7. Kapitel

Berufsausbildung und Berufswahl

[58] »Nachdem Sie Ihre Arbeitsarmee ausgehoben haben«, sagte ich, »muß meines Erachtens die Hauptschwierigkeit beginnen, denn dann hört die Ähnlichkeit mit der Militärarmee auf. Alle Soldaten haben das nämliche zu tun, und zwar etwas höchst Einfaches: sich im Gebrauch der Waffen zu üben, zu marschieren und Wache zu stehen. Im Arbeitsheer dagegen müssen zwei- bis dreihundert verschiedene Handwerke und Berufsarten gelernt und ausgeübt werden. Welches Verwaltungstalent wäre wohl weise genug, darüber zu entscheiden, welchen Beruf jedes einzelne Mitglied einer großen Nation betreiben soll?«

»Die Verwaltung hat mit der Entscheidung darüber gar nichts zu tun.«

»Wer entscheidet denn?«

»Jeder einzelne entscheidet die Frage für sich selbst, je nach seinen natürlichen Anlagen und Neigungen. Damit jedermann darüber im klaren sei, gibt man sich die allererdenklichste Mühe, herauszufinden, welches in Wirklichkeit die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten des einzelnen sind. Unser Arbeitsheer ist nämlich nach diesem Grundsatz organisiert: die natürliche Veranlagung jedes Menschen, sowohl die körperliche wie die geistige, muß darüber entscheiden, welchen Beruf er zum größtmöglichen Nutzen für die Nation und zu seiner eigenen Befriedigung ausüben kann. Niemand kann sich der allgemeinen Arbeitspflicht überhaupt entziehen, welche besondere Art der Arbeit aber ein jeder verrichten wird, das hängt von seiner eigenen freien Wahl ab, die nur in den Grenzen des Notwendigen geregelt ist. Es ist von äußerster Wichtigkeit für die Zufriedenheit eines Menschen, daß er während der Zeit seiner Arbeitspflicht einen Beruf ausübt, der seinen Neigungen entspricht. Daher achten Eltern[58] und Lehrer von den ersten Jahren der Kinder an auf jedes Anzeichen besonderer Anlagen. Das eingehende Studium unserer Wirtschaftsordnung und ihrer Geschichte bildet in der Folge auch einen wichtigen Teil unserer Jugenderziehung, ebenso die Einführung in die Anfangsgründe aller bedeutenden Gewerbe. Eigentlicher gewerblicher Berufsunterricht wird in den Schulen nicht erteilt; sie streben eine allgemeine geistige und wissenschaftliche Ausbildung an. Jedoch lernt unsere Jugend die großen Zweige des nationalen Wirtschaftslebens nicht nur theoretisch aus Büchern kennen. Sie wird vertraut gemacht mit den Werkzeugen und Arbeitsverfahren, die in verschiedenen wichtigen Gewerben zur Anwendung kommen. Besuche der Schüler in unseren Werkstätten dienen diesem Zwecke und Ausflüge, die mit gewissen Gebieten unseres Wirtschaftslebens oder bestimmten Unternehmungen bekannt machen. Zu Ihrer Zeit hatte sich niemand zu schämen, wenn er von allen Berufen durchaus nichts verstand, seinen eigenen ausgenommen. Heute würde solche Unwissenheit sich nicht mit der Auffassung vertragen, daß es jedermann möglich sein solle, sich mit klarem Bewußtsein für die Beschäftigung zu entscheiden, auf die ihn Fähigkeit und Neigung hinweisen. Lange ehe der junge Mann zur Arbeitspflicht herangezogen wird, hat er sich gewöhnlich schon für einen Beruf entschieden, besitzt eine gewisse Kenntnis davon und wartet mit Ungeduld darauf, in das Arbeitsheer eingereiht zu werden. Es kommt jedoch auch vor, daß jemand keine besondere Neigung für einen bestimmten Beruf zeigt und keine Wahl trifft. Diesem wird dann irgendeine jener Beschäftigungen zugewiesen, die keinen bestimmten Charakter tragen, keine besonderen beruflichen Vorkenntnisse erfordern, und in denen es gerade für den Augenblick an Leuten mangelt.«

»Gewiß«, sagte ich, »trifft es sich kaum je, daß die Anzahl der Freiwilligen, die sich für ein Gewerbe melden, genau der Menge der Arbeitskräfte entspricht, die erforderlich sind. In der Regel muß sie hinter der Nachfrage Zurückbleiben oder sie übersteigen.«

»Im allgemeinen nimmt man an, daß das Angebot von Freiwilligen der Nachfrage nach Arbeitskräften durchaus das Gleichgewicht hält«, entgegnete Doktor Leete. »Übrigens ist es Sache der Verwaltung, darüber zu wachen, daß dies der Fall sei. Man verfolgt sorgfältig die Zahl[59] der Freiwilligen, die sich für jeden Beruf stellen. Wenn sich in einem Gewerbe ein ganz bedeutender Überschuß der sich Meldenden über die erforderlichen Arbeitskräfte ergibt, so schließt man daraus, daß es eine größere Anziehungskraft besitzen muß als irgendein anderer Beruf. Umgekehrt, wenn das Angebot von Freiwilligen für ein Gewerbe die Neigung zeigt, hinter der Nachfrage nach Arbeitskräften zurückzubleiben, so folgert man, daß dort die Arbeit recht anstrengend sei. Soweit die Anziehungskraft der Berufe von den Arbeitsbedingungen abhängt, ist es die Aufgabe der Verwaltung, dafür zu sorgen, daß möglichstes Gleichgewicht zwischen allen Gewerben herrscht. Alle Berufe sollen gleich anziehend für Leute sein, die eine natürliche Neigung für sie empfinden. Das Gleichgewicht in der Anziehungskraft wird dadurch hergestellt, daß sich die Länge der Arbeitszeit in den verschiedenen Gewerben nach der Schwere der Arbeit richtet. So haben die leichteren Berufe, die unter den angenehmsten Bedingungen ausgeübt werden, die längste Arbeitszeit; für schwere Berufsarten dagegen, wie zum Beispiel für den Bergbau, ist die Arbeitszeit nur kurz. Keine Theorie, keine im voraus festgesetzte Regel bestimmt die Anziehungskraft der Berufe. Wenn die Verwaltung einer Art von Arbeitern Lasten abnimmt und sie anderen auferlegt, so folgt sie damit nur den Schwankungen in der Meinung der Arbeiter selbst, wie sie sich in dem Angebot von Freiwilligen äußern. Als Grundsatz gilt, daß alles in allem genommen für niemand eine bestimmte Arbeit schwerer sein soll, als es irgendeine andere Arbeit für jemand anders ist, und daß in dieser Frage die Arbeiter selbst das entscheidende Wort zu sprechen haben. Diese Regel hat uneingeschränkte Geltung. Wenn zum Beispiel eine bestimmte Beschäftigung ihrer Natur nach so anstrengend und drückend wäre, daß man nur Freiwillige für sie gewinnen könnte, indem man das geforderte Tagewerk auf zehn Minuten herabsetzte, so würde dies geschehen. Sollte aber auch dann niemand willens sein, die Arbeit zu verrichten, so würde sie unterbleiben. Tatsächlich reicht jedoch eine mäßige Herabsetzung der Arbeitszeit oder die Gewährung anderer Vorteile hin, für jede der Gesellschaft notwendige Arbeit die erforderliche Anzahl von Freiwilligen zu sichern. Nehmen wir jedoch an, die unvermeidlichen Schwierigkeiten und Gefahren solch einer notwendigen Arbeit[60] seien wirklich so groß, daß auch die Aussicht auf ausgleichende Vorteile die Abneigung gegen sie nicht zu überwinden vermöchte. In diesem Falle brauchte die Verwaltung sie nur aus der Reihe der gewöhnlichen Beschäftigungen herauszuheben, indem sie erklärt, daß diese Arbeit ›ein besonderes Wagnis‹ bedeutet, und daß jeder, der sich ihr unterzieht, ›der nationalen Dankbarkeit besonders würdig sei‹. Sie kann dann sicher sein, daß sie von Freiwilligen überlaufen wird. Unsere jungen Leute sind sehr ehrgeizig und lassen sich keine solche Gelegenheit entgehen, um sich auszuzeichnen. Natürlich werden Sie begreifen, daß die Abhängigkeit des Wirtschaftslebens von völlig freier Berufswahl eine Voraussetzung hat: die Beseitigung aller irgendwie gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen und jeder Gefahr für Leib und Leben. Kein Betrieb darf die Gesundheit oder Sicherheit der in ihm beschäftigten Personen bedrohen. Die Nation will ihre Arbeiter nicht zu Tausenden verstümmeln und hinschlachten, wie dies die Einzelkapitalisten und Aktiengesellschaften Ihrer Zeit taten.«

»Wenn nun aber mehr Personen einen gewissen Beruf ergreifen wollen, als in ihm beschäftigt werden können! Wie entscheidet man dann zwischen den Bewerbern?« erkundigte ich mich.

»Man gibt dann denen den Vorzug, die für diesen Beruf am begabtesten und besten vorgebildet erscheinen. Man urteilt darüber nach, den seitherigen Arbeitsleistungen der Bewerber und nach dem, was sie in der Jugend gelernt haben. Die Möglichkeit jedoch, auf einem bestimmten Gebiet zu zeigen, was man leisten kann, bleibt auf die Dauer niemand verschlossen, der jahrelang auf seinem Wunsch beharrt. Außerdem besitzt wohl jedermann auch noch für den einen oder anderen Beruf etwas Neigung und eine gewisse, wenn auch nicht die höchste Begabung. Er findet daher sicherlich ein zusagendes Tätigkeitsgebiet, bis er den Beruf ausüben kann, den er allen anderen vorzieht. Man hält es für selbstverständlich, daß jedermann seine sämtlichen Anlagen ausbildet, damit er nicht nur zur Arbeit in einem einzigen Beruf geschickt sei, sondern in zwei oder drei verschiedenen Fächern tätig zu sein vermöge. So kann er auch dann noch eine ihm verhältnismäßig zusagende Beschäftigung finden, wenn es vorkommen sollte, daß er sich schon im Beginn seiner Laufbahn[61] oder auch späterhin als unfähig erwiese, seinen erstgewählten Beruf auszuüben. Ich sage: auch späterhin, weil mit Fortschritten, mit Erfindungen sich die Anforderungen steigern können, die ein Beruf stellt. Für unsere Wirtschaftsordnung ist der Grundsatz von großer Wichtigkeit, daß ein Beruf an zweiter Stelle gewählt und ausgeübt werden kann. Ich muß noch eins hinzufügen. Wohl verläßt sich die Verwaltung in der Regel auf die Berufswahl, um die verschiedenen Tätigkeitsgebiete mit Arbeitskräften zu versorgen. Sobald jedoch in einem bestimmten Beruf plötzlich Mangel an Freiwilligen eintritt oder eine bedeutende Steigerung der Arbeitsleistungen notwendig wird, so steht ihr im Notfall das Recht zu, besondere Freiwillige einzuberufen oder aus anderen Berufen Leute heranzuziehen. Allein im allgemeinen kann jeder derartige Beruf durch Berufung von Arbeitskräften aus der Klasse der ungelernten oder gewöhnlichen Arbeiter gedeckt werden.«

»Wie rekrutiert sich diese Klasse der gewöhnlichen Arbeiter?« fragte ich. »Sicherlich tritt niemand freiwillig in sie ein.«

»Sämtliche Arbeitsrekruten gehören während der drei ersten Jahre ihrer Dienstzeit zur Klasse der ungelernten Arbeiter. Die jungen Leute dürfen erst einen bestimmten Beruf erwählen, nachdem diese Zeit um ist, während der sie jede Arbeit verrichten müssen, die ihnen von den Vorgesetzten zugewiesen wird. Niemand kann sich der dreijährigen ernsten Zucht entziehen, und unsere jungen Leute freuen sich ungemein, wenn sie aus dieser strengen Schule in die größere Freiheit des selbsterwählten Berufs treten. Sollte aber jemand so stumpfsinnig sein, daß er für keinen Beruf eine ausgesprochene Neigung zeigt, so bleibt er einfach ein gewöhnlicher Arbeiter. Wie Sie wohl denken, kommen jedoch derartige Fälle nicht oft vor.«

»Wenn man schon einen Beruf erwählt hat und in ihm tätig ist«, fragte ich weiter, »so muß man ihn wohl zeitlebens ausüben?«

»Das ist durchaus nicht nötig«, erwiderte Doktor Leete. »Gewiß wird nicht zu einem häufigen und launenhaften Berufswechsel ermutigt, ja ein solcher ist nicht einmal gestattet. Doch unter gewissen Bedingungen und unter Berücksichtigung der jeweiligen Interessen der gesamten Nation steht es jedem frei, zu einem Beruf überzugehen, für den er sich befähigter[62] hält als für den zuerst gewählten. Geschieht dies, so gelten für seine Bewerbung die nämlichen Bedingungen wie für eine erstmalige Berufswahl. Unter gewissen Bedingungen und nicht allzuoft wird auch einem Arbeiter gestattet, seinem Beruf in einem anderen Landesteil nachzugehen, wenn er den Wunsch nach einer solchen Versetzung äußert. Unter der Wirtschaftsordnung des neunzehnten Jahrhunderts konnte allerdings ein unzufriedener Arbeiter seine Beschäftigung nach Belieben aufgeben. Allein tat er das, so gab er damit auch seinen Unterhalt auf und setzte seine Zukunft aufs Spiel. Wir machen die Beobachtung, daß die Zahl der Leute recht gering ist, die eine gewohnte Beschäftigung gegen eine neue austauschen wollen oder alte Freunde und Kameraden durch neue zu ersetzen wünschen. Nur die schlechteren Arbeiter verlangen einen solchen Wechsel, so oft ihn die Vorschriften gestatten. Natürlich werden jederzeit Versetzungen und Entlassungen aus der Arbeit bewilligt, die der Gesundheitszustand nötig macht.«

»Für das Wirtschaftsleben muß sich Ihr System meines Erachtens außerordentlich bewähren«, sagte ich. »Allein inwiefern berücksichtigt es die liberalen Berufe, die Leute, die der Nation mit dem Hirn statt mit der Hand dienen? Und ohne die Kopfarbeiter können Sie doch nicht auskommen. Wie werden nun diese aus den Reihen der Land- und Industriearbeiter ausgewählt? Ich sollte meinen, es müßte eine äußerst schwierige Aufgabe sein, in dieser Beziehung die Leute zu sichten und auszuwählen.«

»Das ist es auch«, entgegnete Doktor Leete. »Die Entscheidung kann hier nur nach sorgfältigster Prüfung fallen, und deshalb überlassen wir es jedem einzelnen selbst, darüber zu bestimmen, ob er mit dem Kopfe oder mit der Hand arbeiten will. Jeder muß zunächst die dreijährige Dienstzeit als gewöhnlicher Arbeiter leisten. Ist sie zu Ende, so kann er sich nach seinen natürlichen Anlagen und Neigungen entscheiden, ob er sich in einer Kunst oder einem gelehrten Beruf ausbilden oder in der Landwirtschaft oder Industrie tätig sein will. Wenn er meint, Besseres mit dem Gehirn als mit den Muskeln leisten zu können, so ist ihm jedmögliche Gelegenheit geboten, sich klar darüber zu werden, ob die vermeintliche Anlage tatsächlich vorhanden ist, und um sie auszubilden.[63] Wenn er wirklich befähigt ist, so kann er dann seinen Lebensberuf nach seinen Talenten wählen. Die Lehranstalten für Technik, Medizin, Bildhauerei, Malerei, Musik, Schauspielkunst, Geschichte und andere wissenschaftliche Gebiete stehen jederzeit bedingungslos allen offen, die sie besuchen wollen.«

»Sind diese Lehranstalten nicht von jungen Leuten überfüllt, die sich nur der Arbeitspflicht entziehen möchten?«

Doktor Leete lächelte überlegen vor sich hin.

»Ich versichere Sie«, sagte er, »daß der von Ihnen angedeutete Fall nicht vorkommt. Diese Anstalten sind nur für Zöglinge bestimmt, die besondere Anlagen für die dort gelehrten Gegenstände besitzen. Leute ohne diese ausgesprochenen Fähigkeiten würden es leichter finden, sogar die doppelte Anzahl Stunden in wirtschaftlichen Betrieben zu arbeiten, als den Versuch zu machen, die Lehranstalten zu absolvieren. Natürlich kommt es vor, daß junge Leute sich in gutem Glauben über ihre vermeintliche Begabung täuschen. Sobald sie jedoch einsehen, daß sie den Anforderungen der Lehranstalten nicht gewachsen sind, so verlassen sie diese und kehren zur Handarbeit zurück. Damit ist nicht etwa eine Einbuße an Achtung verknüpft. Im Interesse des allgemeinen Wohles werden alle ermutigt, etwa vorhandene Talente auszubilden. Das kann aber nur durch entsprechende Versuche geschehen, die ihr Vorhandensein beweisen. Die Kunst- und Gelehrtenschulen Ihrer Zeit waren für ihr Bestehen davon abhängig, daß sie von vielen Schülern besucht wurden. In der Folge scheint es allgemeiner Brauch gewesen zu sein, Zeugnisse auch Unbefähigten zu erteilen, die dann irgendeinen liberalen Beruf ausübten. Unsere Lehranstalten sind dagegen Nationalinstitute, und ihre Prüfung bestanden zu haben, ist der Nachweis einer ausgesprochenen, unzweifelhaften Befähigung für den betreffenden Beruf. Die Gelegenheit, sich in einem gelehrten oder künstlerischen Beruf auszubilden«, fuhr der Doktor fort, »steht jedem bis zum Alter von fünfunddreißig Jahren offen. Ältere Studierende werden nicht mehr aufgenommen, da andernfalls der Zeitraum zu kurz würde, in dem sie der Nation durch Ausübung ihres Berufs nützen könnten. Sie dürfen nicht vergessen, daß bei uns mit dem erreichten fünfundvierzigsten Jahre die allgemeine Arbeitspflicht ein Ende[64] hat. Zu Ihrer Zeit mußten die jungen Leute sich schon sehr früh für eine Beschäftigung entscheiden, daher verfehlten sie ungemein oft ihren Beruf ganz und gar. Heutzutage sieht man jedoch ein, daß sich die natürlichen Fähigkeiten bei diesem schnell, bei jenem aber langsam entwickeln. Deshalb kann die Wahl eines Berufs zwar schon mit vierundzwanzig Jahren stattfinden, unter Umständen aber auch erst später und bis zum fünfunddreißigsten Jahre. Ich muß hinzufügen, daß bis zu demselben Alter jedermann auch das Recht zusteht, einen zuerst gewählten Beruf mit einem anderen zu vertauschen, den er später vielleicht vorzieht.«

Endlich kam ich dazu, eine Frage auszusprechen, die mir schon ein dutzendmal auf den Lippen geschwebt hatte. Sie betraf den Punkt, der zu meiner Zeit als der schwierigste für die endgültige Lösung des wirtschaftlichen Problems angesehen worden war. »Es ist höchst merkwürdig«, sagte ich, »daß Sie bis jetzt noch mit keinem Worte erwähnten, auf welche Weise die Entlohnung festgesetzt wird. Da die Nation der einzige Unternehmer ist, so muß auch die Regierung über die Höhe der Entlohnung entscheiden; sie muß bestimmen, wieviel jeder, vom Arzt bis zum Taglöhner, verdienen soll. Ich kann nur sagen, daß im neunzehnten Jahrhundert eine derartige Ordnung der Dinge undurchführbar gewesen wäre, und ich kann auch nicht begreifen, wie sie heute durchführbar ist – es sei denn, die menschliche Natur hätte sich geändert. Zu meiner Zeit war niemand mit seinem Lohne oder Gehalt zufrieden. Sogar wenn er wußte, daß er selbst genug erhielt, war er doch davon überzeugt, daß sein Nachbar zuviel hatte, und dieses Gefühl erzeugte auch Unzufriedenheit. Die allgemeine Unzufriedenheit, die in dieser Beziehung herrschte, zersplitterte damals in Verwünschungen und Streiks gegen unzählige Unternehmer. Hätte sie sich statt dessen auf einen einzigen Arbeitgeber konzentriert, nämlich auf die Regierung, so würde diese nicht zwei Zahltage überdauert haben, und wäre sie noch so stark gewesen.«

Doktor Leete lachte herzlich.

»Sehr wahr, sehr wahr!« sagte er. »Höchstwahrscheinlich würde schon nach dem ersten Zahltag ein allgemeiner Streik ausgebrochen sein, und ein Ausstand gegen die Regierung ist eine Revolution.«[65]

»Wie verhüten Sie denn, daß nicht an jedem Zahltag eine Revolution ausbricht?« fragte ich. »Hat ein wunderbar begabter Philosoph ein neues System der Schätzung erfunden, nach dem man zur Zufriedenheit aller den genauen und vergleichsweisen Wert einer jeden Arbeit berechnen kann, mag sie mit den Muskeln oder mit dem Hirn, mit der Hand, der Stimme, dem Auge oder dem Ohre verrichtet werden? Oder hat sich vielleicht die menschliche Natur selbst verändert, so daß niemand mehr auf seinen eigenen Vorteil achtet, sondern nur auf den seines Nächsten? Ohne das eine oder andere kann ich mir die heutige Ordnung der Dinge nicht erklären.«

»Weder das eine noch das andere ist geschehen«, gab mein Wirt lachend zur Antwort. »Aber nun, Herr West«, unterbrach er sich, »müssen Sie daran denken, daß Sie nicht nur mein Gast sind, sondern auch mein Patient. Sie müssen mir schon gestatten, daß ich Ihnen zu schlafen verordne, ehe wir unser Gespräch fortsetzen. Es ist drei Uhr vorüber.«

»Ihre Verordnung ist sehr weise«, sagte ich, »und ich will nur hoffen, daß ich sie befolgen kann.«

»Dafür lassen Sie mich sorgen«, erwiderte der Doktor. Damit reichte er mir ein Weinglas mit einem Trank, der mich in Schlaf versetzte, kaum daß mein Haupt auf das Kissen gesunken war.

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 58-66.
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