5. Kapitel

Vom Monopolkapitalismus zum Staatssozialismus

[44] Als im Laufe des Abends die Damen sich zurückgezogen und Doktor Leete und mich allein gelassen hatten, erkundigte sich dieser, ob ich Lust zum Schlafen hätte. Mein Bett erwarte mich, wenn ich müde sei, hätte ich jedoch Neigung, länger aufzubleiben, so wäre ihm nichts lieber, als mir Gesellschaft zu leisten. »Ich selbst bin ein Nachtvogel«, fügte mein Wirt hinzu, »und ohne mich der Schmeichelei verdächtig zu machen, kann ich wohl behaupten, daß man sich einen interessanteren Gesellschafter[44] als Sie kaum denken kann. Sicher hat man nicht oft Gelegenheit, sich mit einem Manne des neunzehnten Jahrhunderts zu unterhalten.«

Schon während des ganzen Abends hatte ich nicht ohne Bangen an den Augenblick gedacht, wo ich mich für die Nacht zurückziehen und allein sein würde. Ich hatte mein seelisches Gleichgewicht in der Gesellschaft dieser ungemein freundlichen Fremden zu bewahren vermocht, angeregt und unterstützt durch ihre Sympathie und ihr Interesse. Aber sogar in den Pausen unserer Unterhaltung hatte mich grell wie ein Blitz das Vorgefühl des Grauens durchzuckt, das mich erwartete, sobald ich keine Ablenkung mehr haben würde. Ich wußte im voraus, daß ich in der bevorstehenden Nacht kein Auge schließen könnte, und wenn ich bekenne, daß ich mich vor dem Wachliegen und Nachdenken fürchtete, so beweist dies meiner Ansicht nach noch lange keine Feigheit. Ich teilte das meinem Wirt in Erwiderung seiner Frage offen mit. Er meinte darauf, es würde höchst unnatürlich sein, wenn mir anders zumute wäre. Was jedoch meine Schlaflosigkeit anbeträfe, so möge ich mich nicht sorgen. Sobald ich zu Bett zu gehen wünsche, werde er mir ein Mittel geben, das unfehlbar einen gesunden Schlaf bewirke. Am nächsten Morgen würde ich dann sicherlich so ruhig erwachen, als ob ich schon seit langem ein Bürger der neuen Welt sei.

»Ehe das möglich ist«, erwiderte ich, »muß ich etwas mehr von dem Boston wissen, in dem ich auferstanden bin. Als wir uns vorhin auf dem Dache des Hauses befanden, sagten Sie mir, daß das Jahrhundert seit meinem Einschlafen durch größere Veränderungen der menschlichen Gesellschaft gekennzeichnet sei als manches vorangegangene Jahrtausend. Angesichts der Stadt, die sich zu meinen Füßen ausdehnte, könnte ich das wohl glauben. Allein ich bin begierig, etwas von der Art dieser Veränderungen zu erfahren. Um mit irgend etwas den Anfang zu machen – denn das Thema ist jedenfalls umfassend und ergiebig –, welche Lösung haben Sie für die Arbeiterfrage gefunden, falls Sie überhaupt eine solche gefunden haben? Die Arbeiterfrage war im neunzehnten Jahrhundert das Rätsel der Sphinx, und als ich verschwand, drohte die Sphinx die Gesellschaft zu verschlingen, weil diese keine Antwort fand. Es ist schon der Mühe wert, hundert Jahre geschlafen zu haben, um die rechte Antwort zu[45] erfahren, wenn diese tatsächlich im zwanzigsten Jahrhundert gefunden worden sein sollte.«

»Heutzutage«, antwortete Doktor Leete, »ist nichts dergleichen wie eine Arbeiterfrage bekannt, und es ist unmöglich, daß eine solche je wieder auftaucht. Wir können also, meine ich, Anspruch darauf erheben, diese Frage gelöst zu haben. Die Gesellschaft würde tatsächlich mit Fug und Recht verdient haben, verschlungen zu werden, wenn sie ein so einfaches Rätsel nicht hätte lösen können. Überhaupt hatte es die Gesellschaft in Wirklichkeit gar nicht nötig, das Rätsel zu lösen: es löste sich selbst. Seine Lösung war das Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung, die gar nicht anders enden konnte, als wie sie geendet hat. Die Gesellschaft hatte weiter nichts zu tun, als diese Entwicklung anzuerkennen und zu unterstützen, sobald ihre Richtung und ihr Ziel nicht mehr zu verkennen waren.«

»Ich kann nur sagen«, antwortete ich, »daß zur Zeit, wo ich mich schlafen legte, eine derartige Entwicklung nicht erkannt wurde.«

»Es war im Jahre 1887, sagten Sie, als Sie in Ihren Schlaf verfielen?«

»Gewiß, am 30. Mai 1887.«

Mein Gefährte schaute mich einige Augenblicke lang sinnend an und bemerkte dann: »Und Sie sagen mir, daß sogar damals die Natur der Krise nicht allgemein erkannt wurde, der die Gesellschaft entgegenging! Natürlich schenke ich Ihrer Behauptung vollen Glauben. Viele unserer Geschichtsschreiber haben die Erscheinung erörtert, daß die Leute Ihrer Tage mit einer eigentümlichen Blindheit für die Zeichen der Zeit geschlagen waren. Allein wenig geschichtliche Tatsachen sind heute für uns schwerer zu begreifen als eben diese Blindheit. Ein Rückblick auf Ihre Zeit läßt die Anzeichen der bevorstehenden gesellschaftlichen Umwälzung so klar und unzweideutig hervortreten, daß uns scheint, sie müßten auch von Ihren Zeitgenossen erkannt worden sein. Es würde mich sehr interessieren, Herr West, wenn Sie mir eine etwas bestimmtere Vorstellung davon geben wollten, wie Sie und andere Gebildeten im Jahre 1887 über die Gesellschaftsordnung und ihre Zukunft dachten. Überall traten damals wirtschaftliche und soziale Unruhen auf, in denen die Unzufriedenheit aller Bevölkerungsklassen mit den gesellschaftlichen Mißständen ihren[46] Ausdruck fand, und die das allgemeine Elend der Menschheit kündeten. Ihre Zeitgenossen müssen wenigstens klar erkannt haben, daß diese Tatsachen die Vorboten irgendwelcher großen Umwandlungen waren.«

»Das erkannten wir in der Tat ganz klar«, erwiderte ich. »Wir fühlten, daß die Gesellschaft ihren Anker verlor und in Gefahr stand, ein Spiel der Wellen zu werden. Wohin sie treiben würde, vermochte niemand zu sagen, aber alle fürchteten die Klippen.«

»Nichtsdestoweniger«, versetzte Doktor Leete, »wäre die Richtung der Strömung vollkommen deutlich zu erkennen gewesen, wenn man sich nur die Mühe genommen hätte, sie zu beobachten. Übrigens trieb die Strömung die Gesellschaft nicht auf Klippen, sondern in tieferes Fahrwasser.«

»Zu meiner Zeit«, entgegnete ich, »sagte ein volkstümliches Sprichwort, daß die Herren am klügsten sind, wenn sie vom Rathaus kommen. Jetzt werde ich zweifellos die Wahrheit dieses Spruches besser denn je zuvor verstehen. Als ich mich zu meinem langen Schlafe niederlegte, sah ich die Zukunft der Gesellschaft in so düsterem Lichte, daß ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn ich heute vom Dache Ihres Hauses auf ein wüstes, moosbewachsenes Trümmerfeld herabgeblickt hätte und nicht auf diese herrliche Stadt.«

Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte mir Doktor Leete zugehört. Als ich zu sprechen aufhörte, nickte er nachdenklich vor sich hin.

»Was Sie da soeben gesagt haben«, bemerkte er, »muß als eine höchst wertvolle Rechtfertigung Storiots gewürdigt werden. In seiner Geschichte Ihres Zeitalters hat er eine Schilderung der hoffnungsarmen und wirren Ideen gegeben, die damals vorherrschend gewesen sein sollen. Man hielt diese Schilderung gewöhnlich für übertrieben. Daß eine Übergangszeit wie die damalige voll von Aufregung und Besorgnissen sein mußte, war übrigens in der Tat zu erwarten. Da jedoch die Tendenz der wirkenden Kräfte klar zutage trat, so hätte man glauben sollen, daß eher Hoffnung als Furcht die Gemüter beherrscht hätte.«

»Sie haben mir noch, nicht gesagt, welche Antwort Sie auf das Rätsel gefunden haben«, erinnerte ich. »Ich brenne darauf zu hören, wie die natürliche Entwicklung die Dinge gleichsam auf den Kopf gestellt hat,[47] so daß sie in meiner Zeit und trotzdem im Gegensatz zu ihr den Frieden und Wohlstand vorbereitete, deren Sie sich jetzt zu erfreuen scheinen.«

»Entschuldigen Sie«, versetzte mein Wirt, »rauchen Sie vielleicht?« Erst nachdem unsere Zigarren angezündet waren und gut zogen, fuhr er fort: »Sie sind wie ich selbst sicher mehr zum Reden als zum Schlafen aufgelegt. Da kann ich vielleicht nichts Besseres tun, als zu versuchen, Ihnen von der heutigen Wirtschaftsordnung eine Vorstellung zu geben, die wenigstens den Eindruck verscheucht, als ob diesem Entwicklungsprozeß etwas ganz Geheimnisvolles anhafte. Die Bostoner Ihrer Tage standen im Rufe, große Frager zu sein. Ich will mich meiner Abkunft würdig zeigen, indem ich mit einer Frage an Sie beginne. Was würden Sie wohl als den hervorstechendsten Zug der Arbeiterunruhen in Ihrer Zeit bezeichnen?«

»Nun, die furchtbaren Streiks natürlich«, erwiderte ich.

»Das stimmt; aber was machte die Streiks so furchtbar?«

»Die großen Arbeiterorganisationen.«

»Und weshalb entstanden diese großen Arbeiterorganisationen?«

»Die Arbeiter erklärten es für notwendig, sich zu organisieren, um den großen Betriebsgesellschaften gegenüber zu ihrem Rechte zu kommen«, erwiderte ich.

»Das trifft zu«, sagte Doktor Leete. »Arbeiterorganisationen und Streiks waren lediglich eine Folge der Konzentration des Kapitals, das sich in größerem Maße als je zuvor aufgehäuft hatte. Ehe diese Konzentration begann, hatte der einzelne Arbeiter dem Unternehmer gegenüber eine verhältnismäßig wichtige und unabhängige Stellung. Das dauerte so lange, als Handel und Industrie von unzähligen kleinen Geschäften mit kleinem Kapital betrieben wurden statt von einer kleinen Anzahl großer Unternehmungen mit großem Kapital. Ein kleines Kapital oder eine neue Idee reichten aus, daß jemand ein eigenes Geschäft gründen konnte. Daher verwandelten sich beständig Arbeiter in Unternehmer, es gab also keine scharfe und unverrückbare Grenze zwischen den beiden Klassen. Arbeitervereinigungen waren damals unnötig, und von Streiks hörte man nicht einmal dem Namen nach. Dann wurde das Zeitalter der zahlreichen Kleinbetriebe mit kleinem Kapital durch das der großen Kapitalanhäufungen[48] abgelöst. Nun vollzog sich in den angedeuteten Beziehungen ein vollständiger Umschwung. Der einzelne Arbeiter war für den kleinen Unternehmer verhältnismäßig wichtig gewesen; für das große Unternehmertum ward er dagegen zu einem Bedeutungs- und Machtlosen. Gleichzeitig verlegten ihm die Verhältnisse den Weg aufwärts, zur Stellung des Unternehmers. So trieb die Notwehr den Arbeiter, sich mit seinen Genossen zu vereinigen.

Die Berichte aus jener Zeit beweisen, daß sich ein furchtbarer Schrei der Empörung gegen die Konzentration des Kapitals erhob. Man glaubte, daß sie die Gesellschaft mit einer entsetzlicheren Tyrannei bedrohte, als diese je zuvor erduldet hatte. Man meinte, daß die großen Betriebsgesellschaften die Menschheit unter das Joch einer schlimmeren Knechtschaft zwingen würden, als ihr jemals früher auferlegt worden war. Diese Knechtschaft hätte die Menschen in seelenlose Maschinen verwandelt, hätte sie Wirtschaftsgebilden untertan gemacht, die von nichts bewegt worden wären als von unersättlicher Gier nach Profit. Wenn wir auf das neunzehnte Jahrhundert zurückblicken, so kann uns die damals herrschende Verzweiflung wahrhaftig nicht wundern. Nie drohte der Menschheit ein elenderes und entsetzlicheres Geschick, als wie es die gefürchtete Gewaltherrschaft des zusammengeschlossenen großen Unternehmertums über sie gebracht haben würde.

Trotz aller Klagen und Proteste nahm inzwischen die Aufsaugung der Betriebe durch immer umfassendere kapitalistische Organisationen ungehindert ihren Fortgang. Diese Organisationen monopolisierten ganze große Wirtschaftsgebiete. In den Vereinigten Staaten war die gekennzeichnete Entwicklung weiter fortgeschritten als in Europa. Hier hatte sie es bereits im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts schlechterdings unmöglich gemacht, daß in irgendeinem wichtigen Industriezweig das Unternehmen eines einzelnen gedeihen konnte, wenn nicht ein mächtiges Kapital dahinterstand. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts waren die noch vorhandenen Kleinbetriebe rasch zugrunde gehende Überreste einer vergangenen Zeit oder bloße Anhängsel der großen Unternehmungen oder aber sie existierten in Industriezweigen, die zu unbedeutend waren, um die großen Kapitalisten anzuziehen. Soweit sich die Kleinbetriebe[49] noch hielten, waren sie gleich übel daran wie die Ratten und Mäuse, die sich in Löcher und Winkel verkriechen und ungesehen zu bleiben suchen, um nur ihr Dasein zu fristen. Die Eisenbahnen waren mehr und mehr vereinigt worden, bis schließlich einige wenige Gesellschaften mit Riesenvermögen jede Schiene im Lande in ihrer Hand hatten. Auch in der Industrie ward jeder bedeutendere Produktionszweig von einem einzigen Ring oder Syndikat beherrscht. Diese Syndikate, Ringe, Trusts oder wie sie sonst immer heißen mochten, setzten die Preise der Waren fest und erdrückten alle Konkurrenz. Ihrem Wüten ward nur ein Ziel gesetzt, wenn sie auf Vereinigungen stießen, die ebenso riesenhaft waren wie sie selbst. Dann kam es zu einem Kampf, der mit einer noch größeren Konzentration des Kapitals endete. Das große Warenhaus in der Stadt vernichtete durch Zweiggeschäfte seine Konkurrenten auf dem Lande und verschlang in der Stadt selbst die kleineren Geschäfte, bis der Handel eines ganzen Viertels in einem einzigen Hause konzentriert war, wo Hunderte früher selbständiger Kaufleute als Angestellte dienten. Da es den kleinen Kapitalisten unmöglich war, ihr Vermögen in ein eigenes Geschäft zu stecken, so konnten sie nichts Besseres tun, als ihr Geld in den Aktien der großen Gesellschaft anzulegen, deren Angestellte sie wurden. So waren sie doppelt abhängig von ihr.

Daß der verzweifelte Widerstand des Volkes die Konzentration der Betriebe in wenigen mächtigen Händen nicht aufzuhalten vermochte, ist eine Tatsache, die jedenfalls für eines spricht. Diese Erscheinung mußte starke, unwiderstehliche wirtschaftliche Ursachen haben. Und so war es. Die kleinen Kapitalisten hatten in der Tat dem Großkapital darum das Feld räumen müssen, weil in ihren unzähligen zwerghaften Unternehmungen noch die unvollkommenen Arbeitsmittel, die rückständigen Betriebsweisen der Vergangenheit herrschten. Sie konnten sich unmöglich den Aufgaben gewachsen zeigen, die das Zeitalter des Dampfes, des Telegraphen und der Riesenunternehmungen stellte. Wenn es möglich gewesen wäre, die alte Ordnung der Dinge wiederherzustellen, so würde dies darauf hinausgelaufen sein, wieder zu den Tagen der Postkutsche zurückzukehren. Wie drückend und unerträglich die Herrschaft des großen Kapitals auch lastete, so mußten doch selbst seine Opfer unter Flüchen[50] dieses anerkennen: dank der Konzentration des Kapitals war die Leistungsfähigkeit der nationalen Wirtschaft wunderbar gestiegen; dank des konzentrierten Betriebs und der einheitlichen Leitung wurden bedeutende Ersparnisse erzielt. Sie mußten eingestehen, daß der Reichtum der Welt sich in ungeahntem Maße vermehrt hatte, seitdem die neue Wirtschaftsweise an die Stelle der alten getreten war. Gewiß, das riesige Anwachsen des allgemeinen Reichtums hatte in der Hauptsache nur die Reichen noch reicher gemacht und die Kluft zwischen ihnen und den Armen erweitert. Aber trotzdem stand diese Tatsache an sich unumstößlich fest: lediglich als Mittel betrachtet, Reichtum zu schaffen, hatte sich das Kapital als um so leistungsfähiger erwiesen, je mehr es sich in immer wenigeren Händen zusammenballte. Wäre eine Rückkehr zu der alten Wirtschaftsweise mit der ihr eigentümlichen Zersplitterung des Kapitals möglich gewesen, so würde vielleicht eine größere gesellschaftliche Gleichheit hergestellt worden sein, das Leben des einzelnen hätte an persönlicher Würde und Freiheit gewonnen. Allein die allgemeine Armut und der Stillstand jedes materiellen Fortschritts wären der Preis dafür gewesen.

Gab es denn aber keine Möglichkeit, den Menschen das mächtig wirkende Prinzip des konzentrierten Kapitals, die Quelle märchenhaften Reichtums, dienstbar zu machen, ohne sie gleichzeitig einer Plutokratie wie der Karthagos zu unterwerfen? Sobald die Menschen begannen, sich diese Frage vorzulegen, fanden sie auch eine fertige Antwort. Die wirtschaftliche Entwicklung, die zur Zusammenlegung der Betriebe führte, hinter denen immer gewaltigere Kapitalanhäufungen standen; sie, die jene Monopole schuf, denen man sich so verzweifelt und vergeblich entgegengestemmt hatte, wurde endlich in ihrem wahren Wesen erkannt. Nämlich als ein Vorgang, der nur seinen natürlichen Abschluß zu finden brauchte, um der Menschheit das Tor zu einer goldenen Zukunft zu öffnen.

Zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war dieser Entwicklungsgang vollendet. Die Konzentration des gesamten Reichtums der Nation war schließlich Tatsache geworden. Die Industrie und der Handel des Landes wurden nicht länger von einer Gruppe von Aktiengesellschaften und Trusts beherrscht, die aus unverantwortlichen Privatpersonen bestanden, und für die nichts als die persönliche Laune und der persönliche Vorteil[51] einiger weniger maßgebend waren. Ihre Leitung war vielmehr einem Ausschuß anvertraut worden, der das ganze Volk vertrat und sie im Interesse und zum Nutzen aller führte. Die Nation organisierte sich zu einem einzigen Riesenbetrieb, in dem alle anderen Betriebe aufgingen; sie trat als einziger Kapitalist an die Stelle aller anderen Kapitalisten; sie wurde der einzige Unternehmer, der letzte Monopolist, der alle früheren und kleineren Monopole verschlang, ein Monopolist, dessen Gewinne und Ersparnisse allen Bürgern zugute kamen. Mit einem Wort: das Volk der Vereinigten Staaten beschloß, die Leitung seines Wirtschaftslebens selbst in die Hand zu nehmen, genau so, wie es hundert und etliche Jahre zuvor den Beschluß gefaßt hatte, seine Regierung selbst zu führen. Es organisierte sich jetzt zu wirtschaftlichen Zwecken auf derselben Grundlage, auf der es sich damals zu politischen Zwecken organisiert hatte. Endlich, und zwar merkwürdig spät, begriff man die so klare Tatsache, daß nichts ihrem Wesen nach so ganz die Sache des Staates ist als die Gütererzeugung und Güterverteilung, von der der Lebensunterhalt des Volkes abhängt. Das Wirtschaftsleben der Nation Privatpersonen anvertrauen, die ihren Privatvorteil daraus ziehen wollen, ist eine Torheit. Sie ähnelt der anderen, sich politisch von Königen und Adligen regieren zu lassen, die nur an ihren persönlichen Ruhm denken, aber wahrhaftig: sie ist eine noch größere Narrheit.«

»Ein so erstaunlicher Umschwung, wie Sie ihn beschreiben«, sagte ich, »konnte sich natürlich nicht ohne großes Blutvergießen und schreckliche Erschütterungen der Gesellschaft vollziehen.«

»Im Gegenteil«, versetzte Doktor Leete, »es kam dabei nicht zur geringsten Gewalttat. Der Umschwung war seit langem vorausgesehen worden. Die öffentliche Meinung war durchaus reif, seine Notwendigkeit zu begreifen, und die Masse des ganzen Volkes forderte ihn. Weder durch Gewalt noch durch Gegengründe ließ er sich aufhalten. Andererseits beurteilte das Volk die großen Betriebsgemeinschaften und ihre Mitglieder nun ohne Bitterkeit. Es sah ein, daß die Existenz dieser Wirtschaftsgebilde ein notwendiges Bindeglied, eine unvermeidliche Übergangsstufe[52] in dem Entwicklungsgang zu einer Wirtschaftsordnung gewesen war, die in Wahrheit diesen Namen verdiente. Die heftigsten Gegner der großen Privatmonopole waren nun gezwungen, die von diesen geleisteten unschätzbaren und unentbehrlichen Dienste anzuerkennen. Dank ihnen war das Volk so weit erzogen worden, daß es die Leitung seines Wirtschaftslebens jetzt selbst in die Hand nehmen konnte. Kaum fünfzig Jahre früher würde eine Konzentration sämtlicher Betriebe des Landes unter der Kontrolle der Nation auch dem größten Sanguiniker als ein höchst gewagter Versuch erschienen sein. Allein die großen Betriebsgesellschaften hatten neue Ideen gelehrt. Sie waren ein großer, fruchtbarer Anschauungsunterricht, der sich an alle wandte. Jahrelang hatte die Masse gesehen, wie einzelne Trusts Einkünfte verwalteten, größer als die manches Staates; wie sie die Tätigkeit von Hunderttausenden von Menschen mit einem Erfolg und einer Sparsamkeit leiteten, die die kleineren Betriebe nie nachzuahmen vermochten. Es war als eine unumstößliche Wahrheit anerkannt worden, daß je größer der Betrieb ist, um so einfacher die ihn regelnden Grundsätze seien; daß gleich wie die Maschine zuverlässiger ist als die Hand, so auch eine konsequent durchgeführte Ordnung in der gesellschaftlichen Wirtschaft die sichersten Ergebnisse verbürge. Sie spielt beim Großbetrieb die nämliche Rolle wie das Auge des Herrn im Kleinbetrieb. So kam es, daß sogar den bedächtigsten und ängstlichsten Gemütern der Vorschlag durchaus nicht als undurchführbar erschien, die gesamte Nation möge die Funktionen der großen kapitalistischen Wirtschaftsorganisationen übernehmen. Diese Organisationen selbst hatten die Durchführbarkeit des Vorschlags erwiesen. Sicherlich bedeutete der Entschluß des Volkes eine weiterreichende Vergesellschaftung, als man sie je zuvor durchgeführt hatte. Der Schritt nach vorwärts war größer als jeder andere vor ihm. Da aber die Nation die einzige existierende Betriebsgesellschaft wurde, so waren alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt, mit denen die einzelnen Privatunternehmungen zu kämpfen gehabt hatten.«[53]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 44-54.
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