Oft in der stillen Nacht

[328] (Meinem werten Freunde Kriewitz.)


Oft in der stillen Nacht,

Wenn zag der Atem geht

Und sichelblank der Mond

Am schwarzen Himmel steht,


Wenn alles ruhig ist

Und kein Begehren schreit,

Führt meine Seele mich

In Kindeslande weit.


Dann seh ich, wie ich schritt

Unfest mit Füßen klein,

Und seh mein Kindesaug

Und seh die Hände mein,
[328]

Und höre meinen Mund,

Wie lauter klar er sprach,

Und senke meinen Kopf

Und denk mein Leben nach:


Bist du, bist du allweg

Gegangen also rein,

Wie du gegangen bist

Auf Kindes Füßen klein?


Hast du, hast du allweg

Gesprochen also klar,

Wie einsten deines Munds

Lautleise Stimme war?


Sahst du, sahst du allweg

So klar ins Angesicht

Der Sonne, wie dereinst

Der Kindesaugen Licht?


Ich blicke, Sichel, auf

Zu deiner weißen Pracht;

Tief, tief bin ich betrübt

Oft in der stillen Nacht.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 328-329.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)