewohnte. Die Morgensonne schien mir durch das geöffnete Fenster voll ins Gesicht. Ich atmete schwer. Tränen strömten über meine Wangen, und jede Fiber meines Körpers bebte.

Meine Rückkehr ins neunzehnte Jahrhundert war also nur ein Traum gewesen, mein Dasein im zwanzigsten Jahrhundert hingegen blieb Wirklichkeit. Als ich das erkannte, da war mir zumute wie einem entflohenen Sträfling, der geträumt, daß man ihn wieder eingefangen und in seinen finsteren, feuchten Kerker zurückgebracht habe, und der nun plötzlich, als er die Augen aufschlägt, das weite Himmelsgewölbe über sich erblickt.

Die grausen Szenen, die ich in meinem Traum geschaut hatte und die Eindrücke aus meinem früheren Dasein getreulich widerspiegelten, sie waren für immer vorbei. Aber doch waren sie einst Wirklichkeit gewesen, eine Wirklichkeit, die bis ans Ende aller Zeiten jeden zu Tränen des Mitleids rühren wird, der aufs neunzehnte Jahrhundert zurückblickt. Schon lange waren Unterdrücker und Unterdrückte, Propheten und Spötter zu Staub zerfallen. Seit Generationen schon waren die Worte »arm« und »reich« in Vergessenheit geraten.

Während ich noch voll unaussprechlicher Dankbarkeit darüber nachdachte, welch herrliches Werk die Erlösung der Menschheit sei, und wie groß mein Glück, sie zu schauen, da durchdrang plötzlich einem Messer gleich ein schneidender Schmerz meine Seele. Scham, Gewissensbisse und heftige Selbstanklagen mischten sich in ihm. Unter der Wucht dieser Gefühle ließ ich mein Haupt sinken und wünschte, daß das Grab mich ebenso verschlungen haben möchte wie meine Zeitgenossen. Denn ich selbst war nichts Besseres gewesen als ein Kind jener alten Zeit. Was hatte ich für die Befreiung der Welt geleistet, an der ich Vermessener mich jetzt erfreuen wollte? Ich, der ich in jenen furchtbaren Tagen des Wahnsinns lebte, hatte ich etwas getan, um ihnen ein Ende zu bereiten? Wie jeder andere meiner Freunde war ich gleichgültig geblieben gegen[263] das Elend meiner Brüder, hatte ich zynisch jede Möglichkeit besserer Gesellschaftszustände verlacht, war ich ein gedankenloser Anbeter des Chaos und der Finsternis gewesen. So weit meine persönliche Macht gereicht, hatte ich sie eher darauf verwendet, die sich anbahnende Befreiung des Menschengeschlechts zu hindern als zu fördern. Mit welchem Rechte konnte gerade ich eine Erlösung begrüßen? Mußte ich mir nicht vorwerfen, daß ich das Dämmern eines Tages verspottet hatte, dessen Sonnenschein ich jetzt genießen wollte!

»Besser für dich, ja besser für dich«, tönte eine Stimme in meinem Innern, »wenn der böse Traum die Wirklichkeit und die schöne Wirklichkeit nur Traum gewesen wäre! Ein glücklicheres Los wäre dir gefallen, wenn du die Sache der gekreuzigten Menschheit gegen den Hohn deiner Zeitgenossen verteidigt hättest, statt daß du hier aus Quellen trinkst, die du nicht erschlossen, und von Bäumen issest, deren Pfleger du einst gesteinigt hast.« Und meine Seele antwortete: »Gewiß, es wäre besser!«

Als ich endlich mein gebeugtes Haupt erhob und durch das Fenster schaute, erblickte ich Edith, die frisch wie der Morgen im Garten wandelte und Blumen pflückte. Ich eilte zu ihr hinab, kniete vor ihr nieder, und mit gesenktem Haupte bekannte ich unter Tränen, wie wenig ich verdiene, die Luft dieses goldenen Zeitalters zu atmen, und wie noch weit weniger ich wert sei, seine herrlichste Blume an meine Brust zu drücken. Glücklich jeder, der in einem so verzweifelten Fall wie dem meinen einen gleich gnädigen Richter findet.[264]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 244-265.
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