Achter Auftritt.

[22] Brand. Agnes.


AGNES. Guten Morgen, lieber Vater! Sie fällt ihm um den Hals.

BRAND stellt das Schaff weg. Du, mach' dich nicht schwarz – Aber was ist denn? Du siehst mir ja gar nicht richtig ans? Hör mal, Mädchen, du hast geweint – Was ist denn geschehen? Er schwingt den Pinsel. Ich laß eine ganze Bevölkerung über die Klinge springen.

AGNES. Davon später, Vater, sag' mir nur zuerst, wie es mit der Mutter geht? Ich sehe jeden Augenblick von meinem Küchenfenster hinüber, und heut' nacht – ich habe kein Auge zugemacht – lieber Vater – ich weiß, der Doktor war gestern abend noch bei der Mutter – es steht gewiß nicht gut mit ihr?

BRAND. Der Doktor – gestern abend bei uns! Er kämpft mit sich selbst und lacht gezwungen. Was fällt dir denn ein?

AGNES. Verschweige mir nichts, lieber Vater – sag' mir die Wahrheit!

BRAND umarmt sie. Na ja, er war bei uns – weißt du, man muß immer aufs Schlimmste gefaßt sein – der Doktor will durchaus ich soll sie ins Hospital bringen, weil sie zu Hause keine rechte Pflege hat. Aber du weißt ja, Kind, mit der Charité darf ich ihr nicht kommen, und in ein Privatkrankenhaus da geht es wieder Bewegung des Geldzählens zwischen Daumen und Zeigefinger. hier bei uns nicht.[22]

AGNES zeigt auf den Korb. Ich habe ihr mein gestriges Abendbrot aufgehoben, um es der Mutter gleich nach dem Aufräumen rüber zu bringen; denn wenn ich beim Milchholen zu lang ausbleibe, dann gibt es wieder einen schrecklichen Skandal.

BRAND. Laß mal sehen, Agneschen, was dein kindliches Zartgefühl geleistet. Er guckt in den Korb.

AGNES. Aber Vater, du bist – Sie will sagen »auch zu neugierig.«

BRAND zieht einen Gänseflügel her. Einen Gänseflügel. Wenn man mir den aufs Sterbebette legte, dann sterb' ich gar nicht – aber das ist für Muttern zu schwer, Er wickelt ihn, nachdem er ein Stückchen Fleisch davon abgelöst und in den Mund gestopft, in ein Stück Papier und steckt ihn vorn in den Brustlatz der Schürze. das bekommt ihr wohl nicht, es ist ihr zu schwer. Aber nu sag mal, Kind, warum bist du denn in Tränen zu mir herabgeschwommen?

AGNES. Du weißt ja schon, der Dienst bei Quisenows ist zu streng – es ist ein hübscher Lohn, ja, das Essen ist auch gut, sehr gut.

BRAND essend. Ja – is gut.

AGNES. Der gnädige Herr ist auch recht freundlich, aber die Madame ist fürchterlich. Du kannst dir keinen Begriff davon machen. Ich tue gewiß meine flicht, ich arbeite redlich, aber jeden Augenblick kommt sie mit einem neuen Vorwurf, einer neuen Verdächtigung. Du weißt, lieber Vater, daß ich nur in den Dienst gegangen bin, um euch das Leben zu erleichtern, aber das Dienen ist schwer, sehr schwer.

BRAND. Glaube dir's gern, Kind! Aber halte aus! 's ist deine erste Stelle, und wenn du da so schnell wieder fortgehst, dann hält's schwer mit der zweiten.

AGNES. Ach Gott ja, lieber Vater, das sehe ich ein, und ich würde auch vielleicht in dem Betragen meiner Herrschaft gegen mich nichts Ungewöhnliches finden, wenn – wenn –

BRAND heftig. Wenn dir der Onkel, der Schullehrer, nicht die gelehrten Raupen in den Kopf gesetzt hätte. Nu flattert das als Schmetterling dadrin rum; das paßt nicht für'n Mädchen vor alles. Mein Schwager ist ein guter braver Mann und hat Wunder gedacht, was er uns für einen Dienst[23] leistet, daß er dir die feine Erziehung gegeben, aber der Teufel soll ihm danken.

AGNES. Das ist unrecht, lieber Vater! oder wäre es dir lieber, wenn deine Tochter gegen die rohe Behandlung der Menschen weniger empfindlich wäre?

BRAND. Das versieht sich! Das ist ja eben das Unglück heutzutage, daß die Leute sich deshalb nicht mehr gegenseitig gefallen, weil sich keiner vom andern will was gefallen lassen. – Und nun geh, mein Kind, und verplaudere dich nicht länger.

AGNES. Noch eins, lieber Vater. Leicht. Ich habe gestern einen Liebesbrief bekommen.

BRAND ebenfalls wieder leicht. I sieh mal –

AGNES. Eigentlich schon einen kompletten Heiratsantrag!

BRAND. Von wem denn?

AGNES. Von dem Kellner hier drüben aus dem Weinkeller. – Er setzt mir seine Verhältnisse sehr weitläufig auseinander, und warum er gerade mich zur Frau wünscht. Stil und Orthographie sind höchst komisch.

BRAND. Na! Wenn nur die Absicht ernst ist. Aber nun mache, daß du fortkommst. Er treibt sie fort.

AGNES. Erst noch rasch zur Mutter! Adieu! Adieu! Vater! Sie geht ab in das Haus, aus welchem Brand gekommen ist.


Quelle:
O.F. Berg und D[avid] Kalisch: Berlin, wie es weint und lacht. Leipzig [o.J.], S. 22-24.
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