Dame Glück

[189] Nackt mit offenen Armen stand

Einen Augenblick das Glück

Dicht vor mir.[189]

Ei, was eine schöne Brust,

Weiche Brust, volle Brust

Hat die Dame Glück, es sind

Rosenknospen zweie drauf:

Wunderschön!


Und wie küßt die Dame Glück!

Heißer Kuß, drängender Kuß,

Und man macht die Augen zu,

Küßt das Glück.


Auf die Schultern legte sie mir

Ihrer Arme süße Last,

Weiche Last, warme Last,

Während sie mich küßte, lind.

Ach, was bist du wunderhold,

Dame Glück.


Und ich that die Augen auf,

Wollte tief ihr einmal sehn

In das sonnige Augenpaar, –

Ach, ach, ach –:


Ausgeloschen war das Licht,

Leere Höhlen grinsten mich an,

Eine dürre Vettel stand

Dicht vor mir.
[190]

Rippenhart die runzlige Brust,

Lippenlos ein geifernder Mund,

Spitz der Arm und knöcherig.


Pfui, Madame! Ist das ein Scherz,

Ist er nicht nach meinem Geschmack.

Als Verwandlungskünstlerin

Haben Sie vielleicht Erfolg

Im Théâtre-Variété,

Nicht bei mir.


Und die Dame drehte sich

Langsam um und ging hinaus,

Durch die andre Thüre kam

Meine Frau herein. – Ich Thor!

Mir geschieht ganz recht: Warum

Gab ich mich mit Weibern ab.

Künftig will ich treuer sein!


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 189-191.
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Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)