Ein Traum

[238] (Herrn Eugène Demolder zugeeignet.)


Kommt her und seht, was in der Nacht ich sah,

Kommt und erlebt, was mir im Traum geschah:


Ich stand an einem weiten, grauen See;

Feucht war die Luft und blaß des Himmels Blau,

Wie flüssig Blei das Wasser. Und ein Kahn

Lag unbewegt am Ufer, das ganz leer,

Wie eine Wüste war. Kein Busch, kein Baum,

Kein Schilf, kein Gras, nur knirschend grauer Sand.
[238]

Da, leise, ging aus mir ich selber fort.

Ich sah mich aus mir selber gehn. Leb wohl!

Rief ich mir zu, ich, der ich schauend stand,

Leb wohl, rief ich mir zu, ich, der ich ging.


Der Schreiter, ich, das war ein junger Mann,

Er wiegte in den Hüften sich und warf

Die Arme rüstig hin und her, sein Gang

Sprach: Leben! Leben! Doch der Bleibende,

Ich, der am Ufer stand, war matt und alt.

Und auf den Boden sank er, ich, und starb.


Nun war ich risch im Kahn und ruderte

Und schnitt die Wellen mit dem schwarzen Kiel

Und schoß durchs Grau des unbewegten Sees.


Voran! Voran! denn ich bin jung und stark,

Ich fühle meine Kraft, ich freue mich

Der Muskeln, wie sie mir gehorsam sind,

Wie alles fest mir in den Händen ruht,

Wie meiner Lungen Gleichmaß saugt und stößt,

Wie meine Blicke in die Weite gehn.


Doch nichts als Grau um mich und über mir.

Der Himmel auch hat sich in Grau gethan,

Und grauer Hauch weht von mir in die Luft.
[239]

Da werd ich mählich matt und willenlos.

Die Ruder laß ich, lautlos sinken sie

Rechts, links ins Wasser, und ich lege mich,

Wie eine Leiche lege ich mich lang,

Als ob ein Sarg er wäre, in den Kahn.


Wer bin ich denn? Bin ich der Tote nun,

Der dorten in den Sand sank, bin ich nicht

Der junge Schreiter mehr?

Es treibt der Kahn

Lautlos, doch schnell, ich fühls. Ich wage nicht

Die Augen aufzuthun. Ich bin wohl tot.


Da, durch die Lider rötets mir: um Gott!

Ein zischender Eisenklumpen auf grauem Ambos, ruht

Die Sonne auf Wolkenballen in dunkelroter Glut.

Langsam, von Riesenfäusten gehalten, ein Hammer droht,

Eine Krone aus ihr zu schmieden, eine Krone blutglührot.

Eine Krone ... und ich hebe hoch mich auf

Und greife in den Himmel, und herab

Hol ich die Krone mir und setze sie

Aufs Haupt mir. Hei, ein Strahlenzucken fährt

Von meinem Haupt ringsum, und alles ist,

Was mich umgiebt, erhellt und feierlich.
[240]

Und vorn am Buge meines Kaiserschiffs

Steh ich und fahre ein ins Himmelreich.

Das liegt vor mir in lauter Schönheit da,

So weit gedehnt, wie nie mein Blick vordem

Etwas gesehn. Doch still und leer und tot

Ist dieses Land, und wie mein Silberkiel

Auf seines Hafens goldne Kiesel knirscht,

Ist tiefe, schauerkalte Nacht um mich.


Nur ferne blinzt ein zages Zitterlicht,

Und ferne klingt ein zager Glockenton,

Und ferne, dort, weiß ich, ists warm und gut.


Ich geh zum Licht, ich geh zum Ton, ich geh

Dahin, wo mein ein Herd, wo mein ein Herz

Warm wartet. Ach, wie meilen-, meilenweit

Ist Licht und Ton und Herz und Herd! Ich geh

Viel viele Jahre lang, und stets in Nacht.


Da endlich lichtet sichs, so wie im Mai

Es morgenrötet über jungem Grün,

Und zwischen Fliederbüschen wirbelt blau

Herdrauch aus rotem Schornstein, und ein Haus,

Ein kleines Bauernhaus mit moosigem Dach

Seh ich, und an der Thür:

... Du, du, oh du!


Ein altes Weiblein in schlohweißem Haar

Kommt auf mich zu mit leisen Schrittelchen[241]

Und legt mir an die Brust das alte Haupt

Und blickt zu mir mit braunem Auge auf.

Oh tiefes Gluck: das ist der alte Blick,

Der Kinderblick, der aus dem Herzen kommt,

Und, oh, das ist die liebe Stimme auch,

Die glockenleise: Komm, du, komm, du, komm;

So lange, lange fort!.. Da seh ich erst

Im blauen Wasserspiegel, daß mir weiß

So Haar und Bart. Und zweisam, Arm in Arm,

Gehn wir ins kleine Haus. Die Thüre fällt

Leis zu ...


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 238-242.
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