9. Kapitel

Gleicher Lohn

[73] Doktor Leete und seine Frau traten jetzt ein. Sie erschraken offenbar, als sie erfuhren, daß ich heute morgen schon allein in der ganzen Stadt herumgewandert war. Es beruhigte sie jedoch, mich nach meinem Ausflug anscheinend so wenig aufgeregt zu sehen.

»Ihre Wanderung muß gewiß sehr interessant gewesen sein«, sagte Frau Leete, als wir bald darauf bei Tische saßen. »Sie müssen sehr viel Neues gesehen haben.«

»Ich habe verschwindend wenig gesehen, was nicht neu gewesen wäre«, versetzte ich. »Allein mehr als manches andere hat es mich überrascht, auf der Washingtonstraße keine Läden und auf der Statestraße keine Bankgeschäfte mehr zu finden. Was haben Sie mit den Kaufleuten und[73] Bankiers gemacht? Vielleicht haben Sie alle aufgehängt, wie dies die Anarchisten zu meiner Zeit schon tun wollten?«

»So schlimm ist es ihnen gerade nicht ergangen«, erwiderte Doktor Leete. »Wir brauchen sie einfach nicht mehr. In der modernen Welt hat sich ihre Tätigkeit überlebt.«

»Wer verkauft Ihnen denn aber die Dinge, die Sie zu kaufen wünschen?« fragte ich.

»Heutzutage gibt es weder ein Verkaufen noch ein Kaufen; die Verteilung der Güter geschieht auf andere Weise. Was die Bankiers anbetrifft, so bedürfen wir dieser Herren nicht, weil wir kein Geld haben.«

»Fräulein Leete«, wandte ich mich an Edith, »ich fürchte, daß Ihr Herr Vater Scherz mit mir treibt. Ich verüble ihm das durchaus nicht, meine Einfalt muß ihn ja sicher in außerordentlich große Versuchung dazu führen. Aber auch mein Glaube an die möglichen Veränderungen der Gesellschaftsordnung hat schließlich seine Grenzen.«

»Mein Vater denkt gar nicht daran, zu scherzen«, gab sie mir mit einem beschwichtigenden Lächeln zur Antwort.

Die Unterhaltung wendete sich nun einem anderen Gegenstand zu. Wenn ich mich recht erinnere, so lenkte Frau Leete sie auf die Moden der Frauen im neunzehnten Jahrhundert.

Erst nach dem Frühstück kam der Doktor auf das frühere Thema zurück, als ich mich mit ihm auf das Dach des Hauses zurückgezogen hatte, das offenbar eines seiner Lieblingsplätzchen zu sein schien.

»Sie waren von meiner Behauptung überrascht«, sagte er, »daß wir ohne Geld und ohne Handel auskämen. Allein kurzes Nachdenken wird Sie davon überzeugen, daß zu Ihrer Zeit einzig und allein der Handel existierte und das Geld nötig war, weil die Produktion Privatunternehmern überlassen blieb. Heutzutage ist beides folglich überflüssig geworden.«

»Ich vermag die von Ihnen angedeutete Wechselwirkung noch nicht sofort zu begreifen«, erwiderte ich.

»Die Sache ist höchst einfach«, sagte Doktor Leete. »Als die verschiedenen, für Leben und Wohlsein nötigen Dinge von unzähligen Personen hergestellt wurden, die untereinander in keinem Zusammenhang standen[74] und voneinander unabhängig waren, da mußte auch ein endloser Austausch der Güter zwischen den einzelnen stattfinden. Nur auf diese Weise konnte sich jeder mit allem versorgen, was er wünschte. Dieser Austausch, das war der Handel. Das Geld spielte dabei eine wesentliche, unumgängliche Vermittlerrolle. Allein sobald die Nation der einzige Produzent aller Güter wurde, fiel dieser Austausch von selbst fort: die einzelnen bedurften seiner nicht mehr, um sich mit allem Nötigen zu versorgen. Alles erhielt man aus einer einzigen Quelle, ja man konnte es nur aus einer einzigen Quelle und nirgends sonst erhalten. So trat an die Stelle des Handels ein System direkter Güterverteilung von den nationalen Vorratshäusern aus. Dabei ist aber das Geld ein durchaus überflüssiges Ding.«

»Wie werden die Güter verteilt?« fragte ich.

»Auf eine höchst einfache Weise«, erwiderte Doktor Leete. »Zu Beginn jedes Jahres wird in den staatlichen Geschäftsbüchern für den einzelnen Bürger ein Kredit eröffnet, der seinem Anteil an der jährlichen Gesamtproduktion des Landes gleichkommt. Darauf erhält jeder eine entsprechende Kreditkarte, mittels der er sich aus den öffentlichen Vorratshäusern alles verschafft, was er nur wünscht, und wann immer er es wünscht. Solche Vorratshäuser aber gibt es in jeder Gemeinde. Wie Sie sehen, beseitigt diese Regelung durchaus die Notwendigkeit von Handelsgeschäften zwischen den einzelnen. Vielleicht möchten Sie wissen, wie unsere Kreditkarten aussehen?«

Mit diesen Worten reichte er mir eine Karte aus starkem Papier, die ich neugierig betrachtete.

»Sie bemerken jedenfalls«, fuhr er fort, »daß diese Karte auf eine gewisse Anzahl Dollar lautet. Wir haben das alte Wort beibehalten, aber nicht etwa die alte Sache. Bei uns entspricht der Ausdruck keinem wirklichen Ding. Er ist nichts weiter als ein algebraisches Zeichen, dessen wir uns bedienen, um die Werte der verschiedenen Produkte miteinander zu vergleichen. Des Vergleiches wegen ist der Wert aller Güter wie zu Ihrer Zeit nach Dollar und Cents abgeschätzt. Der Wert dessen, was ich aus den Magazinen entnehme, wird von einem Beamten gebucht und an der bestimmten Stelle in meiner Karte vermerkt, die in Quadrate eingeteilt ist.«[75]

»Können Sie einen Teil Ihres Kredits auf Ihren Nachbarn übertragen für den Fall, daß Sie etwas von ihm kaufen möchten?« fragte ich.

»Zunächst«, entgegnete Doktor Leete, »besitzen unsere Nachbarn nichts, was sie uns verkaufen könnten, und außerdem ist unser Kredit unübertragbar, er ist streng persönlich. Ehe die Nation auch nur daran zu denken vermöchte, die von Ihnen angedeutete Übertragung anzuerkennen, müßte sie genauen Einblick in alle Einzelheiten der Abmachung erhalten, um ihre volle Billigkeit verbürgen zu können. Übrigens, hätte es keine anderen Gründe für die Abschaffung des Geldes gegeben, so wäre schon dieser eine hinreichend gewesen, sie zu rechtfertigen: der Besitz von Geld war durchaus kein Beweis eines rechtmäßigen Anspruches darauf. Das Geld blieb stets gleich viel wert, mochte es durch Diebstahl, Mord oder durch fleißige Arbeit erworben sein, mochte es sich in den Händen eines Schurken oder eines ehrlichen Mannes befinden. Heutzutage tauschen die Menschen nur aus Freundschaft Geschenke und Gefälligkeiten miteinander aus. Kaufen und Verkaufen gilt für durchaus unverträglich mit dem Wohlwollen und der Uneigennützigkeit, die zwischen den Bürgern herrschen sollen, mit dem Gefühl der Interessengemeinschaft, auf dem unsere soziale Ordnung beruht. Unserer Auffassung nach wirken Kaufen und Verkaufen in all ihren Folgen durchaus gesellschaftsfeindlich. Sie erziehen zur Selbstsucht auf Kosten anderer. Eine Gesellschaft, deren Bürger durch eine solche Schule gegangen sind, kann sich schlechterdings nicht über einen sehr niedrigen Grad der Zivilisation erheben.«

»Was geschieht aber, wenn Sie in einem Jahre mehr ausgeben müssen, als Ihnen bewilligt ist?« fragte ich.

»Der jedem zustehende Betrag ist recht groß. Die Möglichkeit liegt daher viel näher, daß wir ihn nicht einmal ganz ausgeben«, erwiderte Doktor Leete. »Sollte es dennoch vorkommen, daß wir unseren Anteil durch außerordentliche Ausgaben aufbrauchen, so können wir einen beschränkten Vorschuß auf den Kredit des nächsten Jahres erhalten. Jedoch wird dies nicht gern gesehen und ist mit großen Abzügen verbunden, um solcher Gebarung von vornherein Einhalt zu tun. Wenn jemand sich als sorgloser Verschwender erweist, so erhält er Kreditkarten, die auf monatliche oder wöchentliche Abrechnung lauten; im Notfall würde es ihm[76] überhaupt nicht gestattet werden, seinen Anteil an der Nationalproduktion selbst zu verwalten.«

»Was Sie von Ihrem Guthaben nicht verbrauchen, legen Sie wohl auf die Seite und lassen es anwachsen?« fragte ich weiter.

»Das kann man innerhalb gewisser Grenzen tun, wenn man nämlich eine außerordentliche Ausgabe voraussieht«, erwiderte Doktor Leete. »Macht man jedoch von einer solchen keine Meldung, so wird angenommen, daß man seinen Kredit nicht erschöpfte, weil weder die Bedürfnisse noch die Umstände weitere Ausgaben veranlaßten. Der Rest des Guthabens wird dann zu dem allgemeinen Überschuß geschlagen.«

»Ein solches System ermutigt die Bürger gerade nicht zur Sparsamkeit«, warf ich ein.

»Das soll es auch nicht«, lautete die Antwort. »Die Nation ist reich, und sie wünscht keineswegs, daß sich jemand eine Annehmlichkeit versage. Zu Ihrer Zeit waren die Menschen gezwungen, Geld und Gut zusammenzusparen, um gegen einen etwaigen Verlust ihrer Existenzmittel geschützt zu sein und für ihre Kinder zu sorgen. Die Notwendigkeit machte das Sparen zur Tugend. Jetzt würde es jedoch kein so löbliches Ziel haben, und da die Sparsamkeit zwecklos geworden ist, gilt sie auch nicht länger für eine Tugend. Niemand sorgt mehr seinetwegen oder seiner Kinder wegen für den morgigen Tag. Die Nation verbürgt einem jeden von der Wiege bis zum Grabe Ernährung, Erziehung und eine angenehme Lebenshaltung.«

»Das ist eine unsichere Bürgschaft«, sagte ich. »Welche Gewißheit ist denn vorhanden, daß die Arbeit eines Menschen so viel wert ist, um die Nation für alle ihre Auslagen zu entschädigen? Alles in allem mag die Gesellschaft wohl imstande sein, ihren sämtlichen Gliedern den Unterhalt zu gewähren, aber gewiß ist, daß manche weniger verdienen, als zu ihrem Unterhalt hinreicht, und andere wieder mehr, als sie gebrauchen. Und damit wären wir wieder bei der Frage der Entlohnung angelangt, von der Sie mir bis jetzt noch nicht gesprochen haben. Wie Sie sich erinnern werden, brach unser gestriges Gespräch gerade bei diesem Punkte ab. Ich wiederhole, was ich schon gestern sagte. Für eine nationale Wirtschaftsordnung wie die Ihrige muß meiner Meinung nach die Hauptschwierigkeit[77] in der Lösung dieser Frage liegen. Wie, so frage ich nochmals, können Sie die Löhne und Gehälter in befriedigender Weise festsetzen, so daß sie in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen? Es handelt sich doch um die Tätigkeit in einer unendlichen Anzahl Berufe, die nichts miteinander gemein haben, die aber alle zum Gedeihen der Gesellschaft nötig sind. Zu meiner Zeit bestimmten die Marktverhältnisse ebensowohl den Preis jeder Art Arbeit wie aller Waren. Der Unternehmer bezahlte so wenig Lohn, wie er nur konnte, und der Arbeiter suchte so viel Lohn wie möglich zu erhalten. Moralisch betrachtet, war die damalige Ordnung nichts weniger als schön, das gebe ich zu. Allein sie gab uns wenigstens eine rohe, fertige Formel zur Entscheidung einer Frage, die jeden Tag zehntausendmal entschieden werden mußte, wenn die Welt überhaupt ihren Gang gehen und vorwärtskommen sollte. Es schien uns keinen anderen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu geben.«

»Gewiß«, erwiderte Doktor Leete, »es war der einzige gangbare Weg unter einer Ordnung, die die Interessen der einzelnen in feindseligen Gegensatz zueinander brachte. Aber es wäre traurig, wenn die Menschheit nie eine bessere Ordnung ersonnen und verwirklicht hätte. Ihrer Gesellschaftsordnung lag für die Beziehungen der Menschen untereinander lediglich des Teufels Moral zugrunde: ›Deine Not ist mein Nutzen.‹ Die Arbeiten wurden nicht etwa nach ihrer Schwierigkeit, Gefahr oder Unannehmlichkeit entlohnt. Allem Anschein nach waren es in der ganzen Welt gerade die am schlechtesten bezahlten Klassen von Arbeitern, die die gefährlichsten, schwersten und widerwärtigsten Beschäftigungen verrichten mußten. Der Preis der Arbeit hing lediglich davon ab, wieviel zu zahlen die Leute gezwungen waren, die die Arbeit brauchten.«

»Das gebe ich alles zu«, sagte ich. »Aber trotz all seiner Mängel war es ein praktisches Verfahren, die Preise nach Angebot und Nachfrage zu regeln. Ich kann mir nicht denken, welchen befriedigenden Ersatz Sie dafür ausgeklügelt haben. Da der Staat der einzige Unternehmer ist, so kann natürlich weder von einem Arbeitsmarkt noch von einem Marktpreis die Rede sein. Die Regierung muß nach Willkür jeden Lohn festsetzen. Ich kann mir keine verwickeltere und heiklere Aufgabe vorstellen[78] als diese Festsetzung, keine, die mehr geeignet wäre – mag sie nun gelöst werden, wie sie wolle –, allgemeine Unzufriedenheit hervorzurufen.«

»Verzeihen Sie«, sagte Doktor Leete, »aber mir scheint, daß Sie die Schwierigkeiten überschätzen. Nehmen Sie an, daß ein Ausschuß aus recht verständigen Männern damit beauftragt worden ist, die Löhne für alle Arten Arbeit festzusetzen. Das aber unter einer Gesellschaftsordnung, die wie die unserige bei freier Berufswahl jedem Beschäftigung verbürgt. Begreifen Sie nicht, daß Mißgriffe bei der ersten Abschätzung sich bald von selbst berichtigen müßten? Zu hoch entlohnte Berufsarten würden einen zu starken Andrang von Freiwilligen erfahren, zu niedrig bewertete hätten dagegen bald über Mangel an Arbeitskräften zu klagen. Das müßte andauern, bis der Fehler gutgemacht wäre. Aber dies nur nebenbei, denn obgleich die von mir angedeutete Regelung sicherlich möglich wäre, ist sie doch in unserer Wirtschaftsordnung nicht üblich.«

»Wie regeln Sie also die Löhne und Gehälter?« fragte ich von neuem.

Doktor Leete antwortete erst, nachdem er etliche Augenblicke schweigend nachgedacht hatte. »Die alte Ordnung der Dinge ist mir natürlich genügend bekannt«, sagte er endlich, »so daß ich genau weiß, was Sie mit Ihrer Frage meinen. Allein die gegenwärtige Ordnung der Dinge ist von der Ihrer Zeit gerade in dem Punkte so grundverschieden, daß ich etwas verlegen bin, wie ich Ihre Frage am besten beantworten soll. Sie wollen wissen, wie wir die Löhne regeln. Ich kann Ihnen nur antworten, daß die moderne Nationalökonomie keinen Begriff kennt, der in irgendeiner Beziehung dem entspricht, was man zu Ihrer Zeit unter ›Lohn‹ verstand.«

»Sie wollen damit wohl sagen, daß Sie kein Geld haben, in dem der Lohn ausbezahlt wird?« sagte ich. »Aber der den Arbeitern gewährte Kredit auf die staatlichen Vorräte entspricht unseren Löhnen. Wie bestimmt man die Höhe des Kredits, der den Arbeitern der verschiedenen Berufszweige eröffnet wird? Kraft welchen Rechts beansprucht der einzelne seinen besonderen Anteil? Welches ist die Grundlage der Verteilung?«

»Das Recht, auf das sich der einzelne beruft«, entgegnete Doktor Leete, »ist sein Menschentum. Sein Anspruch ist in der Tatsache begründet, daß er ein Mensch ist.«[79]

»In der Tatsache, daß er ein Mensch ist!« wiederholte ich ungläubig. »Wollen Sie damit etwa gar sagen, daß alle einen gleich großen Anteil erhalten?«

»Nichts anderes«, lautete die Antwort.

Der Leser dieses Buches kennt aus eigener Anschauung keine andere als die jetzt bestehende soziale Ordnung. Nur aus geschichtlichen Studien hat er gelernt, daß in früheren Zeiten eine ganz verschiedene Wirtschaftsordnung bestanden hat. Er kann sich deshalb unmöglich das an Betäubung grenzende Staunen vorstellen, in das mich Doktor Leetes einfache Erklärung versetzte.

»Sie sehen«, sagte er lächelnd, »daß es uns nicht bloß am Gelde fehlt, um Löhne auszuzahlen. Wie ich Ihnen bereits sagte, kennen wir überhaupt nichts, was Ihrem Begriff von Lohn entspricht.«

Unterdessen hatte ich mich soweit erholt, daß ich einige kritische Einwände äußern konnte. Sie mußten mir als einem Manne des neunzehnten Jahrhunderts zuerst in den Sinn kommen, als ich von der verblüffenden neuen Ordnung der Dinge hörte.

»Manche Leute arbeiten noch einmal soviel als andere!« rief ich aus. »Sind die geschickten Arbeiter mit einer Ordnung zufrieden, die sie auf eine Stufe mit den mittelmäßigen stellt?«

»Es gibt nicht den geringsten Grund, über Ungerechtigkeit zu klagen«, erwiderte Doktor Leete, »von allen wird genau das gleiche Maß von Leistungen gefordert.«

»Ich möchte wissen, wie das möglich wäre«, warf ich ein. »Es gibt doch kaum zwei Leute, die genau das gleiche Leistungsvermögen haben!«

»Nichts ist einfacher als das«, lautete Doktor Leetes Antwort. »Wir fordern von jedem das gleiche Bemühen, das gleiche Bestreben; das heißt, wir verlangen von jedem die beste Leistung, deren er fähig ist.«

»Angenommen, daß alle das Beste leisten«, antwortete ich. »Nichtsdestoweniger wird das Arbeitsergebnis des einen noch einmal so groß als das des anderen sein.«

»Ganz richtig«, versetzte Doktor Leete. »Aber die Größe des Arbeitsergebnisses hat ganz und gar nichts mit unserer Frage zu tun. Diese dreht sich um das Verdienst des einzelnen. Das Verdienst ist ein moralischer[80] Begriff, die Größe des Arbeitsergebnisses dagegen ein materieller. Es wäre eine ganz wunderbare Logik, wollte man einen moralischen Begriff an einem materiellen Maßstab messen. Der Grad des Bemühens allein entscheidet die Frage des Verdienstes. Alle, die nach ihren Kräften ihr Bestes leisten, leisten das gleiche. Die Begabung eines Menschen, und sei er noch so genial, bestimmt nur das Maß seiner Verpflichtungen. Ein hochbegabter Mensch, der nicht das volle Maß seines Könnens gibt, mag verhältnismäßig mehr leisten als ein weniger begabter Mann, der sein Bestes tut. Trotzdem wird man sein Verdienst geringer einschätzen als das des anderen, und nach der öffentlichen Meinung bleibt er bei seinem Tode seinen Mitmenschen viel schuldig. Der Schöpfer selbst weist den Menschen ihre Aufgaben durch die verliehenen Fähigkeiten. Wir fordern von ihnen nur Erfüllung dieser Aufgaben.«

»Das ist sicherlich sehr edel gedacht«, sagte ich. »Nichtsdestoweniger erscheint es hart, daß, wenn zwei ihre volle Schuldigkeit tun, beide den gleichen Anteil am Nationaleinkommen haben, auch wenn der eine zweimal soviel als der andere leistet.«

»Erscheint Ihnen dies wirklich hart?« antwortete Doktor Leete. »Mir hingegen erscheint Ihre Auffassung höchst seltsam. Heutzutage faßt man die Sache so auf: jemand, der mit Aufbietung all seiner Kräfte zweimal soviel als ein anderer leisten kann, darf nicht dafür belohnt werden, wenn er es tatsächlich tut; dagegen müßte er von Rechts wegen bestraft werden, wenn er es unterläßt. Ich vermute, daß man im neunzehnten Jahrhundert der Logik zuliebe ein Pferd dafür belohnte, daß es eine schwerere Last zog als eine Ziege. Wir dagegen würden es schlagen, wenn es keine schwerere Last ziehen wollte. Da das Pferd bei weitem stärker ist als eine Ziege, kann und muß es mehr leisten als sie. Es ist sonderbar, wie sich der ethische Maßstab ändern kann.« Der Doktor begleitete diese Worte mit einem so komischen Augenzwinkern, daß ich lachen mußte.

»Meiner Vermutung nach«, sagte ich, »hatte es einen ganz bestimmten Grund, weshalb wir die Menschen ihren Fähigkeiten entsprechend belohnten, während wir das Leistungsvermögen der Pferde und Ziegen nur als Maßstab für die von ihnen geforderten Arbeiten gelten ließen: als[81] vernunftlose Geschöpfe leisteten die Tiere von selbst das Beste, was sie vermochten, die Menschen dagegen gaben nur das volle Maß ihres Könnens, wenn man sie nach der Größe ihrer Leistung belohnte. Und dies veranlaßt mich zu der Frage, ob nicht auch, in der heutigen Gesellschaft die nämliche Notwendigkeit fortbesteht? – es sei denn, daß sich die menschliche Natur in diesen hundert Jahren von Grund aus gewandelt hat.«

»Gewiß, sie besteht«, erwiderte Doktor Leete. »In dieser Beziehung dürfte sich die menschliche Natur seit Ihrer Zeit kaum geändert haben. Sie ist noch immer so beschaffen, daß der Durchschnittsmensch durch Belohnungen, Auszeichnungen oder winkende Vorteile angefeuert werden muß, damit er seine Kräfte in irgendeiner Richtung auf das höchste anspannt.«

»Aber wie kann jemand zur Aufbietung seiner besten Kräfte angefeuert werden«, so fragte ich, »wenn sein Einkommen gleich groß bleibt, mag er viel oder wenig leisten? Wohl mögen edle Charaktere dem Gemeinwohl zuliebe das volle Maß ihres Könnens geben. Der Durchschnittsmensch dagegen wird in Ihrer Gesellschaftsordnung dazu neigen, mit seinen Leistungen hinter seinem Können zurückzubleiben. Er folgert einfach, daß sein Bemühen zwecklos sei, da keine Anstrengung sein Einkommen vergrößert und keine Lässigkeit es verkleinert.«

»Scheint es Ihnen tatsächlich«, antwortete mein Gefährte, »daß die menschliche Natur keinen anderen Beweggründen gehorcht als der Furcht vor dem Mangel und der Liebe zum Wohlleben? Daß folglich mit der gewährten Sicherheit und Gleichheit der Existenz jeder Antrieb zu redlichem Streben verschwinden müsse? Ihre Zeitgenossen dachten in Wirklichkeit nicht so, wenn sie sich vielleicht auch einredeten, daß dem so wäre. Wenn es sich um das höchste Streben, die völligste Selbstaufopferung handelte, so vertrauten auch sie auf ganz andere Beweggründe als auf Lohn und Einkommen. Wenn es galt, fürs Vaterland zu sterben, so spornte man damals die Soldaten nicht durch das Versprechen höheren Soldes an, sondern man sprach von dem Gebot der Ehre, von der Dankbarkeit der Mitbürger, von Vaterlandsliebe und Pflichtgefühl. Nie gab es ein Zeitalter, in dem diese Beweggründe nicht die besten und edelsten Triebe der Menschen geweckt hätten. Und nicht nur dies. Untersuchen[82] Sie die Liebe zum Geld näher, die zu Ihrer Zeit der allgemeine Anreiz für die Bestrebungen der Menschen war! Sie finden dann, daß die Furcht vor dem Mangel und die Liebe zum Wohlleben nicht allein die Jagd nach dem Gelde entfesselten. Viele Menschen gehorchten ganz anderen Beweggründen, die bei weitem stärker waren: der Begierde nach Macht, nach einer einflußreichen sozialen Stellung, nach der Ehre, für einen Mann von Talent und Erfolg angesehen zu werden. Sie sehen also: wir haben zwar die Armut und die Furcht davor, wir haben das übermäßige Wohlleben und die Hoffnung darauf aus der Welt geschafft. Wir haben jedoch keineswegs die Beweggründe unterdrückt, die in früheren Zeiten die Liebe zum Gelde hervorriefen, geschweige denn solche Triebe, die das höchste Streben, die edelsten Taten der Menschen auslösten. An die Stelle der anspornenden rohesten Beweggründe sind edlere getreten, die dem bloßen Lohnarbeitenden Ihrer Zeit gänzlich unbekannt waren. Jetzt wird der Arbeiter, wie seinerzeit der Soldat, durch die Liebe für das Vaterland und die Menschheit angefeuert, denn die Tätigkeit jeder Art ist nicht mehr Privatsache zu Nutz und Frommen des einzelnen, sondern Nationalsache zum Wohle der Allgemeinheit. Unser Heer der Arbeit ist wirklich ein Heer, nicht nur dank seiner vollkommenen Organisation, vielmehr auch dank des glühenden Gemeinsinns, der seine Glieder beseelt.

So wie Sie die Tapferkeit Ihrer Soldaten anzuspornen pflegten, indem Sie nicht nur an ihre Vaterlandsliebe, sondern noch an ihre Ruhmbegierde appellierten, so tun auch wir das bei unseren Arbeitern. Es kann dies nicht anders sein in einer Wirtschaftsordnung, deren Grundgesetz ist, von jedem gleich viel Streben und Anstrengung zu fordern, das heißt alles, was er überhaupt zu leisten vermag. Bei uns ist der Eifer im Dienste der Nation der einzige und sichere Weg, öffentliche Anerkennung, Auszeichnung und amtliche Macht zu erlangen. Der Rang, den jemand in der Gesellschaft einnimmt, wird durch den Wert seiner Leistungen für sie bestimmt. Fassen wir zum Vergleich die sozialen Einrichtungen ins Auge, die bei uns die Menschen zu eifrigster Tätigkeit anspornen, so erscheint uns die zu Ihrer Zeit übliche Art als ebenso schwach und unzuverlässig wie barbarisch. Sie rechnete nur mit der Wirkung des Anblicks drückender Armut und üppiger Pracht. Sogar zu Ihrer Zeit voll niedriger Gesinnung[83] vermochte jedoch bekanntlich der Ehrgeiz die Menschen zu gewaltigeren Leistungen anzuspornen als die Gier nach Geld.«

»Es würde mich ungemein interessieren«, sagte ich, »etwas Näheres über diese Ihre sozialen Einrichtungen zu erfahren.«

»Das regelnde System«, versetzte der Doktor, »ist natürlich sehr verzweigt und in allen seinen Einzelheiten wohldurchdacht. Es bildet ja die Grundlage unserer wirtschaftlichen Organisation. Aber einige Worte werden genügen, Ihnen eine allgemeine Vorstellung davon zu geben.«

In diesem Augenblick erschien Edith auf der luftigen Plattform. Unser Gespräch wurde dadurch in der angenehmsten Weise unterbrochen. Edith Leete war zum Ausgehen angekleidet und kam, um mit ihrem Vater Rücksprache wegen einer Besorgung zu nehmen, die er ihr aufgetragen hatte.

»Da fällt mir ein, Edith«, rief er aus, als sie sich anschickte, uns zu verlassen, »daß es Herrn West vielleicht interessieren würde, mit dir zusammen ein Warenhaus zu besuchen. Ich habe ihm manches über unsere Verteilung der Güter erzählt. Vielleicht möchte er kennenlernen, wie sie in der Praxis durchgeführt wird.«

»Meine Tochter«, fügte er hinzu, indem er sich zu mir wendete, »durchwandert unermüdlich die Warenhäuser und kann Ihnen über sie besser Bescheid geben als ich selbst.«

Der Vorschlag war mir äußerst angenehm. Da Edith mir freundlich versicherte, meine Begleitung sei ihr willkommen, so verließen wir zusammen das Haus.

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 73-84.
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